Kein Theater – Erinnerungsbücher von Ex-Genossen

1. Schneeschmelze

2022 und 2023 starben kurz nacheinander Elisabeth Weber 1, Ruth Ursel Henning 2, Willi Jasper 3 und Antje Vollmer 4. Damit ist nun die prominenteste Gruppe der von 1970-1980 existierenden KPD-AO fast vollständig verschwunden 5, nachdem Jürgen Horlemann 6, Christian Semler 7, und Peter Neitzke 8 bereits Jahre zuvor verstorben waren9 Die Generation, die versuchte, die Konsequenzen aus dem gesellschaftlichen Aufbruch der 68e-Revolte zu ziehen, stirbt aus. Was bleibt? Jedenfalls ein paar Erinnerungsbücher, – auch von begrenzter Haltbarkeit.10

„Der Schnee gnädigen Vergessens bedeckt heute die Landschaft, auf der sich in den 70er Jahren die maoistischen „K-Gruppen“ an die Revolutionierung des Proletariats gemacht hatten. […] Schließlich und wenigstens verstehen die Funktionäre von einst kaum mehr ihre damaligen Motive und Handlungen.[…] Dem ehemaligen Führungspersonal ist die Geschichte der K-Gruppen zu peinlich.“11

Das schrieb Christian Semler 1998. Langsam schmilzt dieser Schnee des Vergessens und darunter kommen seltsame Überreste, verrostetes Gedanken-Gerümpel eines einstmals heißen Sommers der Aktion zum Vorschein.

Heute ist der Modus des Gedenkens der damaligen Akteure weniger die Abrechnung mit der Vergangenheit als der Versuch, sich selbst zu verstehen.12

Auf die Frage seines Sohnes hin, „wieso man in den 70er Jahren auf die Idee habe kommen können, Mitglied einer maoistischen Partei zu werden“ hat Helmuth Lethen seinen Bericht „Suche nach dem Handorakel“ geschrieben13. Marianne Brentzel14 gesteht ratlos:

„Ich weiß keine zufriedenstellende Antwort, die meine eigene Entscheidung für diese Organisation für fast zehn Jahre rechtfertigt und auch keine für all die, die sich jahrelang diesem System unterordneten.“15

Aber Begründung ist nicht Rechtfertigung. Wenn ich eine zurückliegende Handlung rechtfertige, wende ich meine gegenwärtigen moralischen Maßstäbe auf die vergangene Handlung an. Nach unseren heutigen Maßstäben, ist die „Entscheidung für diese Organisation“ nicht zu rechtfertigen. Aber es besteht das Bedürfnis, sich selbst zu verstehen, d.h. im damaligen Kontext Gründe zu finden, die zu diesen Entscheidungen führten. Christian Semler hat dies 2001 am deutlichsten formuliert:

„Soll man sich, vor allem als Person des öffentlichen Lebens, von den Elementen seines eigenen Lebens öffentlich distanzieren, die dem heutigen Blick als verwerflich erscheinen? Entgegen der Auffassung, wonach die Biografie aus lauter unverbundenen Neuanfängen besteht, streben wir alle nach so etwas wie einer Ich-Identität im Lebenszyklus. Deshalb ist es ganz unsinnig, sich im Sinn eines Reinigungsrituals von Teilen der eigenen Biografie einfach loszusagen. Wir sollen erklären, wie alles zusammenhängt, was fortwirkt, was überwunden wurde. Dazu bedarf es nicht der kniefälligen Distanzierung, sondern der Selbstdistanz.“16

2. Gründe

Warum nun beteiligte sich Helmut Lethen, Literaturwissenschaftler Jahrgang 1938, 1969/70 an der Gründung einer maoistischen Partei?

In „Suche nach dem Handorakel. Ein Bericht“ beschreibt er 2012 ausführlich seinen intellektuellen Werdegang in den 60er Jahren17: Lektüre von Adorno, Walter Benjamin und Mitscherlich. Das waren die intellektuellen Voraussetzungen der Studentenbewegung vor 1969.

 

Mitscherlichs These von der „Vaterlosigkeit“ der Nachkriegsgeneration, deren Väter ihre Tätigkeiten in der Nazi-Diktatur und im Krieg beschwiegen, war zwar banal, „traf aber damals einen Nerv.“18. Lethen blieb jedoch skeptisch. Dass die durch die fehlende Autorität der Vatergeneration bewirkte „Unzuverlässigkeit der Innensteuerung“ seiner Generation der psychologische Grund für die Studentenbewegung sei, war für ihn damals unglaubwürdig. Für den Lethen der 60er-Jahre gehörte Mitscherlich auch zu den Vätern.

Die Ablehnung der Kritischen Theorie kam mit der Bild-Zeitungs-Kampagne des SDS. Die Kritische Theorie war problemlos in die bestehende Gesellschaft integrierbar. Auch die Bild-Zeitungsmacher konnten sie als strategischen Ratgeber verwenden.

Soweit erklärt Lethen die Voraussetzungen, die auf die ganze Breite der Studentenbewegung zutrafen. Aber warum musste es nun gerade dieser kleine Zirkel von knapp 20 Westberliner SDS-Mitgliedern sein, die eine demokratisch-zentralistische Kaderpartei gründen wollten? Zunächst bleibt die Bilanz seines Selbsterklärungsversuchs negativ:

„Nicht erklärt ist, warum ich mich 1970 der handverlesenen Schar der Parteigründer, in der ich kluge Köpfe der Studentenbewegung in Westberlin wiederfand, angeschlossen habe.“19

Dann nennt er neben dem Abschied von der lähmenden Praxislosigkeit der Kritischen Theorie einen weiteren Grund:

„Irgendwie hat mir die Enttäuschung über die Handlungslähmung und herrschaftsdienliche Funktion der Kritischen Theorie, die den Eintritt in eine ML-Partei legitimieren sollte, einen handfesteren Grund verborgen. Er lag in der Furcht, in der Umwelt der Lebensstilexperimente, im Strudel der zerfallenden Bewegung, die Fassung zu verlieren, ziellos zu treiben, marginalisiert zu werden.“ 20
„Was bewahrte uns vor Kollaps und Amoklauf? Sollte die Reihe der ML-Parteien eigens zu dem Zweck gegründet worden sein, diesen Gang der Dinge zu verhindern? Merkwürdiger Gedanke, diese Parteien könnten als ‚Sinnmaschinen‘ manchen aufgefangen haben.“ 21

Diesem subjektiven Bedürfnis nach Halt und Orientierung entspricht Lethens objektive Beschreibung der Funktion der ML-Bewegung nach 1970:

