Gibt es eine Philosophie des Theaters? Teil 1

Rezension von:  Tom Stern (ed.), The Philosophy of Theatre, Drama and Acting. London/New York: Rowman & Littlefield, 2017. 209 pages

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Teil 1 von 5: Einleitung

In Deutschland gibt es eine Wissenschaft des Theaters, aber keine Philosophie des Theaters. Philosophie und Theater – dabei denkt man in Deutschland an Simmel 1 und Plessner (oder Schiller und Hegel), nicht an Autoren von heute 3. Die Theaterwissenschaft beansprucht, alles philosophische Gedankengut in sich aufgenommen zu haben. Was kann die Philosophie selbst angesichts der Ausdifferenzierung der Wissenschaften mit ihrer „Inkompetenzkompensations-kompetenz“ 4) noch leisten? Kann es eine philosophische Ästhetik des Theaters noch geben oder bleibt nur noch Performanztheorie oder Aisthesis?5

Das entscheidet sich an der Konzeption von Philosophie, am Selbstverständnis der Philosophie. Und so sehr man über die Anglisierung der deutschen Philosophie klagen mag, über die Usurpierung der Philosophielehrstühle durch Vertreter der analytischen Philosophie – die Philosophie des Theaters (und die muss es auch geben, wenn auch der Weingenuss Gegenstand ernsthafter philosophischer Bemühungen ist 7) hat diese Tendenz noch nicht erreicht.

“Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück. […] Der Begriff der übersichtlichen Darstellung ist für uns von grundlegender Bedeutung.“Das hat natürlich kein deutscher Theaterphilosoph oder -wissenschaftler geschrieben, sondern der (österreichische) Begründer der englischen analytischen Philosophie, Ludwig Wittgenstein. Wenn es die Aufgabe der Philosophen ist, Begriffe zu analysieren und zu klären 9, haben sie beim Nachdenken über das deutsche Theater und seine Wissenschaft noch einiges zu tun 10.

Der Londoner Philosophie-Dozent Tom Stern arbeitet daran,  eine Verbindung zwischen Philosophie und Theater herzustellen. Nach seiner Einführung „Philosophy and Theatre11hat er nun einen Sammelband herausgegeben mit dem Titel „Philosophy of Theatre, Drama and Acting“, der einige der wichtigsten Autoren der englischsprachigen Theaterphilosophie mit neuen Aufsätzen zu Wort kommen lässt 12.

Alain Badiou hat drei Typen des Verhältnisses von Philosophie und Kunst dargestellt 13:

  • das didaktische Konzept, danach ist die Kunst nur der Schein der Wahrheit, nie die Wahrheit selbst, deshalb ist sie gefährlich (Platon),
  • das romantische Konzept: Nur die Kunst kennt die Wahrheit (Heidegger),
  • das klassische, der Kompromiss: Kunst vermittelt keine Wahrheit, nur Wahrscheinliches, aber das ist nicht schlimm (Aristoteles).

Badiou meint, diesen drei Modellen ein viertes, eigenes entgegenstellen zu können: die Kunst erzeuge ihre eigenen, irreduziblen Wahrheiten. Von solchen systembildenden Schematisierungen sind die Autoren von Sterns Sammelband weit entfernt. Hier werden wirklich einzelne Begriffe analysiert und geklärt. Was meinen wir genau, wenn wir von Partizipation, Aufmerksamkeit, Maske, Fokus, Fiktion usw. sprechen?

In seiner Einleitung stellt Stern drei Anwendungsbereiche dieser Sorte von Theaterphilosophie heraus:

  • Zunächst überraschenderweise die Aufklärung der Philosophie über sich selbst durch die Reflexion auf das Theater. Die Philosophie lernt vom Theater, was sie ist.
  • Dann aber auch die Umkehrung: Das Theater lernt von der Philosophie,
    • und zwar einerseits klärt die Philosophie die Schauspieler darüber auf, was sie eigentlich tun,
    • und andererseits klärt die Philosophie die Zuschauer darüber auf, wie man am besten zuschaut14.

Hier aber sollen anhand der Aufsätze des Bandes vier Fragen untersucht werden:

  • Wie gestaltet sich das Verhältnis von Theater und Philosophie (nochmal)? (Teil 2)
  • Was zeigt uns das Theater (an sich, nicht ein bestimmtes Stück oder eine bestimmte Inszenierung oder Vorstellung) über das Leben (an sich)? (Teil 3)
  • Welche Art von Kunst ist das Theater, vor allem das der Gegenwart? (Teil 4)
  • Was kann die Theaterkritik von der Philosophie des Theaters lernen? (Teil 5)

