Die Urszene
Es war im Jahre 2002, im Spiegelzelt des Berliner Theatertreffens, in dem damals die Publikumsdiskussionen im Anschluss an die Vorstellungen stattfanden:
„Dieser Juror hat ja keine Ahnung, was Wahrheit ist“,
tönte der allseits hochverehrte Ivan Nagel aus dem Zuschauerraum. Es war der Abend nach der Vorstellung von Luc Percevals Inszenierung des damals neuen Stücks von Jon Fosse „Traum im Herbst“. Die Münchner Kammerspiele waren mit Dagmar Manzel und Stephan Bissmeier zu Gast im Haus der Berliner Festspiele. Und ich war an der Reihe gewesen, die Begründung für die Auswahl dieser Inszenierung durch die Jury vorzutragen.
„Was ist Wahrheit?“ fragte schon Pontius Pilatus in einer berühmten Gerichtsverhandlung und fällte dann das folgenreichste Fehlurteil der abendländischen Geschichte. Dieser unbeholfene Juror auf dem Podium war zwar tatsächlich irgendwie auf dem falschen Dampfer, aber ganz so ahnungslos wie es schien, war er auch damals nicht. Der Tumult im Spiegelzelt und Franz Willes eloquente Verteidigung meiner Position hinderten Ivan Nagel an weiteren Erklärungen, was er denn genau unter Wahrheit verstehe. Was könnte also Ivan Nagel gemeint haben mit der Wahrheit auf dem Theater?
Der Wahrheitsbegriff
Die Wahrheit auf dem Theater ist eine andere als die gewöhnliche. Der Begriff der Wahrheit hat, wenn er von Theaterleuten gebraucht wird, eine ganz andere Bedeutung als in der Wissenschaft. Mit den Wahrheitstheorien der gegenwärtigen Philosophie – semantischer oder repräsentativer Wahrheitsbegriff, Evidenz-, Konsens- oder Kohärenztheorie der Wahrheit – hat er nichts zu tun. Die moderne Wissenschaftstheorie kommt ohnehin weitgehend ohne den Begriff der Wahrheit aus. Der Wahrheitsbegriff des Theaters (und der Theatertheorie) kommt eher aus der Traditionslinie Platon-Hegel-Heidegger-Adorno-Badiou als aus der Linie Aristoteles-Thomas von Aquin-Kant-Wittgenstein. Die Wahrheit auf dem Theater ist ein Zwischending zwischen philosophischer Theorie und ungeschultem Alltagsdenken. Die Wahrheitsvorstellungen der Theater- und Schauspieltheoretiker bewegen sich in einem Übergangsbereich, in dem Begriffe höchster Abstraktionsstufe herabsinken aus der philosophischen Tradition in einen besonderen Teilbereich menschlicher Tätigkeiten und dabei auf Begriffe treffen, die aufsteigen aus der konkreten Praxis des künstlerischen, präsenten Darstellens zu höherer Abstraktionsstufe.
In Nagels Schriften findet sich keine Abhandlung über die Wahrheit, nur einmal erwähnt er Alfred Kerrs begeisterten Ausruf angesichts des Gastspiels einer Inszenierung Stanislawskis von Tschechows „Onkel Wanja“ 1906.
„Es ist die Wahrheit – die Wahrheit!“
Es ist naheliegend zu vermuten, Ivan Nagel als Schüler Adornos habe sich auf den Wahrheitsbegriff seines akademischen Lehrers bezogen. Doch auch Adornos Begriff der Wahrheit muss in den Zusammenhang der Wahrheitstheorien Hegels und Heideggers gestellt werden, um zu verstehen, was der Begriff der Wahrheit in seiner Anwendung auf das Theater bedeuten kann und was nicht. Es geht dabei nicht nur um das lächerlich eitle Bemühen, eine alte Scharte auszuwetzen, sondern auch darum, die gegenwärtige Diskussion über Authentizität und Repräsentation auf dem Theater etwas zu erhellen.
Die Wahrheit der Kunst
Um etwas über die Wahrheit auf dem Theater sagen zu können, muss man zunächst den Begriff der Wahrheit klären, dann seine Anwendung auf die Kunst und schließlich muss man die besonderen Bedingungen der Kunstform Theater berücksichtigen. Die folgende Darstellung ist sicher laienhaft vereinfacht und berücksichtigt nicht die weitreichenden unterschiedlichen Grundannahmen der einzelnen Philosophen, sondern bleibt an der Oberfläche des für die Theatertheorie Interessanten, ist aber dadurch vielleicht auch für Laien verständlich.