„Der Zerfall der Studentenbewegung hat in den Jahren 1969, 1970, 1971 ein nicht zu unterschätzendes Quantum ungebundener destruktiver Energie freigesetzt. Die Leistung der marxistisch-maoistischen Apparate bestand darin, die frei flottierenden Umsturzenergien in ihr oberirdisches Bewegungssystem einzubinden.“ 22

Lethens mehrfach wiederholte These ist: die ML-Parteien haben „objektiv gesehen der Stabilisierung der Republik gedient“. 23

Die politischen Ereignisse und gesellschaftlichen Entwicklungen, die so etwas aus heutiger Sicht Unwahrscheinliches und Unsinniges wie die Gründung einer maoistisch-kommunistischen Partei durch eine Handvoll Studenten und Jungakademiker, möglich machten, werden in Willi Jaspers Erinnerungsbuch „Der gläserne Sarg. Erinnerungen an 1968 und die deutsche ‚Kulturrevolution‘“ ausführlich geschildert:

  • Die Erschießung des Demonstranten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 durch einen Polizisten,
  • das Attentat auf Rudi Dutschke, den anerkannten Sprecher der Studentenbewegung, am 11. April 1968,
  • die Studentenproteste und Streiks im Mai 1968 in Paris,
  • der Einmarsch der russischen Truppen in Prag  im August 1968
  • der Vietnam-Krieg mit der gescheiterten Tet-Offensive des Vietcong 1969
  • die Streiks bei Fiat in Italien und der Einfluss der „Unione dei Communisti Italiani“,
  • die gewerkschaftsunabhängigen „wilden“ Streiks in Deutschland im September 1969,
  • die gewalttätige Auseinandersetzung zwischen Studenten und Polizei bei der Demonstration am Tegelerweg in Berlin im November 1969.

So wird vielleicht eher verstehbar, warum dann auf der Arbeitskonferenz der Berliner Roten Presse-Korrespondenz am 6./7. Dezember 1969 fünf ehemalige Mitglieder des aufgelösten SDS die Gründung einer Kommunistischen Partei vorschlugen24. Im Februar 1970 hieß es dann in der Vorläufigen Plattform der Aufbauorganisation für die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD-AO):

„Der rechtzeitige Aufbau einer nicht mehr studentischen politischen Organisation, die ihr Hauptaugenmerk auf die Organisierung des Proletariats gerichtet hätte, wäre das Korrektiv von Wahnvorstellungen gewesen, die bis heute in den Köpfen von Genossen spuken.“ 25.

Im Rückblick scheint das heute eher der Versuch gewesen zu sein, viele divergierende Wahnvorstellungen durch eine einheitliche Wahnvorstellung zu ersetzen.

Dass das Scheitern dieses Versuchs erst so spät eingestanden wurde (immerhin früher als bei den konkurrierenden K-Gruppen), lag auch daran, dass er zunächst erfolgreich war. Worin die Attraktivität dieser Gruppe bestand schildert Alan Posener, damals Student und später Chef-Kommentator der Zeitung „Die Welt“:

„Dass ich zur KPD/AO stieß, war eher zufällig. Ich hatte, um irgendetwas zu studieren, mich für Germanistik eingeschrieben, und in der „Roten Zelle Germanistik“ gaben die Vertreter der KPD/AO den Ton an. Das meiste, was sie sagten, verstand ich allenfalls umrisshaft, aber ich habe sie als Personen bewundert: Dietrich Kreidt, Helmut Lethen und Rüdiger Safranski zum Beispiel, aber auch Lerke von Saalfeld, Beate von Werner und vor allem Elisabeth Weber. Da war schon eine geballte intellektuelle Potenz. Ich glaube, dass es den meisten jüngeren Studenten damals so ging: die Entscheidung für eine politische Organisation war eher eine persönliche als eine ideologische Entscheidung. Man entschied sich, zu wem man gehören wollte, und eignete sich danach die politische Linie an. Die festigte sich in der Auseinandersetzung mit den anderen Sekten dann zur tatsächlichen Überzeugung.“ 26

Helmut Lethens „merkwürdiger Gedanke“, die Partei könne als „Sinnmaschine“ funktioniert haben und manchen aufgefangen haben, wird durch Alan Posener bestätigt:

„Ich verdanke der KPD {…} also, dass ich von den Drogen und dem Gefühl existenzieller Nichtigkeit losgekommen bin. {…} Und da verdanke ich ihr wohl eher als irgendwelcher eigenen Charakterstärke, dass ich vor Abgründen bewahrt wurde, in die andere schlidderten.“27

3. Doch Theater

„Noch nie war meines Wissens eine deutsche Partei durch eine solche Übermacht von Germanisten gegründet worden“ schrieb Peter Schneider über die KPD/AO28. Helmut Lethen bemerkt zu Recht „dass in unserem Politbüro unverhältnismäßig viele Theaterwissenschaftler waren.“ 29

Helmut Lethen und Willi Jasper stellen ausführlich dar, welche Rolle der Literaturwissenschaftler Peter Szondi in den damaligen Auseinandersetzungen spielte. Er war sowohl Anreger der Kritik an der noch unter dem Einfluss der ehemaligen Nazi-Mitläufer stehenden Germanistik als auch Opfer der Studentenproteste. Selbst der Lyriker Paul Celan wurde in den Strudel der 68-Bewegungen hineingezogen 30. Auch das Theater blieb nicht unberührt:

  • Peter Steins Inszenierung von Peter Weiss` „Viet Nam Diskurs“ (Kammerspiele München 5. Juli 1968 unter Mitarbeit der späteren KPD-AO Gründer Wolfgang Schwiedrzik und Jürgen Horlemann) sorgte für einen Skandal, weil im Anschluss an die Vorstellung Geld für die Vietnamesische Guerilla Vietcong gesammelt wurde.
  • Peter Steins Inszenierung von Brechts „Die Mutter“ an der 8. Oktober 1970 Berlin Schaubühne am Halleschen Ufer (wiederum unter Mitarbeit von Wolfgang Schwiedrzik) konnte als Aufforderung verstanden werden, die Verwirklichung des Kommunismus, „das Einfache, das so schwer zu machen ist“, anzupacken.
  • Wolfgang Schwiedrziks Drama „Märzstürme 1921 (Leuna)“ an der Schaubühne 7.3.1972 uraufgeführt (erfolglos) erinnerte an die militanten Aktion der KPD zu Beginn der Weimarer Republik.