  1. Georg Simmel, „Zur Philosophie des Schauspielers“, in: G.S., Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse. hg. v. Michael Landmann, Frankfurt/M: Suhrkamp, 1987, S.75-95. Dies ist ein Text aus dem Nachlass. Zu Lebzeiten veröffentlichte Aufsätze Simmels sind: „Zur Philosophie des Schauspielers“, Der Morgen1908, „Über den Schauspieler. Aus einer Philosophie der Kunst“, Der Tag 1909, „Der Schauspieler und die WirklichkeitBerliner Tageblatt 1912. ↩︎
  2. Helmuth Plessner, „Zur Anthropologie des Schauspielers (1948)“, Gesammelte Schriften Bd. VII Ausdruck und menschliche Natur.Frankfurt/M: Suhrkamp, 1982 ↩︎
  3. Natürlich gibt es rühmliche Ausnahmen, z.B. Christoph Menke und Juliane Rebentisch ↩︎
  4. Odo Marquard, „Inkompetenzkompensationskompetenz? Über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie“ Vortrag München 1973, in: O.M., Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart: Reclam, 1981 S.23-38 ↩︎
  5. vgl. Doris Kolesch, „Ästhetik“ in: Erika Fischer-Lichte e.a. (Hg.), Handbuch Theatertheorie. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2. Aufl. 2014, S.6-13 ↩︎
  6. Tobias Rosefeldt (FAZ) über Manfred Franks Klage↩︎
  7. Barry C. Smith (ed.), Questions of Taste. The philosophy of wine. Oxford: Oxford University Press, 2007 und David Edmonds & Nigel Warburton, „Barry Smith über Wein“, in: D.E. & N.W., Philosophy Bites. 25 Philosophen sprechen über 25 große Themen.Stuttgart: Reclam 2013, S. 166-174 ↩︎
  8. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1967 (zuerst 1958), S.67, 69 ↩︎
  9. “Philosophers typically deal in arguments (…). They also analyze and clarify concepts.“ Nigel Warburton, Philosophy. The Basics. London: Routledge, 3rd ed. 1999. p.2 ↩︎
  10. Was an der Theaterwissenschaft grundsätzlich stört, ist der wertende Gebrauch des Adjektivs „neu“, für die Philosophie ist das standardisierte Wertadjektiv „wahr“. ↩︎
  11. Tom Stern, Philosophy and Theatre. An Introduction. London and New York: Routledge, 2014 ↩︎
  12. Die deutsche Theaterwissenschaft scheint wie das deutsche Stadttheater eine nationale Besonderheit zu sein, trotz ihrer demonstrativen Internationalität. Nur die historisch arbeitenden Autorinnen des besprochenen Bandes, Jennifer Ann Bates und Kristin Gjesdal, sowie Tom Stern beziehen sich auf deutschsprachige Autoren: A.W. Schlegel, Hegel und Nietzsche. Nur bei zwei Aufsätzen tauchen ins Englische übersetzten Arbeiten von Erika Fischer-Lichte im Literaturverzeichnis oder in Anmerkungen auf, allerdings auch dort ohne dass sie in die Argumentation des Haupttextes einbezogen würden. Marvin Carlson versucht in seiner Einleitung zur amerikanischen Ausgabe von Fischer-Lichtes „Ästhetik des Performativen“ ausführlich zu erklären, warum in Deutschland das Theater im Mittelpunkt der „performance studies“ steht, während in den USA alle möglichen anderen öffentlichen Vorstellungen, Reden, Ereignisse untersucht werden. Carlson weist zu Recht auf die unterschiedlichen Kulturen als Grund dieser Differenz hin. Selbst für den in den USA seltenen Theatergänger sei eine Broadway-Show das Standardbeispiel von Theater, während in Deutschland wahrscheinlich eine Castorf-Inszenierung in Berlin das Paradigma abgebe. (Marvin Carlson, „Perspectives on performance: Germany and America“, in: Erika Fischer-Lichte, The transformative power of performance. A new aesthetics. trsl. by Saskia Iris Jain. New York: Routledge, 2008, pp.1-10) Hinzu kommt, dass das von Tom Stern und seinen Mitautoren betriebene Projekt einer Philosophie des Theaters teilweise unabhängig von  und vielleicht sogar in Konkurrenz zu den amerikanischen „performance studies“ betrieben wird. ↩︎
  13. Alain Badiou, Kleines Handbuch zur Inästhetik, 2. Auflage. übers.v. Karin Schreiner. Wien: Turin + Kant, 2012 (frz. Petit Manuel d’Inesthétique. Paris: Editions du Seuil, 1998), S.9-21 ↩︎
  14. Tom Stern (ed.), The Philosophy of Theatre, Drama and Acting. London/New York: Rowman & Littlefield, 2017. im Folgenden zitiert als PTDA, pp.9-11↩︎

Gibt es eine Philosophie des Theaters? Teil 2

Rezension von: Tom Stern (ed.), The Philosophy of Theatre, Drama and Acting. London/New York: Rowman & Littlefield, 2017. 209 pages

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Teil 2 von 5: Das Theater und die Philosophie

Auch wenn die klassische Philosophie sich wenig mit dem Theater (nicht zu verwechseln mit dem Drama) auseinandergesetzt hat, als Metapher war das Theater in der Philosophie immer präsent1. Als eigene Kunst aber fand Theater, unabhängig vom Drama, wenig Beachtung. Hegel hatte für die Schauspielkunst nur herablassende Nebenbemerkungen übrig. Nur als „Instrument, auf welchem der Dichter spielt“2 ist der Schauspieler ein würdiger Künstler, während nur „ganz schlechte Produkte (…) Gelegenheit für die freie Produktivität des Schauspielers“ bieten 3.

Jennifer Ann Bates, eine amerikanische Hegel-Kennerin, findet dementsprechend einen Zugang von Hegels Philosophie zu einem Theatertext: Shakespeares „Merchant of Venice“4. Sie parallelisiert Hegels Entwicklungsphasen der Vernunft, v.a. der beobachtenden Vernunft aus der „Phänomenologie der Geistes“, mit der Wahl der drei Kästchen, die Portias Bewerber absolvieren müssen, und wendet eine Formulierung aus Hegels Naturphilosophie vom „Innersten des Inneren“, der dialektischen Trias von Universalität, Partikularität und Individualität5, auf Belmont, Portias Herrschaftsbereich, an6. Sie glaubt, mit Hilfe von Derridas sprachspielerischem Begriff der „relevant translation“7, (frz. „traduction relevante“, dt. „relevante, d.h. aufhebende Übersetzung“) die gefährlichen Ambivalenzen von Shakespeares Stück auflösen (im hegelschen Sinne „aufheben“) zu können. Für die Interpretation von Shakespeares Drama heißt das: Wenn Shylock böse ist, liegt es nicht nur an ihm, sondern auch an der venezianischen Gesellschaft. Ein ziemlich vorhersehbares Ergebnis.

Und das Ergebnis der Untersuchung des Verhältnisses von Philosophie und Drama ist auch nur, dass die Entwicklungsstufen des absoluten Geistes, Kunst, Religion und Philosophie, keine Rangfolge darstellen, sondern dass die Philosophie die Kunst, und zwar das Drama als dessen höchste Form, ebenso benötige wie das Drama die Philosophie. Der komplizierte Beweisgang verbleibt aber völlig hermetisch verschlossen im begrifflichen Kosmos von Hegels Philosophie. Auch das Literaturtheater hat solche Philosophie nicht nötig.

Tom Sterns eigener Beitrag in seinem Sammelband8 untersucht die umgekehrte Richtung: was das Theater für die Philosophie bedeutet, am Beispiel Nietzsches. Nietzsches elegantes Begriffsfeuerwerk wird von Stern in seine einzelnen Funkenträger zerlegt. Und natürlich findet er Widersprüche. Nietzsche empfiehlt dem Philosophen, sich hinter einer Maske zu verbergen, andererseits warnt er davor, dass der Philosoph sich wie ein Schauspieler9 benehme.10 Stern löst diesen Widerspruch auf, in dem er drei Arten von Schauspielerei unterscheidet11: die immersive, die gymnastische und die marionettenhafte.

  • – Als immersiver Schauspieler macht man sich das Innenleben der Figur zu eigen, geht völlig in ihren Emotionen auf12.
  • – Als gymnastischer Schauspieler stellt man das mit dem Publikum verabredete Zeichen für eine bestimmt Emotion bewusst her, ohne dieses Gefühl selbst zu empfinden13.
  • – Als marionettenhafter Schauspieler agiert man wie eine Puppe, rein körperlich, ohne innere Beteiligung14.