Der gängigste Begriff von Wahrheit ist der, den zuerst Aristoteles formulierte:
„Von etwas, was ist, zu sagen, dass es nicht ist oder von etwas, was nicht ist, dass es ist, ist falsch; hingegen ist wahr, von etwas zu sagen, dass es ist und von etwas, das nicht ist, zu sagen, dass es nicht ist.“ .
Dieser korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff oder diese Adäquationstheorie der Wahrheit beschränkt die Anwendung des Begriffs der Wahrheit auf Aussagesätze. Von Aristoteles über Thomas von Aquin und Ockham bis Kant ist man sich einig: Wahrheit ist Aussagenwahrheit, Korrespondenz von Gedanke und Sache. Die Zirkularität dieser Definition der Korrespondenztheorie fällt erst im 20. Jahrhundert auf und führt zu diversen Versuchen, die Korrespondenztheorie zu retten (Tarski) oder zu ersetzen (Habermas). Damit hat die Kunst nichts zu schaffen.
Von Platon zu Hegel
Platon dagegen hatte den Begriff auf eine höhere Wirklichkeit bezogen: die Ideen (Formen) sind für ihn wahr, weil sie eine höhere Form von Wirklichkeit haben als die empirische Wirklichkeit. An diesen ontologisch-gnoseologischen Wahrheitsbegriff knüpft Hegel an (im Anschluss an Fichte), wenn er den korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff abwertet zur bloßen „Richtigkeit“ und Wahrheit definiert als „Übereinstimmung eines Inhalts mit sich selbst“. Für Hegel ist die Wahrheit erst der zu sich selbst gekommene Geist, Übereinstimmung des absoluten Geistes mit sich selbst. Also ist erst das Ganze die Wahrheit, nicht ein Aussagesatz, sondern das ganze sich selbst entwickelnde Begreifen der Wirklichkeit.
In diesem Prozess des Zusichselbstkommens des Geistes hat die Kunst eine entscheidende Rolle. Durch die Übereinstimmung des Begriffs eines Kunstwerkes mit seinem konkreten Dasein, durch seine Verbindung von vollständiger Freiheit der Teile und Notwendigkeit ihrer Übereinstimmung hat ein Kunstwerk („das Schöne“) Wahrheit. Hier erhält also die Kunst eine Funktion in einem Prozess, dessen Ziel die Wahrheit ist und nur weil sie Teil dieses Prozesses ist, kann bei Hegel auch vom Ende der Kunst die Rede sein, nämlich dann, wenn in diesem Prozess der Selbstentfaltung und des Sichselbstbegreifens des absoluten Geistes die Kunst ihre Rolle als „Frontman“ an die reine Reflexion, d.h. die Philosophie, abgibt.
Von Heidegger zu Adorno
Dieser emphatische Wahrheitsbegriff, dass Wahrheit das Ganze ist und nicht einem einzelnen Satz zukommen kann, wird im 20. Jahrhundert – trotz aller Polemik Nietzsches gegen den Wahrheitsbegriff – entscheidend für die philosophische Ästhetik und Kunsttheorie. Sowohl Heidegger als auch Adorno sehen die Aufgabe der Kunst in diesem Prozess der Entfaltung einer Wahrheit. Die Gemeinsamkeiten sind trotz aller politischen, und stilistischen Gegensätze, trotz aller unterschiedlichen Grundannahmen frappierend – wenn man sie auf den Aspekt der Relation der Kunst zur Wahrheit reduziert – und ignoriert, was die beiden Großdenker jeweils unter Wahrheit verstehen.
Das Kunstwerk setzt die einzelnen Individuen, die Kunstrezipienten, in Beziehung zu etwas Überindividuellem. Die Rezeption eines Kunstwerkes ist nicht nur ein individuelles Erlebnis, nicht nur ein Erregungsvorgang im Bewusstsein der Rezipienten, sondern die Vermittlung einer Verbindung zu etwas Überindividuellem, das sowohl Heidegger als auch Adorno „Wahrheit“ nennen.