Es war also folgerichtig, dass die Aktionen der KPD-AO „wie revolutionäres Theater inszeniert wurden.“31

4. Verluste-Gewinne

Die Arbeit für die Partei war anstrengend. Die Mitgliedschaft (auch im Studentenverband) erforderte die Anerkennung des „Primats der Politik“, d.h. den Vorrang der politischen Tätigkeit vor allen anderen Lebensäußerungen. Helmut Lethen beschreibt die Partei als „selbstdestruktiven Trichter“, der alle Energie aufsog, ohne ein Resultat zu hinterlassen. 32. Das führte zu Verlusten. Die hier behandelten Erinnerungsbücher gehen mit diesen Verlusten nonchalant um. Lethen verließ die Partei 1976, Neitzke 1975, Alan Posener 1977. Willi Jasper arbeitete immerhin seit 1979 auf ihre Auflösung hin. Sie waren also selbständig und handlungsfähig geblieben. Willi Jasper zuckt auf die Frage nach seinen persönlichen Verlust nur mit der Schulter:

„Auf die Frage, ob es eine `verlorene Zeit`war, erklärte ich {1980}, dass ich mir natürlich vorstellen könnte, die letzten zehn Jahre sinnvoller verbracht zu haben.` Aber ich konnte damals nicht beantworten, ‚durch welche Konstellation und ab welchem Punkt ich meine persönliche Entwicklung hätte in andere Bahnen leiten müssen.‘ Natürlich spürte ich ein Bedauern. {…} Doch ich glaubte (und glaube immer noch), dass man die ‚Schuld‘ der KPD-AO in eine ‚Gesamtbilanzierung‘ dessen einordnen muss, wie viel menschliche und soziale Existenz insgesamt in der linken Bewegung seit 1968 auf der Strecke geblieben ist.“33.

Und Helmut Lethens Schaden war eine Gastritis, die ihm immerhin die Abkehr von der Organisation ermöglichte. Aber die politisch begründete Ablehnung seiner Bewerbungen um Professorenstellen in Bremen und Marburg kränkte ihn doch.

„Natürlich richtete die Partei Destruktives an, in erster Linie nach innen: schlaue junge Gewerkschaftler wurden aus ihrem Biotopen gerissen und von Westberlin aus in unser Traum- und Niemandsland, genannt Ruhrgebiet, verschickt. Wir versauten vielen Genossinnen und Genossen fürs ganze Leben ihren Lehrerberuf, an dem sie mit Leidenschaft hingen. Die Partei verbrauchte Erbschaften und beendete akademische Karrieren.“34

Diese unaufgeregte Negativ-Bilanz steht im deutlichen Widerspruch zu den 1977 anonym veröffentlichten schrillen Leidensberichten einer Gruppe von Aussteigern35 und zu den hämischen Bemerkungen Außenstehender36.

Der Negativ-Bilanz steht aber auch der Versuch gegenüber, zu retten, was bleiben kann. Alan Posener, auf Grund seines Parteiaustritts und seiner Tätigkeit für das Flaggschiff der Springer-Zeitungen unverdächtig, ein Unverbesserlicher zu sein, findet im Wesentlichen zwei Dinge, die er der KPD verdankt: zum einen „technisch-charakterliche Dinge“: strenge Disziplin, zum anderen ideologische: „als negative Lehre die tiefe Abscheu vor dem Kommunismus und der tiefe Schrecken über die eigene Verführbarkeit“, aber auch: „einen linken Liberalismus. Liberal, weil ich zu wissen meine, wie wichtig die Freiheit ist; links, weil eben die wahren Helden die Leute sind, die es nicht leicht haben.“ 37

Christian Semler versucht ebenfalls festzuhalten, was an anschlussfähiger Orientierung übrig blieb, vor allem mit Blick auf die nicht wenigen, die weiterhin politisch aktiv blieben. Zunächst allgemein für die Studentenbewegung: „Die linken Studenten: „waren trotz ihres oftmals forciert linkstraditionalistischen Gepräges, Motoren des demokratischen Verwestlichungsprozesses“. 38 Dann aber auch konkret für die Ex-Genossen seiner ehemaligen Partei:

1. schroffer Antiutopismus (aus Enttäuschung über Utopie der Kulturrevolution), Verbindung mit osteuropäischen Demokraten,
2. linker Antitotalitarismus, Unterstützung von der osteuropäischen Opposition,
3. Drei-Welten-Theorie: Legitimität nationaler Befreiungsbewegungen auch im Fall der zerfallenden Sowjetunion und Jugoslawiens, positive Wertung der EU (zweite Welt)
4. Dem Volke dienen: „Volkstümlertum“ „Es erlaubte den Ex-Maoisten, ihre private berufliche Existenz an einem allgemeinen ethischen Maßstab zu messen.“ Kritik an der volksfeindlichen Entwicklung von Technik (Grüne Bewegung)

Als gewiefter Dialektiker sieht er aber auch die Kehrseiten dieser Vorteile: Der Antiutopismus ist zugleich die „Weigerung, das ganz andere der kapitalistischen Produktionsweise auch nur zu denken“. Der Antitotalitarismus führt zu „moralischen Superioritätsgefühle“ und zur „Pose des Chefanklägers“. 39

5. Romane

Nicht jeder fühlt sich wichtig genug, um zur Lektüre für künftige Historiker seine Erinnerungen zu veröffentlichen. Nicht jeder kann den Affekt der Scham so produktiv verarbeiten wie Helmut Lethen. Christian Semler hat schon früh und mehrfach als taz-Redakteur und Kommentator eine ehrliche Bestandsaufnahme versucht. Alan Posener kann sich auf eine einzelne Frage beschränken und vermeidet so jegliche „der rote-Opa-erzählt“-Haltung.

Es gibt aber noch einen anderen Weg, mit peinlichen Erinnerungen umzugehen: Fiktionalisierung. Es gibt mindestens drei Romane von ehemaligen Mitgliedern der Führung der KPD(nicht mehr AO). Helmut Lethen hat dafür ein passendes Zitat von Walter Benjamin aufgespießt:

„Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit, das sich über seine wichtigsten Angelegenheiten nicht mehr exemplarisch auszusprechen vermag, selbst unberaten ist und keinen Rat geben kann. Einen Roman schreiben, heißt, in der Darstellung des menschlichen Lebens das Inkommensurable auf die Spitze treiben.“ 40.

Am eleganteste umschifft Alexander von Plato die Klippe der eigenen Ratlosigkeit.. Erinnerung ist sein Thema, aber nicht seine eigene und nicht die an die Jahre 1970-80.

Verwischt. Eine Liebe in Deutschland 1989

Für den Historiker Alexander von Plato 41 sind die Jahre 1970-1980 eine zu kurze Welle, als dass er sich öffentlich damit beschäftigen würde. Als international renommierter Spezialist für „oral history“ beschäftigt ihn, wie die langen Wellen der historischen Entwicklung sich in den kurzen Wellen eines Menschenlebens auswirken. Die „longe durée“, deren Erforschung der französische Historiker Fernand Braudel zur Aufgabe der Geschichtswissenschaft gemacht hat, d.h. die für die Individuen unmerklich sich vollziehende Veränderung im Zusammenleben der Menschen, wirkt sich aus auf die Lebensverläufe der Einzelnen. Diese Entwicklungen, die sich in scheinbar unabhängig von den Entscheidungen einzelner in einer völlig anderen Zeitstruktur entwickeln als in dem individuellen Lebensrhythmus von Geburt, Leben und Tod, in ihrem Niederschlag auf das bewusste Erleben einzelner zu erfassen, ist Sinn von „oral history“.

