In der Folge der Diskussion über Theaterkritik nach der Hundekot-Attacke auf die Tanzkritikerin Wiebke Hüster, hat Thomas Rothschild in einem Nachtkritik-Kommentar zu einem Essay Christine Wahls nach der Begründung von Theaterkritik gefragt:
„Was mir fehlt, ist eine Begründung dafür, dass Schauspielern, Regisseuren, Choreographen abverlangt wird, was den meisten Berufsgruppen erspart bleibt. Dass den Künsten Kritik gegenübersteht, ist ja kein Naturgesetz. Es ist eine historisch entstandene Tradition, die man begrüßen kann, aber nicht muss.“
Im Folgenden ein kleiner Begründungsversuch:
Es gib keine Kritik der Müllabfuhr und keinen Applaus für sie. Aber die Ranking-Mode breitet sich überall aus, auf Kaffeemaschinen, Software, Ärzte, Romane, Filme usw. Andreas Reckwitz hat das als Symptom der Gesellschaft der Singularitäten analysiert. Auch das Genre der Rezension breitet sich ausgehend von der Literatur in alle Bereiche aus. (Lehrerkritiken gibt es in jeder Abiturzeitung.) Aber für die Theaterkritik gibt es andere Begründungen, unabhängig von der gegenwärtigen Veränderung der Kommunikationsstrukturen durch das Internet.
Zum einen ist Theaterkritik Kunstkritik. Kunstrezeption provoziert ästhetische Urteile. Man kommt nicht aus einer Kunstausstellung heraus, ohne sie gut oder schlecht oder irgendwie gefunden zu haben. Ästhetische Urteile (da kommt man an Kant nicht vorbei) sind keine allgemeingültigen Urteile über Tatsachen, sondern sie tun nur so, als ob sie allgemeingültig seien, sie „sinnen Zustimmung nur an“. Sie fordern Widerspruch und Diskussion heraus.
Zum anderen ist Theaterkritik die Kritik eines kollektiv erlebten öffentlichen Ereignisses. Man geht nicht vereinzelt im eigenen Tempo in einem Raum von Kunstobjekten, sondern man erlebt eingepfercht neben anderen die simultane Gegenwart von Schauspielern. Das erhöht den Gesprächsbedarf im Vergleich zu anderen Kunstformen. Zuschauer entscheiden gelegentlich über einen möglichen Theaterbesuch anhand von Kritiken, aber sie gleichen auch ihr Erlebnis eines Theaterbesuchs mit der Bewertung durch eine professionelle Kritik ab. Theateraufführungen diskutierbar zu machen, ist auch eine Begründung für Theaterkritik. Das ist die Leistung, die sie für Zuschauer erbringt.
Dass die Theatermacher wie alle Künstler abwertende Urteile über ihre Werke nicht mögen, ist verständlich. Kunst will Affirmation. Aber die Einsicht, dass die Kunst nur Bedeutung hat, wenn sie in den offenen gesellschaftlichen Diskurs gerät, dürfte auch jedem Künstler klar sein, auch wenn er im Schaffensprozess sich nicht daran orientiert. Dabei muss es auch abwertende ästhetische Urteile geben. Wenn es nur zustimmende Urteile im öffentlichen Diskurs gäbe, würde die diskursinitiierende Funktion von Kritik beschränkt. Man kann die alte Regel, Verrisse kurz, Hymnen lang, beherzigen, aber die Achtung vor den Künstlern sollte durch die Erlebenskomponente (d.h. den Ärger des Rezensenten) nicht völlig verdrängt werden.
Eine unterhaltsame Satire der „Positivgesellschaft“ lieferte übrigens Rebekka Kricheldorfs Theaterstück „Homo empathicus“ schon 2014.