Nietzsche warnt offensichtlich vor dem ersten Schauspieler, der sich als „Märtyrer der Wahrheit“ darstellt und ganz dem Beifall des Publikums verfallen ist, und empfiehlt dem Philosophen, auf der Bühne des philosophischen Disputs maskiert aufzutreten – ein Versteckspiel um der Verpflichtung auf die Wahrheit willen, bei dem der Denker sich nicht selbst verliert. Indem Stern dabei Nietzsche ansatzweise zustimmt, warnt er vor der „naturalistischen“ Interpretation Nietzsches. „Das Unternehmen der naturalistischen Philosophie wird natürlicherweise die Möglichkeit seines Erfolges selbst untergraben.“15

 


  1. In Schellings „System des transzendentalen Idealismus“ z.B. wird das Verhältnis von Freiheit und Gesetzmäßigkeit der Geschichte durch das Bild eines Schauspiels, dessen Autor nur virtuell in den einzelnen Schauspielern vorhanden ist, anschaulich gemacht. F.W.J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus. Hamburg: Meiner, 1957 (zuerst Tübingen 1800), S.271. Auch Hegel verwendet die Metapher des Schauspiels oft, z.B. in seiner Einleitung zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. G.W.F. Hegel, Theorie Werkausgabe Bd. 12. Frankfurt/M: 1970, S.34-35 ↩︎
  2. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III. Theorie Werkausgabe Bd. 15. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1970 S.513 ↩︎
  3. ibid. S. 516 ↩︎
  4. Jennifer Ann Bates, „Hegel’s ‚Instinct of Reason‘ and Shakespeare’s The Merchant of Venice: What is a relevant Aufhebung of nature? of Justice?“ PTDA, pp. 15-41 ↩︎
  5. G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. Theorie Werkausgabe Bd.3. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1970, S.185-187 u. 233-262 ︎undG.W.F. Hegel, Enzyklopädie der Wissenschaften II. Theorie Werkausgabe Bd. 9. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1970 S. 22↩︎
  6. Terry Eagletons Interpretation des „Merchant of Venice“ zu lesen, ist hilfreich für das Verständnis von Bates’ Essay. Eagleton findet den Gegensatz zwischen Allgemeinheit und Besonderheit im Begriff des Rechts, den Shylock und Portia jeweils nach einer Seite hin auslegen (dabei jeweils verkehrt). Bates findet bei Hegel eine Aufhebung dieses Gegensatzes, eine Vermittlung auf höherer Ebene, und glaubt diese auch in Details von Shakespeares Text nachweisen zu können. Terry Eagleton, „Law: The Merchant of Venice“, in: T.E., William Shakespeare. London: Blackwell, 1986, pp.35-48 ↩︎
  7. Jacques Derrida, „What is a ‚relevant translation‘?“ Critical Inquiry27 (Winter 2001), p.174-200 ↩︎
  8. Tom Stern, „Nietzsche, the mask and the problem of the actor“, PTDA, pp.67-87 ↩︎
  9. Ich verwende hier das generische Maskulinum, wie es auch die meisten Autoren des Sammelbandes tun, obwohl im Englischen auch die weibliche Form „actress“ schon immer gebräuchlich ist. Alles, was in meinem Text über Schauspieler gesagt wird, gilt also auch für Schauspielerinnen. Eine nicht-feministische, aber an Lacan orientierte Differenzierung der Leistungen und Aufgaben von Schauspielerinnen und Schauspielern findet sich bei Alain Badiou, Rhapsodie für das Theater. Kurze philosophische Abhandlung. Wien: Passagen 2015, XLVI S.74-76 und LVIII-LX S. 86-90↩︎
  10. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, § 25: „Seht euch vor, ihr Philosophen und Freunde der Erkenntnis,(…) Flieht in’s Verborgene! Und habt eure Maske und Feinheit, dass man euch verwechsele! (…) Das Martyrium des Philosophen, seine »Aufopferung für die Wahrheit« zwingt an’s Licht heraus, was vom Agitator und vom Schauspieler in ihm steckte; und gesetzt, dass man ihm nur mit einer artistischen Neugierde bisher zugeschaut hat, so kann in Bezug auf manchen Philosophen der gefährliche Wunsch freilich begreiflich sein, ihn auch einmal in seiner Entartung zu sehn (entartet zum »Märtyrer«, zum Bühnen- und Tribünen-Schreihals).“ ↩︎
  11. PTDA, pp. 71-74 ↩︎
  12. vgl. Stanislawski. Stern nennt diesen Typus von Philosophen einen “Wagnerian entertainer“ PTDA, p.78 ↩︎
  13. vgl.Diderot↩︎
  14. vgl. Kleist ↩︎
  15. “The pursuit of the naturalist philosophy will naturally undermine the possibility of its successful pursuit.“ PTDA, p.83 ↩︎

Tom Stern über Philosophie und Theater

  • Tom Stern, Philosophy and Theatre. An Introduction. London and New York: Routledge, 2014

Philosophie und Theater scheinen in Deutschland ein inniges Verhältnis zu haben. Philosophisches Assoziationsmaterial findet sich in allen Programmheften. In Theaterwissenschaft und Dramaturgenprosa beruft man sich gerne auf Nietzsche, Foucault, Derrida, Rancière, Flusser oder Žižek. Dabei wird die Philosophie aber überwiegend als Legitmationsresource für das Theater oder für eine bestimmte Auffassung von Theater eingesetzt. Selten wird das Theater von der Philosophie selbst, von ihrem eigenen, unabhängigen Standort aus, in den Blick genommen.

Nun gibt es eine Einführung in das Verhältnis von Philosophie und Theater, geschrieben von einem englischen Philosophen, der nur als Zuschauer in den Theaterbetrieb verwickelt ist. Tom Stern ist Senior Lecturer am Londoner University College, seine Spezialgebiete sind die antike Philosophie und Nietzsche1. Sein Ausgangspunkt ist die englischsprachige analytische Philosophie. Und dort ist es durchaus üblich, die Philosophiegeschichte als eine Folge von Fußnoten zu Platon und Aristoteles zu betrachten 2. Tatsächlich führt Stern fast alle Auseinandersetzungen darüber, was das Theater ist, soll, will oder darf, auf den Gegensatz zwischen diesen beiden Altvorderen der Philosophie zurück.