Oder wie eine der Figuren, ein Filmregisseur, in von Platos Roman „Verwischt. Eine Liebe in Deutschland 1989“ erklärt:

„Es ist – denke ich – wahnsinnig schwer, die langen Wellen der Geschichte, die wir nur erlernen können, mit den kurzen, die wir erleben, zu verknüpfen […] Vielleicht kann dies auch nur der Kunst gelingen.“ 42

Eine andere Figur, eine Historikerin, greift dies auf:

„Seine Gedanken über die langen Wellen, die wir nur erlernen können, und die kurzen Wellen, die wir erleben, trafen den Kern meiner Arbeit. Diese beiden Wellen zusammen zu analysieren, das ist die Kunst, die die Fachleute aus den Kultur- und Geschichtswissenschaften beherrschen sollten.“ 43.

Von Plato versucht beides, Kunst (Fiktion) und Geschichtswissenschaft (Wahrheit), zu vereinen, er hat einen Roman geschrieben, der auf den lebensgeschichtlichen Erinnerungen seiner Gesprächspartner im Zuge seiner Arbeiten über die deutsche Wiedervereinigung beruht. Es geht darin um den großen Zeitraum zwischen 1944 und 2014 im Nazi-Deutschland, der DDR und im vereinigten Deutschland. (Die politischen Ereignisse in Westdeutschland und Westberlin in den 70er Jahren werden nicht erwähnt.)

Dieser im Selbstverlag erschienene in der medialen Öffentlichkeit kaum bemerkte Roman hat eigentlich das Zeug zu einem populären Schmöker, er ist so etwas wie ein Dokufiction-Krimi. Aber das Interesse an deutscher Vergangenheit schwindet mit dem steigenden Interesse an der Gegenwart. Kommunistischer Widerstand gegen die Nazi-Diktatur und das Ende der DDR, das interessiert angesichts des Ukraine-Krieges nur wenig. Allerdings gibt es aus der Perspektive eines ehemaligen DDR-Dissidenten von 2014 eine deutliche Warnung:

„Ein vereintes Deutschland unter dem Dach der Nato, das Russland aus Europa heraushielt und die Russen demütigte. Das werden wir noch teuer bezahlen. {…} Damit haben wir geholfen Putin groß zu machen.“ 44

Im Zentrum der Handlung steht eine westdeutsche Historikerin Marie, die mit den Mitteln der „oral history“ die Rolle der jüdischen kommunistischen Widerstandskämpfer in der frühen DDR untersuchen will. Sie verliebt sich in Paul Z., einen ihrer Gesprächspartner, ein 70jähriges Mitglied des ZK der SED. Am Tag der Maueröffnung 1989 bricht dieser nach einem Schlaganfall zusammen. Mit allen Mittel des Kriminalromans, – red herrings galore – wird dem Leser die Lösung vorenthalten. Paul hat nach seiner Verhaftung durch die Gestapo unter der Folter Namen der Inlandsleitung der KPD preisgegeben, die danach hingerichtet wurden. Das hat er in der DDR immer verschwiegen, aber der sowjetische Geheimdienst wusste es. Ein Sohn eines der Opfer von Pauls „Verrat“, ein erfolgreicher Filmregisseur, konfrontiert ihn schließlich an jenem Tag des Untergangs der DDR damit. Was zum Zusammenbruch Pauls führt.

Der Erzähler arbeitet mit allen Mitteln des perspektivischen Erzählens. Der erste Teil besteht aus Berichten, Notizen, Gesprächsprotokollen, die eine westdeutsche Journalistin von Marie und anderen beteiligten Personen erhält. Erst im kurzen zweiten Teil wird deutlich, dass dieses Material die Grundlage für einen Fernsehfilm war, den diese Journalistin mit besagtem Filmregisseur gedreht hat. Dieses Material erhält nun Marie zurück und kann damit beweisen, dass der Filmregisseur zwar zu Recht Paul seine Schwäche unter der Nazifolter vorhalten konnte, ihn aber zu Unrecht als Kollaborateur mit dem sowjetischen Geheimdienst diffamiert hat. Der ehrliche Aufklärer war also der Lügner.

Alexander von Plato kennt die Biografien vieler DDR-Bürger aus seiner Forschungsarbeit genau. Und er kennt die Fallstricke der „oral history“-Methode.

„Es kann doch sein, dass man sich immer aus anderen Geschichten und Bildern etwas zurechtklaubt, was zu den eigenen Erfahrungen oder Erlebnissen passt.“ 45

Auch Zeitzeugen sagen nicht immer die Wahrheit. Er hat aber keinen Schlüsselroman geschrieben. Die fiktiven Figuren sind zusammengesetzt aus Puzzleteilen realer Biografien.

Rote Fahnen Rote Lippen

Einen anderen Weg hat Marianne Brentzel beschritten. Sie hat schon 2011 einen Roman geschrieben, aber einen autobiographischen – ein Mittelweg zwischen Erinnerungsbuch (Jasper) und vollständiger Fiktionalisierung (Neitzke).

Hannah Heister heißt die Heldin (die Autorin wählt die Namen mit Bedacht), geboren 1943. Ihr Leben wird erzählt vom Beginn des Studiums 1963 in Berlin am Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität bis zur Auflösung der Partei 1980. Es umfasst also die Entwicklung der Studentenbewegung von ihrem Anfang an bis zum endgültigen Ende ihrer Ausläufer. Die Erschießung Benno Ohnesorgs, das Attentat auf Rudi-Dutschke, die wichtigen Ereignisse werden in ihren Auswirkungen geschildert. Hannah ist zunächst Mitglied des Liberalen Studentenbunds 46, dann wechselt sie zur Proletarischen Linken (Pl/PI), einer locker organisierte Gruppe mit syndikalistischer Ausrichtung, die propagierte, dass Studenten in den Industriebetrieben arbeiten sollten. Hannah arbeitet als Fabrikarbeiterin bei SEL und Gilette. Aber bald ist sie enttäuscht:

„Von einem Haufen von Chaoten, der bald wieder auseinander lief, hatte sie genug.“ 47.

Da kommt die Aufforderung, in die gerade gegründete KPD-AO einzutreten, gerade richtig.

„Wahrscheinlich war die chinesische heute die richtige Form des politischen Kampfes. Auf keinen Fall würden die Genossen der KPD auf die verrückte Idee kommen, einen Art bewaffneten Kampf anzuzetteln.“ [a.a.O. S.103].