Heidegger:
„…setzt das Werk nicht herab in die Rolle eines Erlebniserregers. Die Bewahrung des Werkes vereinzelt die Menschen nicht auf ihre Erlebnisse, sondern rückt sie ein in die Zugehörigkeit zu der im Werk geschehenden Wahrheit….“
Adorno:
„Die Wahrheit des Kunstwerks aber kann nicht anders vorgestellt werden, als dass in dem subjektiv imaginierten An sich ein Transsubjektives lesbar wird. Dessen Vermittlung ist das Werk.“
Für Heidegger wie für Adorno ist die Wahrheit nichts Statisches, nichts Vorhandenes. Die Kunst ist für beide ein Werden, ein Geschehen und die Wahrheit dann ein Gewordenes, etwas das sich ereignet hat:
Heidegger:
„Kunst ist das Feststellen der sich einrichtenden Wahrheit in die Gestalt.[…] Also ist die Kunst: die schaffende Bewahrung der Wahrheit im Werk. Dann ist die Kunst ein Werden und Geschehen der Wahrheit.“
Adorno:
„Deutbar ist Kunst nur an ihrem Bewegungsgesetz, nicht durch Invarianten. Sie bestimmt sich im Verhältnis zu dem, was sie nicht ist. […] Axiomatisch ist für eine umorientierte Ästhetik die vom späten Nietzsche gegen die traditionelle Philosophie entwickelte Erkenntnis, dass auch das Gewordene wahr sein kann. Die traditionelle, von ihm demolierte Ansicht wäre auf den Kopf zu stellen: Wahrheit ist einzig als Gewordenes.“
Sowohl Heidegger als auch Adorno betonen die Uneindeutigkeit, die Zwiespältigkeit, die Paradoxie des Verhältnisses der Kunst zur Wahrheit:
Heidegger:
„Zum Wesen der Wahrheit als der Unverborgenheit gehört dieses Verweigern in der Weise des zwiefachen Verbergens.“
„Das Wesen der Wahrheit ist in sich selbst der Urstreit, in dem jene offenen Mitte erstritten wird, in die das Seiende hereinstellt und aus der es sich in sich selbst zurückzieht.“
Adorno:
„Wahr ist Kunst, soweit das aus ihr Redende und sie selber zwiespältig, unversöhnt ist, aber diese Wahrheit wird ihr zuteil, wenn sie das Gespaltene synthetisiert und dadurch erst in seiner Unversöhnlichkeit bestimmt. Paradox hat sie das Unversöhnte zu bezeugen und gleichwohl tendenziell zu versöhnen; möglich ist das nur ihrer nicht-diskursiven Sprache.“
Weil die Wahrheit in der Kunst nicht einfach vorhanden ist, kommt es auf den rechten Umgang mit den Kunstwerken an, um die Wahrheit zu entfalten. Heidegger nennt diese Entfaltung der Wahrheit des Kunstwerkes “Bewahrung“, bei Adorno ist es „philosophische Reflexion“ und „Kritik“:
Heidegger:
„Dieser Verrückung folgen heißt: die gewohnten Bezüge zur Welt und zur Erde verwandeln und fortan mit allem geläufigen Tun und Schätzen, Kennen und Blicken ansichhalten, um in der im Werk geschehenden Wahrheit zu verweilen. […] Das Werk ein Werk sein lassen, nennen wir die Bewahrung des Werkes.“
„Die eigenste Wirklichkeit des Werkes kommt dagegen nur da zum Tragen, wo das Werk in der durch es selbst geschehenden Wahrheit bewahrt wird.“
Adorno:
„Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist die objektive Auflösung des Rätsels eines jeden einzelnen. Indem es die Lösung verlangt, verweist es auf den Wahrheitsgehalt. Der ist allein durch philosophische Reflexion zu gewinnen. … Keine Aussage wäre aus *Hamlet* herauszupressen; dessen Wahrheitsgehalt ist darum nicht geringer.“ „Den Wahrheitsgehalt begreifen postuliert Kritik. Nichts ist begriffen, dessen Wahrheit oder Unwahrheit nicht begriffen wäre, und das ist das kritische Geschäft.“
Hier liegt vom Standpunkt der Theaterkritik aus, auf der Suche nach der Gebrauchsanleitung für den Umgang mit den Kunstwerken des Theaters, der entscheidende Unterschied: nach Heidegger soll das Kunstwerk in seiner Rezeption „bewahrt“ werden, nach Adorno soll es kritisch reflektiert werden.