Andererseits verweist er auf die, nicht allzu umfangreiche, neuere Literatur über das Theater im Bereich der analytischen Philosophie. Und verfährt nach den dort üblichen Methoden: Probleme werden benannt, Argumente gesammelt, geordnet, überprüft und nach schlichten Plausibiltätskriterien bewertet, ohne deutsche systembildende Begriffshuberei oder französische subversive Verwirrungskunst.

Es ist eine Einführung, entstanden aus Seminaren für Studienanfänger. Die naiven Fragen durchschnittlicher Theaterbesucher bilden den Ausgangspunkt. Die Antworten auf diese Fragen aber werden schrittweise in voller Komplexität und mit historischer Schärfentiefe entfaltet. Tom Sterns pädagogische Ausbildung hilft dabei: alle Argumente werden fein säuberlich nummeriert und nach Sichtung von Für und Wider wird eine Schlussfolgerung gezogen.

Tom Stern kennt sehr wohl die aktuellen Debatten in der englischsprachigen Theaterwissenschaft über den „Kampf gegen die Hegemonie des Textes“. Bei seiner Arbeitsdefinition von Theater, „an artistic event that takes place in a particular location with mutually aware performers and spectators engaged income kind of play“ 3, zeigt er genau, wie das aktuelle Theater jedes einzelne Element dieser Definition isoliert und so die Grenzen des im Theater Möglichen austestet („Theater, das nicht Theater sein will“ Th. Oberender). Aber den Schwerpunkt seiner Untersuchungen bildet das textbasierte Theater, das er immer noch als die dominate Form versteht.

Mimesis

In seinem Kapitel über Mimesis unterscheidet Stern zwischen Mimesis als Nachahmung und als Vorstellung. Dadurch wird deutlich, dass auch die Zuschauer im Theater eine mimetische Tätigkeit ausüben. Stern unterscheidet zwischen sinnlicher Vorstellung („sensory imagination“), dass ich mir etwas bildlich vorstelle, und propositionaler Vorstellung („propositional imagination“), dass ich mir vorstelle, etwas sei wahr oder falsch 4. Beide gehören zu den mimetischen Tätigkeiten des Zuschauers: sowohl die Fantasieleistung, dass ich den Geist von Hamlets Vater sehe, obwohl er nur von einem Schauspieler beschrieben wird, als auch die Fantasieleistung, dass ich es für wahr halte (im Rahmen der Fiktion des Theaterstückes), dass Hamlets Vater gestorben ist, obwohl ich mir zu Beginn des Stückes noch kein genaues Bild davon machen kann, wie. So komplexe gedankliche Turnübungen vollführt der angeblich passive Zuschauer oder die Zuschauerin schon zu Beginn einer Vorstellung von Hamlet (sofern ihn oder sie nicht schon die ersten Minuten der Inszenierung eingeschläfert haben oder er sich gerade die Vorderseite der Dame in Reihe 3, Platz 52, deren Rücken er leider nur sieht, vorstellt oder sie darüber nachdenkt, ob Ophelias Kostüm ihr selbst auch stehen würde).

Außerdem gehört für Stern das Spiel in Fantasiewelten („make-believe“ oder „play-acting“) zu den mimetischen Tätigkeiten. Stern diskutiert dabei Kendall Waltons Auffassung, dass Kunstrezeption generell eine Art von vereinheitlichtem, regelgeleitetem Spielverhalten ist, in dem wir uns so verhalten, als wären bestimmte Dinge der Fall, von denen wir wissen, dass sie nicht der Fall sind („unified, rule-bound make-believe“ 5). So könnte man ja die Tätigkeit der Schauspieler und Schauspielerinnen beschreiben. An die Komplexität dieses Begriffs von Mimesis zu erinnern ist nützlich angesichts der Polemiken gegen ein Theater, das sich als Mimesis versteht 6. Auch die gängige Gleichsetzung von Mimesis und Repräsentation, die vor allem auf Rancière zurückzugehen scheint 7, wird durch Sterns Analyse des Begriffs korrigiert .

Wenn heute die Schauspieler nicht mehr „make-believe“ (Kinderspiel) spielen wollen, die Zuschauer nicht mehr die Mühe der Fantasie des Sich-bildlich-Vorstellens und Für-Wahrhaltens auf sich nehmen wollen, ist das Fantasiefaulheit oder überinformierte Gewitztheit? Keine andere Kunstform kann so komplexe Verschränkungen von verschiedenen Mimesis-Arten hervorbringen: das gilt sowohl für Shakespeare wie für Rimini-Protokoll. So gesehen ist das gegenwärtige Theater ein Experimentierkasten für die Kombinationsmöglichkeiten verschiedener Mimesis-Typen. Satt Mimesis als begrifflichen Popanz aufzurichten, den man dann mit donquichotesker Energie umstößt, entfaltet Tom Stern die komplexe Struktur dieses seit Jahrtausenden von der Literatur-und Theaterwissenschaft hin- und hergeworfenen Begriffs.

Wahrheit

Eng mit dem Begriffsstreit um Mimesis verbunden ist die Frage nach der Wahrheit auf dem Theater. Stern hält sich nicht lange mit einer Definition von Wahrheit auf, sondern geht einfach von einer Sottise von Bertrand Russell aus, der feststellte, Shakespeares Aussagen in Hamlet seien nicht wahr, weil es die Person Hamlet schließlich nie gegeben habe 8. Mit diesem referentiellen Begriff von Wahrheit lässt sich schnell die Behauptung abfertigen, das Theater würde uns wahre Erkenntnisse vermitteln. Auch implizite oder universelle Wahrheit lernen wir nicht im Theater. „We did not find a particular or special way in which we learn from theatre.“ 9 Es bleibt nur die Interaktion zwischen Zuschauer und Aufführung, eine gewisse Anregung zum Denken. 10 Das ist ein ernüchternder Befund, wenn man ihn mit den hochfliegenden Rechtfertigungen des Theaters als eines Zugangs zur „überlegenen“ 11 oder „sich offenbarenden Wahrheit“12 oder der Behauptung, Kunst sei ein „Wahrheitsverfahren“13, vergleicht.

Der Gegenbegriff zur Wahrheit ist die Illusion. Auch hier hält sich Stern aus der Bewertung heraus und analysiert erst einmal genau, was den mit diesem Begriff im Theater gemeint sein kann. Er unterscheidet vier Typen von Illusion: die optische Illusion (wie sie auch außerhalb des Theaters vorkommt), die Bühnenbildillusion (vorgetäuschte Materialien), die Zauberer-Illusionen („Houdini-type tricks“) und die durch die Schauspieler hervorgerufene Illusion (Verhüllung oder Enthüllung der Identität)14. Davon unterschiedet er die Trance, das Gebanntsein („being under the spell“), in das der Zuschauer gelegentlich verfällt. Dies ist ein freiwilliger Beitrag des Zuschauers, der auch jederzeit zurückgenommen werden kann, es ist das, was schon Samuel Coleridge „willing suspension of disbelief“ nannte 15.