Die Motive der Ablehnung des bewaffneten Kampfes der RAF und des Bedürfnisses nach Stabilität und Orientierung, die auch Helmut Lethen erwähnt, werden auch hier deutlich.

Nun wird der Roman eine Parteigeschichte, erzählt aus einem ganz spezifischen Blickwinkel. Alle Personen sind erkennbar, wenn auch unter Pseudonym: der unheimliche Genosse Elroh ist Jürgen Horlemann, Genosse Olaf (Peter Neitzke) zerreißt ein Stalin-Bild und wird aus dem ZK ausgeschlossen. Katharina, die Große Ka, (Ruth Henning) beherrscht kompetent und mit flexibler Unnachgiebigkeit die regionale Leitung. Der Parteivorsitzende Brotler (Christian Semler) kommt nur am Rande vor. Hannah hat schon vor ihrem Parteieintritt einen kleinen Sohn und sie wird Funktionärin, zieht im Auftrag der Partei von Berlin nach Dortmund. Und was den Roman weit über eine Parteigeschichte hinaushebt, ist die Gestaltung dieses Konflikts zwischen privatem Familienleben und bedingungslosem Einsatz für die politische Organisation.

Diese Hannah ist eine Frau von heftigem Temperament, spitzer Zunge und erheblichem Tätigkeitsdrang. Auch nach einer unerfreulichen Weihnachtsfeier in der Parteizentrale hält sie daran fest:

„Der pausbäckige Familienalltag soll nicht meine Sache sein.“ 48

Aber sie sieht sich und ihre Genossen als

„Marionetten der selbstgesetzten Pflichten {…} ganz und gar nicht die allseits entwickelten Persönlichkeiten, die wir einmal werden wollten. Eher wie Hamster im Rädchen. Das Partei ist unsere Welt. Wir laufen und laufen und kommen uns sehr wichtig vor. Aber wir kommen keinen Meter voran.“

So beweint sie ihr Leben, „wusste am nächsten Morgen nicht mehr genau warum.“ 49Auf die Frage ihrer Pariser Freundin „Wozu das alles?“ antwortet sie

„Weißt du, es ist schwer zu erklären, weil es neben der inneren Überzeugung auch ein Leben in einem festen sozialen Umfeld ist.“ 50

Und sie lässt nicht locker, wird Mitglieder der Regionalen Leitung Nordrhein-Westfalen, wiederum mit unterdrückten Selbstzweifeln:

„Warum wollte sie das eigentlich? War es Ehrgeiz, der sie trieb? Der Wunsch nach mehr Anerkennung?! Sicher spielten diese ‚erzbürgerlichen‘ Motive auch eine Rolle, wie sie Lena in Paris gestanden, aber hin zugefügt hatte, vor allem wolle sie ‚der Sache‘ besser dienen.“ 51

In dieser Funktion vertritt sie die vollständige Unterordnung aller persönlichen Bereiche unter den Primat der Politik auch gegenüber anderen. Einem Genossen, der sich weigert, von Duisburg nach Solingen umzuziehen, macht sie das klar und beschwichtigt danach ihre eigenen Zweifel.

„Er hätte nein sagen können, beruhigte sie sich. Über mein Leben bestimmt die Partei doch auch. So ist das nun mal, wenn man bei uns mitmacht. Anders geht es nicht.“ 52

Nach einer ausführlich geschilderten Abtreibung 53 bekommt sie problemlos in zweites Kind. Und doch bleibt der Zwiespalt:

„Familie, dachte Hannah in dieser Zeit häufig, Familie ist etwas Verrücktes. Eine Dennoch-Konstruktion. Man will sie und will sie doch nicht.“ 54

Eine China-Reise mit der Parteidelegation auf Einladung der Kommunistischen Partei Chinas sorgt für die endgültige Desillusionierung. Das Land der Utopie ist auch nur eine widersprüchliche Wirklichkeit. Am Ende steht die erlösende Selbstauflösung der Partei im Frühjahr 1980.

Der stille Held im Hintergrund, der das alles möglich macht, ist Hannahs Ehemann Rolf, das ist Hugo Brentzel 55, der langjährige Anwalt der Partei, der selbst kein Mitglied war, aber zahlreiche Genossen in ungezählten Prozessen verteidigt hat, mit denen Staatsanwaltschaften die Parteimitglieder überzogen. Er ist immer da, um die Kinder zu betreuen, wenn Hannahs Termine Vorrang haben, er ist da, um Hannah zu trösten in ihren Verzweiflungsnächten. Diese privaten Szenen, die die Parteiberichterstattung immer wieder unterbrechen, geben dem Bericht erst den Charakter eines Romans.

Der Roman hat aber noch ein zweites Element: in die Erzählung des Lebens Hannahs sind immer wieder Texte eingeschoben, die den Titel „Hildes Tagebuch“ tragen. Erst am Ende wird klar, dass Hannahs Freundin Hilde ihr dieses Tagebuch übergeben hat. (Ein ähnliches erzähltechnisches Manöver wie in Alexander von Platos Roman die Übergabe der Materialien der Journalistin Barbara an die Historikerin Marie.) Diese Texte erzählen bruchstückweise die Suche Hildes nach ihren Ursprüngen. Sie ist als Tochter einer KZ-Wärterin im KZ Ravensbrück geboren. In diversen Etappen der Erzählung wird deutlich, dass diese Herkunft für Hilde sowohl ein Grund war, sich der kommunistischen Partei anzuschließen als auch, dass sie diesen Grund für sich behalten will, ihn nicht der Partei als Argument zur Verfügung stellen will. Sie nimmt dafür in Kauf, von der Partei ausgeschlossen zu werden.

Diese Parallelgeschichte zu Hannahs Karriere, vertieft das Thema des Konflikts zwischen Privatheit und politischer Tätigkeit weiter: das richtige Motiv führt zur Trennung von der Partei, das falsche Motiv führt zum Aufstieg in der Partei.

