Gibt es eine Philosophie des Theaters? Teil 2

Rezension von: Tom Stern (ed.), The Philosophy of Theatre, Drama and Acting. London/New York: Rowman & Littlefield, 2017. 209 pages

Tom Stern PTDA Titelbild

Teil 2 von 5: Das Theater und die Philosophie

Auch wenn die klassische Philosophie sich wenig mit dem Theater (nicht zu verwechseln mit dem Drama) auseinandergesetzt hat, als Metapher war das Theater in der Philosophie immer präsent1. Als eigene Kunst aber fand Theater, unabhängig vom Drama, wenig Beachtung. Hegel hatte für die Schauspielkunst nur herablassende Nebenbemerkungen übrig. Nur als „Instrument, auf welchem der Dichter spielt“2 ist der Schauspieler ein würdiger Künstler, während nur „ganz schlechte Produkte (…) Gelegenheit für die freie Produktivität des Schauspielers“ bieten 3.

Jennifer Ann Bates, eine amerikanische Hegel-Kennerin, findet dementsprechend einen Zugang von Hegels Philosophie zu einem Theatertext: Shakespeares „Merchant of Venice“4. Sie parallelisiert Hegels Entwicklungsphasen der Vernunft, v.a. der beobachtenden Vernunft aus der „Phänomenologie der Geistes“, mit der Wahl der drei Kästchen, die Portias Bewerber absolvieren müssen, und wendet eine Formulierung aus Hegels Naturphilosophie vom „Innersten des Inneren“, der dialektischen Trias von Universalität, Partikularität und Individualität5, auf Belmont, Portias Herrschaftsbereich, an6. Sie glaubt, mit Hilfe von Derridas sprachspielerischem Begriff der „relevant translation“7, (frz. „traduction relevante“, dt. „relevante, d.h. aufhebende Übersetzung“) die gefährlichen Ambivalenzen von Shakespeares Stück auflösen (im hegelschen Sinne „aufheben“) zu können. Für die Interpretation von Shakespeares Drama heißt das: Wenn Shylock böse ist, liegt es nicht nur an ihm, sondern auch an der venezianischen Gesellschaft. Ein ziemlich vorhersehbares Ergebnis.

Und das Ergebnis der Untersuchung des Verhältnisses von Philosophie und Drama ist auch nur, dass die Entwicklungsstufen des absoluten Geistes, Kunst, Religion und Philosophie, keine Rangfolge darstellen, sondern dass die Philosophie die Kunst, und zwar das Drama als dessen höchste Form, ebenso benötige wie das Drama die Philosophie. Der komplizierte Beweisgang verbleibt aber völlig hermetisch verschlossen im begrifflichen Kosmos von Hegels Philosophie. Auch das Literaturtheater hat solche Philosophie nicht nötig.

Tom Sterns eigener Beitrag in seinem Sammelband8 untersucht die umgekehrte Richtung: was das Theater für die Philosophie bedeutet, am Beispiel Nietzsches. Nietzsches elegantes Begriffsfeuerwerk wird von Stern in seine einzelnen Funkenträger zerlegt. Und natürlich findet er Widersprüche. Nietzsche empfiehlt dem Philosophen, sich hinter einer Maske zu verbergen, andererseits warnt er davor, dass der Philosoph sich wie ein Schauspieler9 benehme.10 Stern löst diesen Widerspruch auf, in dem er drei Arten von Schauspielerei unterscheidet11: die immersive, die gymnastische und die marionettenhafte.

  • – Als immersiver Schauspieler macht man sich das Innenleben der Figur zu eigen, geht völlig in ihren Emotionen auf12.
  • – Als gymnastischer Schauspieler stellt man das mit dem Publikum verabredete Zeichen für eine bestimmt Emotion bewusst her, ohne dieses Gefühl selbst zu empfinden13.
  • – Als marionettenhafter Schauspieler agiert man wie eine Puppe, rein körperlich, ohne innere Beteiligung14.