Vergleicht man Sterns Analyse des Begriffs theatralischer Illusion mit dem Hans-Thies Lehmanns, zeigt sich, wie beliebig manchmal solche Begriffe gefüllt werden. Für Lehmann hat Illusion drei Aspekte: den Aspekt der Magie, den Aspekt des Eros und den Aspekt der Konkretisation16. Der Aspekt der Magie entspricht Sterns „Zauberer-Illusion“ („Illusionist Illusion“). Der Aspekt des Eros wird bei Stern im Kapitel „Emotionen“ abgehandelt. Für Lehmann ist es die „Identifizierung mit der sinnlichen Intensität der Schauspieler“. Der Aspekt der Konkretisation, das Füllen von Leerstellen (bei Stern „gap-filling“), ist für Stern nicht theatertypisch, da er auch im Alltag eine Rolle spielt. Aber Lehmann kommt es darauf an zu zeigen, dass „Illusion“ auch ohne Konkretisation möglich sei. Für ihn ist Konkretisation das Kennzeichen von Fiktion, der Schaffung einer fiktiven Welt auf der Bühne. Und das ist das Ziel seiner Begriffsanalyse (oder eher -synthese): zu zeigen, dass Fiktion im Theater überflüssig ist. Dass Konkretisation keine notwendige Bedingung des Theaters ist, darin sind sich zwar beide einig. Aber für Stern ist diese Konkretisation eine Vorstufe der viel umfassenderen Aktivität des Zuschauers als Teil theatralischer Mimesis. Für Lehmann ist Fiktion eine verzichtbare Zutat zu Eros und Magie des Theaters.

Moral und Emotion

Auch wenn das Theater keine Wahrheiten liefert, so kann es doch als Schule der Moral wirken, so die im deutschen Theater beliebte Rechtfertigung. Und wenn es auch keine verbindlichen moralischen Regeln geben sollte, so kann das Theater doch Emotionen hervorrufen und helfen, die Emotionen anderer zu verstehen. Doch beide Theorien lösen sich unter Sterns sezierendem Blick in ungelöste Einzelprobleme auf.

Die Frage der moralischen Wirkung des Theaters entfaltet Stern nach zwei Seiten: nach der Wirkung auf das Publikum und der auf die Schauspieler. Nach einem Durchgang durch alle Argumente der Debatte zwischen Rousseau und d’Alembert17 entlastet er das Theater von der Aufgabe der moralischen Besserung der Zuschauer. Und nach einer Überprüfung aller Argumente Diderots und Platons gegen die Unsittlichkeit und Hohlheit des Schauspielerberufs entlastet er auch die Schauspieler vom Vorwurf der Sittenlosigkeit. Dabei wird auch der in der aktuellen deutschen Theaterdiskussion so heißgeliebte Begriff der Authentizität demontiert: hinter ihm stehe ein statisches Bild des Menschen.18 Sterns Resümee am Ende des Kapitels „A school of morals?“ ist diesmal eindeutig: Die Annahme, dass das Theater als Ganzes die Menschen verderbe, sei genauso unwahrscheinlich wie die, dass es sie verbessert.19 Theater ist weder moralisch noch unmoralisch. Moralisch belanglos also.

Bleibt die emotionale Wirksamkeit des Theaters, die kaum bestritten werden kann. Aber wie kommt es dazu und worin besteht genau diese emotionale Wirkung? Stern identifiziert drei Probleme: Warum reagieren wir emotional auf Figuren, von denen wir wissen, dass sie nicht real sind? Warum haben wir Vergnügen an Abläufen, die uns im wirklichen Leben Angst einjagen?20 Was ist diese ominöse Katharsis, von der alle seit 2300 Jahren reden?21 Alle Fragen werden sorgfältig geprüft.

Für die erste Frage hat er eine pluralistische Lösung: Manchmal haben wir Mitgefühl für Menschen, von denen wir wissen, dass sie nicht existieren; manchmal vergessen wir die Wirklichkeit völlig und glauben, die Menschen auf der Bühne, mit denen wir fühlen, existierten wirklich; manchmal spielen wir uns selbst Gefühle vor, die wir gar nicht haben; manchmal haben wir gar kein Mitgefühl mit Menschen, sondern reagieren emotional auf ein Thema, das uns beschäftigt.22 Für die zweite Frage ist die Antwort ebenso pluralistisch: manchmal geht es um sadistischen Voyeurismus, manchmal um Anregung des moralischen Nachdenkens, manchmal Mitgefühl mit einem Unglücklichen einfach ein schönes Gefühl sein und manchmal ist eine Tragödie einfach grässlich. 23In der Diskussion über die Katharsis schlägt sich Stern vorsichtig auf die Seite derer, die vor einer Interpretation von Katharsis als moralischer Läuterung warnen.24

Die Argumente werden als Argumente vorgestellt und erst in den Anmerkungen findet sich ihre Herkunft aus der aktuellen englischsprachigen Literatur nachgewiesen. Aber Sterns Ergebnis bleibt immer unentschieden. Er nimmt nicht Partei, er stellt keine Forderungen. Er zeigt die Herausforderungen, die sich beim klärenden Nachdenken über das Theater ergeben. Wie es sich für eine philosophische Einführung gehört.

Politik

Stern sieht, wie viele andere Autoren auch, den strukturell politischen Charakter von Theater, ganz unabhängig davon, ob seine Inhalte politisch sind 25, deshalb untersucht er sowohl die politische Dimension von Theatertexten als auch von Theateraufführungen. Ausgehend von dem Beispiel von Caryl Churchills Drama „Seven Jewish Children“, das den israelisch-palästinensischen Konflikt behandelte, argumentiert er gegen Platons Kritik, die Künstler verfügten über kein Wissen und keine Qualifikation, politisch Stellung zu nehmen. Dagegen stellt er (mit Hegel26) die These , die politische Aufgabe des Theaters sei es, Fragen zu stellen und Aufmerksamkeit zu wecken. 27 Hier ist Stern nun doch sehr eindeutig. Für die deutsche Diskussion fehlt aber die Überlegung, wie weit diese politische Struktur des Theaters auch eine demokratische Struktur ist. Denn das ist der gängige Vorwurf an textbasiertes Theater auf der Bühne, dass es die Zuschauer zu passiven, im Zuschauerraum zur bloßen Kontemplation gefesselten Untertanen des Bühnengeschehens macht.