Morelli verschwindet

Die literarische Spitze der Erinnerungsbücher dieser Autorengruppe ist Peter Neitzkes Roman „Morelli verschwindet“. Es ist Gegenwartssatire, Kritik der Erinnerungsliteratur, Abrechnung und Versöhnung mit der Vergangenheit – alles in einem. Ein Roman mit Bitterkeit und Humor, von einer überlegenen Reflektiertheit, die man in kaum einem anderen Roman finden wird. Und ein Lesevergnügen der herausfordernden, spannenden Art.56
Die Grundidee des Romans ist alles andere als naiv: Gregor Hellman, ein Barpianist, engagiert Frantz Morelli, einen Architekten, als Ghostwriter, der mithilfe von Hellmanns Notizen dessen Autobiographie schreiben soll. Alles ist hier verdreht und verspiegelt. Hellman klärt Morelli auf:

‚Schriftsteller {…} geben als Fiktion aus, was sich mehr oder weniger aus Elementen der eigenen Biographie zusammensetzt. Aber mit den üblichen Tricks die eigene Person verdunkelt. Mich interessiert das Umgekehrte: Wie, wenn das eigene Leben eine Fiktion ist? Wie löst man das literarisch?‘“ 57

Und Morelli versteht seine Rolle für Hellman als „eine Art produktiver Schatten, als investigatives Double, als Frageinstanz und handwerkliches Spaltprodukt.“ 58

Aber Morelli verschwindet, wirft seine Matratze samt Manuskripten aus dem Fenster seiner Wohnung im 5. Stock in den Fluss und reist ab, mit unbekanntem Ziel. Für Hellmann schreibt er nichts, die Dreitausend, die er als Anzahlungshonorar erhalten hat, gibt er nicht zurück. Der Roman wechselt nun ständig die Perspektiven zwischen Hellmann und Morelli. Hellmann sucht Morelli, meint ihm zu begegnen. Das gibt eine Reihe von satirischen Vignetten der Gegenwart: ein Besuch im Einkaufsparadies „Universum“, assistiert von einer digitalen Kaufberaterin, der mit marxistisch geschulter Begrifflichkeit endet:

„‚Keine Angst. Die Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums werden darauf verzichten, die Produktionsverhältnisse zu revolutionieren.‘ ‚Und was machen sie stattdessen?‘ ‚Sie finden ihr Betätigungsfeld in der Zirkulationssphäre.‘“ 59

Oder der Vortrag eines berühmten Künstlers in der Kunsthochschule:

„Sprechakte als Marktereignisse über den Planeten geschoben. Das Geschäftsfeld heißt performativer Ansatz oder performative turn.“ 60

Und ein Besuch in einer umgebauten Industriehalle, ein die „Chambers of Posthumus Fame. Nachruhm-Kammern.“ eingebaut wurden, kleine fensterlose Kubikel für Menschen, die verschwinden wollen. Dort gibt es auch „Kammern für Renegaten jeglichen {…} Kammern für Kommunisten einst konkurrierender Generallinien.“ 61.

Hellmann hat inzwischen in Morellis verlassener Wohnung Fragmente eines Adressbuchs gefunden, alles nur Adressen von Personen mit Anfangsbuchstaben K., ein Lateinlehrer, ein Zeitungsredakteur, ein Optiker, seine frühere Vermieterin, eine Stimmberaterin, eine Klavierlehrerin, eine Performerin. Die interviewt er nun nacheinander. Er erhält Auskünfte über Morellis Vergangenheit, aber keine über seinen derzeitigen Aufenthaltsort.

Im zweiten Teil wir nun aber deutlich, wohin Morelli verschwunden ist: nach Dubai, wo er die Endphase des dortigen Baubooms erlebt. Dort trifft er aber auch einen Schriftsteller. Das ergibt das „Kunstgespräch“ des Romans, in dem die Geheimnisse seiner Machart freigegeben werden. Der Schriftsteller empfiehlt Julio Cortazárs Methode:

Ironie, unablässige Selbstkritik, Inkongruenz, Phantasie in niemandes Diensten. {…} Du musst den Antiroman schreiben, ohne jede geschlossene Ordnung. Musst deine Leser zu Komplizen machen. Ihnen so etwas wie eine Fassade mit Türen und Fenster geben, nicht mehr. Dahinter werden sie jede Menge umaufgelöster Widersprüche {…} Sie werden hinter der Fassade mit Türen und Fenstern eine Welt aus Ruinen entdecken. Und jubilieren.“

Morelli entgegnet:

„Nur mit diesen Tricks schreibst du heute keine Erzählung. Die Form kann konventionell sein. Sie muss es nicht, sie kann. So konventionell, dass man verführt wird, in deine Geschichte einzutauchen. Und es eine Weile bei dir aushält. Brüche und Einbrüche musst du aufschieben. {…} Vor allem muss deine Erzählung eine Erzählung aus deiner Zeit sein, mit jeder Zeile. {…} Die Fassade ist die Konvention. Deine Ruinen sind nicht die Ruinen der Erzählform, das interessiert nur Theoretiker, sondern die Ruinen deiner Gegenwart. Wenn ich schreibe, berichte ich ja von Trümmern, von Staubwolken. Von der Jauche der Welt, in der ich lebe.“ 62

Dass dies nicht nur die selbstreferentiellen Pirouetten eines unentschlossenen Literaten sind, sondern wirklich das Vermächtnis des realen Peter Neitzke, wird immer wieder deutlich. Ein Gesprächspartner Hellmanns sagt zum Beispiel über Morelli:

„Sie wissen vielleicht, dass er irgendwann eine dieser linken Politsekten mitbegründet hat.“ 63

Und in einer der als „Fundsachen“ eingeschobenen Notizen Morellis heißt es:

„Morelli, hat ihm einmal einer gesagt, hier wird politisch argumentiert, nicht moralisch, moralisch war kleinbürgerlich, die eigene armselige Person ins Zentrum rückend, dein Name ist nicht Morali, hat der Parteisekretär einmal gesagt und dabei maliziös gelächelt, dein bürgerlicher Name ist Morelli, moralisch wird hier nicht argumentiert, um Moralisches ging es nicht, politisch war, die eigene Person in die Regie des Politischen zu nehmen, politisch war, die Leute danach zu beurteilen, wo sie standen, auf der richtigen oder der falschen Seite. Er ahnte, dass das grundfalsch war, riskierte aber mit den Genossen keinen Streit.“64

Vor dem Abschied aus der Wüste der Neubauruinen in Dubai zitiert Morelli im Selbstgespräch sich die Kritik der Trinitarischen Formel der Vulgärökonomie (Kapital, Boden, Arbeit) aus dem Dritten Band des Kapitals von Karl Marx 65, dass das wahre Reich der Freiheit nur auf dem Reich der Notwendigkeit als einer Basis aufblühen kann.

„Du suchtest hier dein privates Reich der Freiheit. Hat nicht geklappt, wie man sieht. Klappt nirgends, solange …“ 66

Schließlich treffen Hellmann und Morelli doch noch aufeinander, am Ostseestrand, verprügeln sich gegenseitig und spielen dann einträchtig auf Morellis Flügel [Peter Neitzkes Flügel] vierhändig Bill Evans Song „What are you doing the rest of your life?“. Morelli verweigert weiterhin die Biographie Hellmanns:

„Warum sollte er unbedingt sein Leben ausbreiten wollen, irgendeine Deprigeschichte.? {…} Eine Todesanzeige, falls sie denn jemand in die Zeitung gesetzt und ich sie (was sonst) zufällig entdeckt hätte, würde mich nicht erstaunen.“ 67

Am 13.5.2015, kurz vor dem Erscheinen dieses Romans, ist Peter Neitzke gestorben.