In Adornos „Früher Einleitung“ zu seiner Ästhetischen Theorie findet sich ein Abschnitt, der vielleicht das trifft, was Ivan Nagel damals dem unbedarften Juror hätte vorhalten wollen, wenn man ihn hätte ausreden lassen:
„Verstanden werden Kunstwerke erst, wo ihre Erfahrung die Alternative von wahr und unwahr erreicht oder, als deren Vorstufe, die von richtig und falsch. Kritik tritt nicht äußerlich zur ästhetischen Erfahrung hinzu, sondern ist ihr immanent. Ein Kunstwerk als Komplexion von Wahrheit begreifen, bringt es in Relation zu seiner Unwahrheit, denn keines ist, das nicht teilhätte an dem Unwahren außer ihm, dem des Weltalters. Ästhetik, die nicht in der Perspektive der Wahrheit sich bewegt, erschlafft vor ihrer Aufgabe; meist ist sie kulinarisch. Weil Kunstwerken das Moment von Wahrheit wesentlich ist, partizipieren sie an Erkenntnis und damit das legitime Verhältnis zu ihnen.“
Badious Schema
Alain Badiou hat versucht, die Theorien über das Verhältnis von Kunst und Wahrheit in drei Schemata zu ordnen:
- das didaktische Schema (Platon): Die Kunst kann keine Wahrheit hervorbringen. Sie ist nur der täuschende Schein von Wahrheit. Wahrheit gibt es nur außerhalb der Kunst. Deshalb muss die Kunst reglementiert werden.
- das romantische Schema: Wahrheit gibt es nur in der Kunst (und in der Philosophie, aber die Kunstwahrheit ist die Vollendung der philosophischen Wahrheit durch Verkörperung).
- das klassische Schema (Aristoteles): In der Kunst gibt es keine Wahrheit, aber das ist nicht schlimm. Sie hat andere Aufgaben.
Dagegen stellt Badiou seine eigene Theorie der Wahrheit. Es gibt nicht die Wahrheit, sondern nur Wahrheiten. Wahrheit ist für Badiou nicht eine Eigenschaft eines Urteils, sondern ein Prozess in der Wirklichkeit, durch den etwas Neues entsteht. Es gibt vier verschiedene Wahrheitsverfahren: Wissenschaft, Politik, Liebe (!) und Kunst. Die Wahrheiten der Kunst sind ihr immanent, nur in ihr selbst zu finden, und sie sind singulär, es gibt sie nirgendwo anders. Für Badiou sind aber nicht die Kunstwerke selbst die Wahrheiten, sondern:
„Ein Kunstwerk stellt eine Untersuchung über die Wahrheit dar, die im Kunstwerk als ihr Ort aktualisiert ist oder deren endliches Fragment es ist.“
Für Badiou ist auch nicht das einzelne Werk die künstlerische Wahrheit, sondern eine „künstlerische Konfiguration“, die auf ein auslösendes Ereignis, einen Umbruch, zurückgeht. Mit Konfiguration meint Badiou so etwas wie ein künstlerisches Paradigma, eine Epoche oder eine dominierende Stilrichtung. Er nennt als Beispiele für die Moderne: „Serialismus, romantische Prosa, Zeitalter der Dichter, Bruch mit der bildlichen Darstellung.“
Dem Theater spricht Badiou eine ganz eigene, immanente Wahrheit zu. Es produziere eine Wahrheit, die auf keine andere Form der Wahrheit reduzierbar sei, eine „Theater-Wahrheit“. Er beschreibt in einem Aufsatz von 1998 vier Dimensionen dieser „Theater-Wahrheit“:
- die ereignishafte Dimension. Die Wahrheit kommt im Theater nur zum Erscheinen, sie ist nicht einfach da, sondern hat eine vergängliche Aktualität.
- die experimentelle Dimension. Im Theater findet eine Begegnung zwischen etwas Ewigem (für Badiou ist es der Theatertext) und dem gegenwärtigen Moment in einer künstlichen Zeit statt. So ist eine Theatervorstellung ein Experiment, das seine eigene Zeit herzustellen versucht.
- die quasi-politische Dimension: Das Theater ist wesentlich öffentlich, ein kollektives Ereignis wie die Politik.
- die vergrößernde Dimension. Das Theater zeigt, wo wir in der historischen Zeit stehen. So wird unsere Situation vergrößert, auf eine die Gegenwart übergreifende Dimension bezogen.
Daher bringt das Theater nach Badiou eine Wahrheit aus den verschiedenen möglichen Formen der kollektiven Beziehung zu Wahrheiten hervor.
Für Badiou gehört Heideggers Kunsttheorie eindeutig ins romantische Schema. Das dürfte auch für Adornos Theorie gelten, wenn man Badious etwas grobschlächtigem Schema folgen will. Schließlich ist die philosophische Reflexion für Adorno nur Hilfsmittel zur Entbindung des Wahrheitsgehaltes des Kunstwerks.
Zwischenergebnis 1
Vorläufiges Ergebnis also: Ivan Nagel hatte eine romantisch-adornitische Auffassung von Wahrheit und wollte an den Kritiker nun die Forderung stellen, die Auswahl der Inszenierung als eine der „bemerkenswertesten“ des Jahrgangs mit ihrer „Wahrheit“ zu begründen.