Den Abschluss von Sterns Einführung bildet ein Kapitel über Brechts politisches Theater. Das Ergebnis der Bewertung ist hier überwiegend negativ. Brecht wird auf die platonische Seite geschoben28, sein anti-aristotelisches Theater wird mit denselben Argumenten kritisiert, mit den Aristoteles Platons Abwertung der Kunst als „triton ap’ aletheias“ ablehnt. Seine Theaterpraxis wird als Beitrag zur Weiterentwicklung des Theaters gewürdigt. Seine Theatertheorie aber wird mit Eric Bentley als Mittel zur Steigerung der Aufmerksamkeit auf seine Stücke abgetan.29

Für englische Verhältnisse dürfte dieses Buch eine sehr brauchbare und anspruchsvolle Einführung in das Nachdenken über Theater sein. Für deutsche Verhältnisse ist es die Einführung in ein ganz anderes Nachdenken über Theater, als man es hier gewohnt ist. Vielleicht scheinbar naiver, aber dafür gedanklich präziser.

 

  1. http://sterntom.com ↩︎
  2. „The safest general characterization of the European philosophical tradition is that it consists of a series of footnotes to Plato.“ Alfred North Whitehead, Process and Reality (1929) Part II, Section I; https://archive.org/stream/AlfredNorthWhiteheadProcessAndReality/Alfred%20North%20Whitehead%20-%20Process%20and%20Reality_djvu.txt ↩︎
  3. Stern, p.6 ↩︎
  4. Stern, p.39 ↩︎
  5. Stern, p.40 ↩︎
  6. z.B. „At the centre of the critique (sic!) of dramatic theatre stood its use of however estranged mimetic representation, which was seen as discredited and was subsequently confronted with the notion of presence.“ Florian Malzacher, „No Organum to follow: Possibilities of political theatre today“, in: Florian Malzacher (ed.), Not just a Mirror. Looking for the political theatre of today. Berlin: Alexander Verlag, 2015 p.18 ↩︎
  7. “The aesthetic break has generally been understood as break with the regime of representation or the mimetic regime. But what mimesis or representation means has to be understood. What it means is a regime of concordance between sense and sense.“ Jacques Rancière, „Aesthetic Separation, Aesthetic Community: Scenes from the Aesthetic Regime of Art“. Art & Research. A Journal of Ideas, Contexts and Methods. Volume 2. No. 1. Summer 2008, http://www.artandresearch.org.uk/v2n1/ranciere.html, p.5 deutsch in : Friedrich Balke e.a. (Hg.), Ästhetische Regime um 1800. Paderborn: Fink, 2009 ↩︎
  8. Stern p. 49; oder Bertrand Russell: „The play ‚Hamlet‘ consists entirely of false propositions.“ in: An Inquiry into meaning and truth (1940). Die konträre Position findet sich bei Adorno: „Keine Aussage wäre aus Hamlet herauszupressen; dessen Wahrheitsgehalt ist darum nicht geringer.“ Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. (=Gesammelte Schriften Bd. 7). Frankfurt/M: Suhrkamp, 1970, S. 193 ↩︎
  9. Stern, p.70 ↩︎
  10. “we are talking about a kind of interaction between spectator and performance … a certain kind of provocation or stimulation to thought“, Stern p.54 ↩︎
  11. “So ist die Handlung eines Schauspiels (…) schlechterdings als etwas in sich selbst Beruhendes da. Sie lässt kein Vergleichen mit der Wirklichkeit als dem heimlichen Maßstab aller abbildlichen Ähnlichkeit mehr zu. Sie ist über allen solchen Vergleich hinausgehoben – und damit über die Frage, ob denn das alles wirklich sei -, weil aus ihr eine überlegene Wahrheit spricht.“ Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Tübingen: Mohr,41975, S.107 ↩︎
  12. „Sie (die Wahrheit der Kunst) ist weder die bestehende noch die ignorierte, sondern die bis eben unbekannte, die sich offenbarende Wahrheit.“ Adolf Dresen, „Wahrheitsagen“, in: A.D., Siegfrieds Vergessen. Kultur zwischen Konsens und Konflikt. Berlin: Ch. Links, 1992, S. 223 ↩︎
  13. Alain Badiou, Kleines Handbuch zur Inästhetik. Wien: Turin & Kant, 2012 (frz. 1998), S. 20 ↩︎
  14. Stern, p.62f ↩︎
  15. „that willing suspension of disbelief for the moment, which constitutes poetic faith“, Samuel Taylor Coleridge, Biographia Literaria (1817). Ch. XIV, ebook Project Gutenberg, 2004 p.347 ↩︎
  16. „An dem, was Illusion genannt werden kann, lassen sich bei näherem Hinsehen mindestens drei Aspekte unterscheiden. Es besteht aus dem Staunen über die möglichen Realität-Effekte (Aspekte der Magie); aus der ästhetischen und sinnlichen Identifizierung mit der sinnlichen Intensität der realen Schauspieler und Theaterszenen, tänzerischen Bewegungsformen und verbalen Suggestionen (Aspekt des – hellen oder dunklen – Eros); aus der inhaltlichen Projektion eigener Welterfahrung auf die vorgeführten theatralen Modelle, verbunden mit den mentalen Akten des „Ausfüllen der Leerstellen“ und der Einfühlung in die dargestellten Personen, wie die Rezeptionsäthetik sie analysiert, die mutatis mutandis im Zuschauerraum-Akt ebenso wie im Lese-Akt stattfindet (Aspekt der „Konkretisation“).“ Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater. Frankfurt/M: Verlag der Autoren, 1999, S. 191 ↩︎
  17. Jean-Jacques Rousseau, „Brief an d’Alembert über das Schauspiel“, in: J-J.R., Schriften hg. v. Henning Ritter. Bd. 1. Berlin: Ullstein, 1981, S.433-474 ↩︎
  18. Stern, S. 119 zur deutschen Debatte siehe u.a. Wolfgang Engler/Frank M. Raddatz, „Entfremdung verboten! Die Fallstricke des Authenitizitätsdikurses und die Freiheit des Spiels.“ Lettre International No. 114 Herbst 2016, S. 52-74. Eine sprachlich ganz andere, aber inhaltlich ähnliche Position vertritt mein kurzzeitiger Lehrer Hans Günther von Kloeden: „Freiheit und Echtheit bedingen sich gegenseitig.(…) So entsteht also Wahrheit aus Freiheit.“ in: Hans Günther von Kloeden, Grundlagen der Schauspielkunst II: Improvisation und Rollenspiel. Velber: Friedrich Verlag, 1967, S.24 ↩︎
  19. Stern, p. 123 ↩︎
  20. ohne Bezug zu Schillers in Deutschland kanonischer Abhandlung „Über den Grund des Vergnügen an tragischen Gegenständen“ von 1792 ↩︎
  21. ohne Bezug zu Wolfgang Schadewaldts in Deutschland epochemachenden Aufsatz „Furcht und Mitleid? Zur Deutung des aristotelischen Tragödiensatzes“ von 1955 ↩︎
  22. Stern ,p. 138 ↩︎
  23. Stern, S. 148 ↩︎
  24. Stern, p. 155 ↩︎
  25. vgl. „So ist das Theater denn in der Tat die politische Kunst par excellence, nur auf ihm, im lebendigen Verlauf der Vorführung, kann die politische Sphäre des menschlichen Lebens überhaupt soweit transfiguriert werden, dass sie sich der Kunst eignet.“ in: Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben. München, Piper, 81998 zuerst engl. The Human Condition 1958, S. 180; und „Isomorphie Politik/Theater“ Alain Badiou, Rhapsodie für das Theater. Kurze Philosophische Abhandlung. Wien: Passagen, 2015, S. 30 ↩︎
  26. „Das Kunstwerk (…) ist wesentlich eine Frage, eine Anrede an die widerklingende Brust, ein Ruf an die Gemüter und Geister.“ G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1970 (=Theorie Werkausgabe Bd. 13), S. 102 ↩︎
  27. “My point is that, by moving away from thinking about the political play as informing us towards thinking about it as demanding certain kinds of attention or thoughts we place different and perhaps less stringent demands on its creators. Playwrights may not deserve the authority to tell us about the world, but anyone can sah us to look or to think.“ Stern, p.174 ↩︎
  28. “ (Brecht offered) a critique that has been opened in influence and to some extent in content to that of Plato.“ Stern p.189 ↩︎
  29. “’Back in the the early twenties, Brecht’s plays were not getting much attention. ‚What you need‘ a friend told him, ‚is a theory. To make your stuff important.‘“ Eric Bentley, zit. bei Stern p. 189 ↩︎