 

Literaturliste:

  • Marianne Brentzel, Rote Fahnen Rote Lippen. Roman. Edition Ebersbach, 2011
  • Helmut Lethen, Suche nach dem Handorakel. Ein Bericht. Göttingen: Wallstein, 2012
  • Alan Posener, „Was ich der KPD verdanke (1-3)“. starke-meinungen.de, 25.6.2013
  • Christian Semler, Kein Kommunismus ist auch keine Lösung. Texte und Essays. Hg. v. Stefan Reinecke und Mathias Bröckers. Berlin: taz, 2.Auflage, 2013
  • Peter Neitzke, Morelli verschwindet. Roman. Lohmar: Hablitzl, 2015
  • Willi Jasper, Der gläserne Sarg. Erinnerungen an 1968 und die deutsche „Kulturrevolution“. Berlin: Matthes & Seitz, 2018
  • Alexander von Plato, Verwischt. Eine Liebe in Deutschland 1989. Berlin: neobooks, 2019
  • Helmuth Lethen, Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Berlin: Rowohlt, 2020
  • Marianne Brentzel, Rathaussturm. Vechta: Geest-Verlag, 2021

Sekundärliteratur:

  • Andreas Kühn, Stalins Enkel, Maos Söhne. Die Lebenswelt der K-Gruppen in der Bundesrepublik der 70er Jahre. Frankfurt/M, New York, Campus 2004.
  • Benedikt Sepp, Das Prinzip Bewegung. Theorie, Praxis und Radikalisierung in der West-Berliner Linken 1961-1972. Göttingen: Wallstein, 2023
  • Klaus Birnstiel, „Gelehrtenexoterik. Einige akademisch-intellektuelle Erinnerungs- und Notizbücher.“ in: Merkur 67 (2013), S. 354-360.

 