Nietzsche warnt offensichtlich vor dem ersten Schauspieler, der sich als „Märtyrer der Wahrheit“ darstellt und ganz dem Beifall des Publikums verfallen ist, und empfiehlt dem Philosophen, auf der Bühne des philosophischen Disputs maskiert aufzutreten – ein Versteckspiel um der Verpflichtung auf die Wahrheit willen, bei dem der Denker sich nicht selbst verliert. Indem Stern dabei Nietzsche ansatzweise zustimmt, warnt er vor der „naturalistischen“ Interpretation Nietzsches. „Das Unternehmen der naturalistischen Philosophie wird natürlicherweise die Möglichkeit seines Erfolges selbst untergraben.“15

 


  1. In Schellings „System des transzendentalen Idealismus“ z.B. wird das Verhältnis von Freiheit und Gesetzmäßigkeit der Geschichte durch das Bild eines Schauspiels, dessen Autor nur virtuell in den einzelnen Schauspielern vorhanden ist, anschaulich gemacht. F.W.J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus. Hamburg: Meiner, 1957 (zuerst Tübingen 1800), S.271. Auch Hegel verwendet die Metapher des Schauspiels oft, z.B. in seiner Einleitung zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. G.W.F. Hegel, Theorie Werkausgabe Bd. 12. Frankfurt/M: 1970, S.34-35 ↩︎
  2. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III. Theorie Werkausgabe Bd. 15. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1970 S.513 ↩︎
  3. ibid. S. 516 ↩︎
  4. Jennifer Ann Bates, „Hegel’s ‚Instinct of Reason‘ and Shakespeare’s The Merchant of Venice: What is a relevant Aufhebung of nature? of Justice?“ PTDA, pp. 15-41 ↩︎
  5. G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. Theorie Werkausgabe Bd.3. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1970, S.185-187 u. 233-262 ︎undG.W.F. Hegel, Enzyklopädie der Wissenschaften II. Theorie Werkausgabe Bd. 9. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1970 S. 22↩︎
  6. Terry Eagletons Interpretation des „Merchant of Venice“ zu lesen, ist hilfreich für das Verständnis von Bates’ Essay. Eagleton findet den Gegensatz zwischen Allgemeinheit und Besonderheit im Begriff des Rechts, den Shylock und Portia jeweils nach einer Seite hin auslegen (dabei jeweils verkehrt). Bates findet bei Hegel eine Aufhebung dieses Gegensatzes, eine Vermittlung auf höherer Ebene, und glaubt diese auch in Details von Shakespeares Text nachweisen zu können. Terry Eagleton, „Law: The Merchant of Venice“, in: T.E., William Shakespeare. London: Blackwell, 1986, pp.35-48 ↩︎
  7. Jacques Derrida, „What is a ‚relevant translation‘?“ Critical Inquiry27 (Winter 2001), p.174-200 ↩︎
  8. Tom Stern, „Nietzsche, the mask and the problem of the actor“, PTDA, pp.67-87 ↩︎
  9. Ich verwende hier das generische Maskulinum, wie es auch die meisten Autoren des Sammelbandes tun, obwohl im Englischen auch die weibliche Form „actress“ schon immer gebräuchlich ist. Alles, was in meinem Text über Schauspieler gesagt wird, gilt also auch für Schauspielerinnen. Eine nicht-feministische, aber an Lacan orientierte Differenzierung der Leistungen und Aufgaben von Schauspielerinnen und Schauspielern findet sich bei Alain Badiou, Rhapsodie für das Theater. Kurze philosophische Abhandlung. Wien: Passagen 2015, XLVI S.74-76 und LVIII-LX S. 86-90↩︎
  10. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, § 25: „Seht euch vor, ihr Philosophen und Freunde der Erkenntnis,(…) Flieht in’s Verborgene! Und habt eure Maske und Feinheit, dass man euch verwechsele! (…) Das Martyrium des Philosophen, seine »Aufopferung für die Wahrheit« zwingt an’s Licht heraus, was vom Agitator und vom Schauspieler in ihm steckte; und gesetzt, dass man ihm nur mit einer artistischen Neugierde bisher zugeschaut hat, so kann in Bezug auf manchen Philosophen der gefährliche Wunsch freilich begreiflich sein, ihn auch einmal in seiner Entartung zu sehn (entartet zum »Märtyrer«, zum Bühnen- und Tribünen-Schreihals).“ ↩︎
  11. PTDA, pp. 71-74 ↩︎
  12. vgl. Stanislawski. Stern nennt diesen Typus von Philosophen einen “Wagnerian entertainer“ PTDA, p.78 ↩︎
  13. vgl.Diderot↩︎
  14. vgl. Kleist ↩︎
  15. “The pursuit of the naturalist philosophy will naturally undermine the possibility of its successful pursuit.“ PTDA, p.83 ↩︎

Kommentar verfassen