Alain Badiou über das Theater

Philosophen meiden das Theater: zu konkret. Kommunisten meiden das Theater: zu bourgeois. Ein kommunistischer Philosoph, der ins Theater geht? Gibt es, immer noch: Alain Badiou. Er ist der Mann, der das Verhältnis von Philosophie und Theater vom Kopf auf die Füße stellt. Nicht mehr Ablehnung, weil das Theater ja nur Verfälschungen der Wahrheit biete (Platon, Rousseau), nicht nur Abgrenzung, weil es in der Kunst ja gar nicht um Wahrheit gehe, sondern nur um emotionale Wirkungen (Aristoteles), nicht nur Verherrlichung der Kunst als privilegierter Weg zur Wahrheit (Romantik, Heidegger), auch nicht Reduktion des Theaters auf den Theatertext (Hegel). Sondern: die Philosophie im Dienste des Theaters. Die Philosophie untersucht, von welcher Art die Wahrheiten des Theaters sind.

So wird Badiou zu einem der Lieblingsphilosophen der Dramaturgen und wird seit einigen Jahren auf allen europäischen Theaterfestivals eingeladen. Aber Badiou ist nicht Žižek, der universal einsetzbare Sinnzerstäuber, mit dem man in Programmheften intellektuelle Duftnoten versprühen kann. Badiou ist der elegante philosophische Holzhammer, ein Dinosaurus gallicus, einzig Überlebender einer ausgestorbenen Spezies, ein Platoniker, für den Mathematik die Grundlage der Ontologie ist, Erbauer eines auf mengentheoretischen Axiomen basierenden umfassenden Gedankengebäudes.

Badiou, Rhapsodie für das Theater Titelbild.jpg

Im Passagen Verlag ist Ende letzten Jahres eine Übersetzung der Neuausgabe von Badious „Rhapsodie für das Theater“ herausgekommen, die zuerst 1990 in Frankreich erschienen war. Badiou hat 2014 ein neues Vorwort dazu geschrieben, ansonsten ist die Neuauflage unverändert. Alle eingestreuten Listen mit Badious Lieblingsregisseuren beziehen sich auf die 80er Jahre: Vitez, Grüber, Stein usw.. Badiou nennt das die Phase der „defensiven Didaktik“ im Theater. Theatertheorie der 80er Jahre also. Was könnte daran heute noch interessant sein?

 

Dazu drei Interpretationsansätze:

  1. Theater produziert Wahrheit. Wahrheit ist für Badiou kein Verhältnis zwischen Gedanke und Wirklichkeit – alle Wahrheitstheorie von Aristoteles bis Tarski lehnt er als unmodern ab -, sondern ein Prozess. In einem Ereignis entsteht eine Wahrheit. Was er mit dem Begriff Ereignis meint, erklärt er meist mit dem Beispiel der Konzeption der mathematisierten Physik bei Galilei, der französischen Revolution von 1792 oder – und das ist sein Lieblingsbeispiel – mit dem Pariser Mai 68. Interessant ist nun, dass Badiou dieses Konzept der Wahrheit nicht nur auf die Wissenschaft, die Politik und die Liebe anwendet, sondern auch auf die Kunst und dabei auch auf das Theater. Jede Theateraufführung, die es verdient, nicht in Anführungszeichen geschrieben zu werden, produziert eine Theater-Wahrheit, die nur auf der Bühne entsteht kann. Sie ist „völlig singulär, dem Bühnengeschehen völlig immanent, ein quasi-politisches Ereignis, das unsere Situation in der Geschichte erhellt.“
  2. Das Theater denkt. Badiou schreibt: Theater trifft „eine Aussage über sich selbst und die Welt“ und führt „durch die Verknüpfung dieser doppelten Untersuchung den Zuschauer in eine Sackgasse des Denkens“.

Das heißt also: Theater muss immer eine Aussage über sich selbst treffen, d.h. reflexiv, d.h. sich seiner Form bewusst sein und dies auch erkennbar machen. Es muss, indem es seine Form erfüllt, diese untersuchen.

Theater muss ebenfalls immer eine Aussage über die Welt treffen, darf sich nicht in der Selbstreflexion erschöpfen. Es muss etwas über die Welt behaupten. Diese Aussage darf aber nicht dogmatisch sein (so ist es), sondern muss eine Untersuchung sein (wie ist es denn?).