  1. 16.5.1941-31.3.2022
  2. -17.12.2022
  3. 11.6.1945-3.2.2023
  4. 31.5.1943-15.3.2023
  5. Elisabeth Weber war 1970 der führende Kopf der Roten Zelle Germanistik an der Berliner FU und dann bis 1980 Mitglied der Leitung der KPD(ehemals AO). Nach 1980 war sie Mitarbeiterin verschiedener Bundestagsabgeordneter der „Grünen“ und entscheidend beteiligt an der Vorbereitung der Fusion von Bündnis 90 und „Die Grünen“. Nachruf Böll-Stiftung, Nachruf Havemann-Gesellschaft
    Ruth Henning war ebenfalls Mitglied des ZK der KPD(ehemals AO). Nach 1980 unterstützte sie die polnische Opposition, lebte zeitweise in Polen und gründete die Deutsch-Polnische Gesellschaft Brandenburg. Nachruf Märkische Oderzeitung
    Willi Jasper war 1976-1980 Chefredakteur der „Roten Fahne“, der Wochenzeitung der Partei. Seit 1994 war er Professor für Neuere deutsche Literatur- und Kulturgeschichte und Jüdische Studien an der Universität Potsdam. Gespräch Deutschlandfunk 2022
    Antje Vollmer, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags von 1994-2005, „trat der Partei {KPD-AO} nicht bei“ und war nur Mitglied der „Liga gegen den Imperialismus“, einer Tochterorganisation der KPD, hat aber durch ihre unter Pseudonym (Karin Bauer) veröffentlichte Biografie Clara Zetkins (Oberbaum Verlag, Berlin 1978) und einen Artikel zur Frauenfrage in der „Roten Fahne“ jedenfalls Einfluss auf die frauenpolitische Linie der Partei genommen. Nachruf taz
    Dass diese Personen hier vor allem in ihren Funktionen in den Jahren 1970-1980 erwähnt werden, bedeutet nicht, dass ihre späteren Tätigkeiten und Positionen nicht zu würdigen wären. Alle hier genannten haben nach 1980 bedeutende Beiträge zur Politik und Kultur in Deutschland geleistet, die hier nicht im Einzelnen erwähnt werden können. Was sind schon diese 10 Jahre gegen die 30 oder 50 folgenden!
  6. 7.12.1941-24.5.1995 Nachruf Südostasien Informationen
  7. 13.12.1938-13.2.2013 taz Übersicht über Nachrufe, Drei taz-Erinnerungen
  8. 21.8.1938-15.3.2015 Nachruf Bauwelt
  9. Jürgen Horlemann, Christian Semler und Peter Neitzke waren das Gründungs-Triumvirat der KPD-Aufbauorganisation, die Ende 1969 aus der Auflösung des Berliner SDS und der RPK-Konferenz hervorging. Die KPD-AO wurde auch spöttisch „Semler-Horlemann-Neitzke-Gruppe“ genannt.
  10. Eine ausführliche Darstellung der K-Gruppen, einschließlich der KPD-AO, als Gegenstand historischer Forschung ist: Andreas Kühn, Stalins Enkel, Maos Söhne. Die Lebenswelt der K-Gruppen in der Bundesrepublik der 70er Jahre. Frankfurt/M, New York, Campus 2004.
    Der Nachteil dieser aus zeitlicher und intellektueller Distanz zur ML-Bewegung geschriebenen Arbeit ist die Faszination des Autors für die abstoßenden Züge seines Gegenstands. Er sammelt alle verwerflichen oder verwunderlichen Praktiken und Auffassungen, die er finden konnte (und das sind zu Recht viele). Ein Bemühen, die Motive der damals Handelnden zu verstehen, außer in den distanzierten Formeln der Sozialpsychologie, geht ihm völlig ab. Zudem behandelt er die drei Organisationen KPD-AO, KPD/ML und KBW im Zusammenhang und wird damit der KPD(ehemals AO) vor allem in den letzten zwei Jahren ihrer Existenz nicht gerecht. Eine Einordnung in die politischen Entwicklungen in Deutschland und der Welt der 70er Jahre fehlt völlig (vgl. die Rezension von Thomas Dannebaum). Eine sehr viel tiefergehende Analyse der Entstehung der KPD-AO findet sich in der Dissertation von Benedikt Sepp, Das Prinzip Bewegung. Theorie, Praxis und Radikalisierung in der West-Berliner Linken 1961-1972. Göttingen: Wallstein, 2023. Sepp erklärt die fortschreitende Selbstverhärtung und Selbstabschließung der KPD-AO damit, dass im Gegensatz zur vorangehenden Studentenbewegung die Theorie als wahr und gültig vorausgesetzt wurde, und somit, wenn die „Bewegung“ weiter fortschreiten sollte, nur die unzureichende Umsetzung der Theorie in die Praxis als Erklärung möglich war. (Zur KPD-AO: S.270-303)
  11. Semler, S.32, taz 1998. Die abgekürzten Zitatnachweise verweisen auf die Literaturliste am Ende
  12. Der Schreiber dieser Zeilen war 1970 Mitglied der Roten Zelle Germanistik der FU Berlin, dann bis 1976 des Kommunistischen Studentenverbandes (KSV), danach Mitarbeiter der Zeitschriften „Kämpfende Kunst“, „Kunst und Gesellschaft“ und „Spuren“ und 1978-1980 Kulturredakteur der Wochenzeitung „Rote Fahne“ der KPD(ehemals AO).
    Meine Aufgabe war die Öffnung der Zeitung zur allgemeinen Öffentlichkeit. Also schrieb ich vor allem Rezensionen von aktuellen Filmen und Romanen. Meine Artikel waren insofern erfolgreich, als sie viele empörte Leserbriefe nach sich zogen. Schließlich gab es im Umkreis der Partei viel kompetentere Beurteiler als diesen wenig belesenen Jungspund.
    Der Satz „war nie Mitglied der Partei“ hat in Deutschland eine anrüchige Tradition, aber in diesem Falle ist er unvermeidlich. Ich war in verschiedenen Funktionen subalterner Mitarbeiter der Parteizentrale in Dortmund und dann in Köln, ohne Mitglied der Partei zu sein. Als man mir 1979 den Aufnahme-Antrag aushändigte mit der Bemerkung, ich sei nur vergessen worden, hatte ich mit der „Rote Fahne“-Redaktion bereits für die Auflösung der Partei plädiert und gab das Formular nicht zurück.
  13. Lethen, Handorakel, S. 11
  14. ehemaliges  Mitglied der regionalen Leitung Nordrhein-Westfalen der KPD und Mitglied der Parteidelegation in China 1979
  15. Brentzel, S.175
  16. Semler S. 80, taz 2001
  17. In seiner 2020 erschienen Autobiographie „Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Erinnerungen“ greift Lethen für die hier interessante Phase von 1969 bis 1980 auf seinen älteren „Bericht“ zurück und fügt wenig Neues hinzu.
  18. Lethen, Handorakel S. 72
  19. Lethen, Handorakel S.21
  20. Lethen, Handorakel, S.25
  21. Lethen, Handorakel, S. 27
  22. Lethen, Handorakel, S. 14
  23. Lethen, Handorakel, S. 13
  24. „Die erste Etappe des Aufbaus der Kommunistischen Partei des Proletariats“ Thesenpapier von Semler, Horlemann, Neitzke, Hartung, Chr. Heinrich, Jasper. Darstellung des Ablaufs der Konferenz, in: Karl-Heinz Schubert, „Zur Geschichte der westberliner Basisgruppen“, aus: Aufbruch zum Proletariat. Dokumente der Basisgruppen, eingeleitet und ausgewählt von Karl-Heinz Schubert, Westberlin 1988
  25. Die Partei aufbauen. Plattformen, Grundsatzerklärungen. Berlin, 1971
  26. Alan Posener, Was ich der KPD verdanke 1-3. starke-meinungen.de
  27. Alan Posener, Was ich der KPD verdanke 3. starke-meinungen.de
  28. zit. bei Jasper, S. 53
  29. Lethen, Handorakel S. 19. Die erste deutsche Ausgabe der Schriften des Bühnenbildners und Theaterreformers Edward Gordon Craig (1872-1966) wurde 1969 von den späteren KPD-AO Gründungsmitgliedern Elisabeth Weber und Dietrich Kreidt herausgeben: Edward Gordon Craig,über die kunst des theaters. Berlin: Gerhart Verlag, 1969
  30. Jasper, S.58-63
  31. Jasper, S.133
  32. „Der Apparat war ein selbstdestruktiver Trichter, der Bewegungsenergien im Selbstlauf von Wiederholungen im Inneren verschlang, aber in der unübersichtlichen Situation der 70er Jahre stabilisierende Wirkung nach außen hatte.“ Lethen, Handorakel, S.18
  33. Jasper, S.33
  34. Lethen, Handorakel,S. 18
  35. Wir warn die stärkste der Partein… Erfahrungsberichte aus der Weit der K-Gruppen, Berlin 1977
  36. Michael Rutschky, Erfahrungshunger. Ein Essay über die siebziger Jahre. Köln: Kiepenheuer& Witsch, 1980. Ist „Germanist L.“ in Rutschkys Darstellung des Germanistentags in Berlin 1968 im ersten Kapitel des Essays wirklich Helmut Lethen?
  37. Posener, Teil 3
  38. Semler, S. 167
  39. Semler, S. 34-36
  40. Walter Benjamin, Illuminationen S. 413, zit. bei Lethen, Handorakel S.51f
  41. (*1942). Seine Dissertation Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik. KPD und Komintern, Sozialdemokratie und Trotzkismus. Oberbaumverlag, Berlin 1973 prägte das historische Verständnis der KPD-AO-Kader entscheidend. Er war dann Leiter des Jugendverbandes KJVD der KPD.
  42. v. Plato, S. 302f
  43. v.Plato, S. 304
  44. von Plato, S.283f
  45. v. Plato S. 312
  46. Der Liberale Studentenbund Deutschlands war eigentlich der Studentenverband der FDP, hatte sich aber bereits in den 60er Jahren von der FDP gelöst und verstand sich als Bestandteil der „sozialistischen Opposition.“
  47. Brentzel, Rote Fahnen S.102
  48. a.a.O. S.141
  49. a.a.O. S.142
  50. a.a.O., S. 157
  51. a.a.O., S. 160
  52. a.a.O., S.209
  53. Die nicht, wie im Klappentext steht, von der Partei „diktiert“ ist, sondern auch von ihr gewollt. Ihr erste Reaktion auf die Feststellung der Schwangerschaft beim Gynäkologen ist „Das will ich nicht, kein Kind und keine Herztöne.“ Später wiederholt sie „Ich will es {die Abtreibung} auch“ S.202
  54. a.a.O., S.226
  55. ✝︎2017
  56. vgl. die Rezension von Andreas Platthaus in Frankfurter Allgemeine Zeitung 12.5.2015
  57. Neitzke, S.24
  58. a.a.O, S. 57
  59. a.a.O., S. 32
  60. Oa.a.O., S. 34
  61. a.a.O., S.45-47
  62. a.a.O. S.118f
  63. a.a.O, S. 76
  64. a.a.O, S.51
  65. Karl Marx, Das Kapital Bd. III. 48. Kapitel, in: MEW Bd. 25, S. 828
  66. a.a.O., S.125
  67. a.a.O., S.139