Diese beiden Aussagen müssen in der Inszenierung verbunden sein: keine Aussage über die Welt ohne Selbstreflexion des Theaters und umgekehrt.

Durch die Verknüpfung und gegenseitige Abhängigkeit dieser beiden Aussagetypen gerät der Zuschauer in einen Zwiespalt: Ist die Aussage über die Welt wahr oder ist sie nur Ergebnis der gewählten Form? Die Aussage über die Welt darf nie ohne  Berücksichtigung ihrer künstlerischen Form verstanden werden. Diese Ambivalenz oder Mehrdeutigkeit bewegt das Denken des Zuschauers. Das Vergnügen des Zuschauers im Theater ist „das unsichere Produkt geistiger Konzentration“.

  1. Theater ist politisch. Badiou meint damit nicht seine Inhalte oder Themen, sondern seine Struktur. Er sieht eine Isomorphie von Theater und Politik. Dabei versteht der dem Ereignis von 1968 treu bleibende Wahrheitssucher Badiou unter Politik nicht die Interessenausgleichsprozesse der parlamentarischen Demokratie, sondern eine aus einem Ereignis hervorgehende Massenbewegung mit Programm. Diese drei Elemente dessen, was er Politik nennt, – Ereignisse, die durch sich zusammenfindende Menschenmassen entstehen, von Akteuren verkörperte Standpunkte und ein diskursiver gedanklicher Bezugspunkt – entsprechen den drei elementaren Bedingungen des Theaters – Publikum, Schauspieler, textlicher Referent. Das Theater ist für ihn immer „figurative Wiederanknüpfung an die Politik“.

 

Auch seine drei mit ironischem Augenaufschlag vorgetragenen praktischen Reformvorschläge beruhen auf diesem Konzept:

  • Die Pause soll im Theater wieder eingeführt werden, weil nur in ihr das Publikum sich als zufälliges Kollektiv selbst wahrnimmt, ganz in Analogie zum politischen Kollektiv. Im Theater, diesem „paradoxalen Staat“, müssen die Zuschauer sich „in einer dichten und greifbaren Menge verlieren können“.
  • Der Beifall für Schauspieler soll abgeschafft werden, nur Autor und Regisseur dürfen beklatscht werden (tote Autoren werden durch Schauspieler-Dummies ersetzt). Denn nur durch den Text als überdauerndem Referenten und seine Ausdeutung durch den Regisseur kann das Theater seine Bestimmung „der Aufhellung des Moments durch eine Begegnung mit dem Ewigen“ erfüllen.
  • Der Theaterbesuch soll gesetzliche Pflicht sein. Nachgewiesener Theaterbesuch im vorgeschriebenen Umfang soll zur Steuerreduktion führen. Denn das Theater ist eine „so grundsätzliche und wertvolle Erfahrung für uns“, dass es nicht nur wenigen vorbehalten sein darf: „Elitär für alle“.

 

Bei der Einschätzung der aktuellen Tendenzen des europäischen Theaters führt dieses Denken des 78jährigen zu einer scheinbar konservativen Tendenz. Im Vorwort von 2014 wendet sich Badiou gegen die zwei gängigen Formen der gesellschaftliche Desorientierung, „die demokratische Selbstzufriedenheit und den passiven Nihilismus“. Im Theater diagnostiziert er eine „hyperkritische Position“, die er der „eitlen Negation“, d.h. dem „passiven Nihilismus“ zuordnet. Auch in einem Schaubühnen-Interview mit Florian Borchmeyer nennt er ein Theater, „das seine eigene […] Unmöglichkeit [der Repräsentation] in einer Welt darstellt, die es nicht mehr erlaubt, dargestellt zu werden“, ein nihilistische Theater. In einem seiner vielen im Druck veröffentlichten Gespräche jedoch schätzte er 2007 die gegenwärtigen Theaterexperimente differenzierter, aber nicht weniger kritisch ein: Sie müssten als künstlerische Projektion der herrschenden Ideologie „nach dem Tod Gottes und unter der abstrakten Herrschaft des Marktes“ verstanden werden, sie seien nur eine „ideologische Zeiterscheinung“. Er spricht ihnen aber ab, subversiv zu sein. Performance sei ein mögliches Milieu für die Erfindung neuer Formen und Bedeutungen, aber noch nicht diese Erfindung selbst.

Das deutsche Theater sucht heute seine Rechtfertigung, sucht seine gesellschaftliche Funktionsbestimmung zwischen Konsensbildung und Konsenszersetzung. Etwas Badiou-Lektüre könnte da helfen.


 

  • Alain Badiou, Rhapsodie für das Theater. Kurze philosophische Abhandlung. Aus dem Französischen von Corinna Popp. Wien: Passagen Verlag, 2015 (zuerst frz. Paris 2014, Neuauflage der ersten Ausgabe von 1990 mit neuem Vorwort)
  • Alain Badiou, „Theatre and Philosophy“ in: Alain Badiou, Rhapsody for the theatre. Edited and Introduced by Bruno Bosteels. London/New York: Verso, 2013 p. 93-109 [zuerst „Théâtre et philosophy“, talk May 1998 Comédie de Reims, Reims: Noria, Cahier 13, also in: Frictions: théâtres-écritures 2 (Spring Summer 2000) pp.133-41]
  • Alain Badiou, „Thesen zum Theater“, in: A.B., Kleines Handbuch zur Inästhetik, 2. Auflage. Aus dem Französischen von Karin Schreiner. Wien: Turin + Kant, 2012 [frz. Petit Manuel d’Inesthétique. Paris: Editions du Seuil, 1998, zuerst: „Dix thèses nur le theatre“, in: Les Cahiers de la Comédie-Française. Paris 1995]
  • Alain Badiou, „A Theatre of A Discussion between  Alain Badiou and Elie During“ Meseu d’Art Contemporani Barcelona, Exhibition „Theatre with out theatre“ 2007
  • Alain Badiou, „Event and Truth“, Vortrag bei dem Symposium „Event in Artistic and Political Practices“ (26.-28.03.2013) in Amsterdam,
  • Alain Badiou, „Es gibt keine Welt. Alain Badiou im Gespräch mit Florian Borchmeyer“, in: Schaubühne Berlin, 2. Spielzeitheft 2014/15
  • Siehe auch Andreas Toblers Rezension: Andreas Toblers Rezension von Badious „Rhapsodie für das Theater“ auf Nachtkritik.