Kein Theater – Erinnerungsbücher von Ex-Genossen

1. Schneeschmelze

2022 und 2023 starben kurz nacheinander Elisabeth Weber 1, Ruth Ursel Henning 2, Willi Jasper 3 und Antje Vollmer 4. Damit ist nun die prominenteste Gruppe der von 1970-1980 existierenden KPD-AO fast vollständig verschwunden 5, nachdem Jürgen Horlemann 6, Christian Semler 7, und Peter Neitzke 8 bereits Jahre zuvor verstorben waren9 Die Generation, die versuchte, die Konsequenzen aus dem gesellschaftlichen Aufbruch der 68e-Revolte zu ziehen, stirbt aus. Was bleibt? Jedenfalls ein paar Erinnerungsbücher, – auch von begrenzter Haltbarkeit.10

„Der Schnee gnädigen Vergessens bedeckt heute die Landschaft, auf der sich in den 70er Jahren die maoistischen „K-Gruppen“ an die Revolutionierung des Proletariats gemacht hatten. […] Schließlich und wenigstens verstehen die Funktionäre von einst kaum mehr ihre damaligen Motive und Handlungen.[…] Dem ehemaligen Führungspersonal ist die Geschichte der K-Gruppen zu peinlich.“11

Das schrieb Christian Semler 1998. Langsam schmilzt dieser Schnee des Vergessens und darunter kommen seltsame Überreste, verrostetes Gedanken-Gerümpel eines einstmals heißen Sommers der Aktion zum Vorschein.

Heute ist der Modus des Gedenkens der damaligen Akteure weniger die Abrechnung mit der Vergangenheit als der Versuch, sich selbst zu verstehen.12

Auf die Frage seines Sohnes hin, „wieso man in den 70er Jahren auf die Idee habe kommen können, Mitglied einer maoistischen Partei zu werden“ hat Helmuth Lethen seinen Bericht „Suche nach dem Handorakel“ geschrieben13. Marianne Brentzel14 gesteht ratlos:

„Ich weiß keine zufriedenstellende Antwort, die meine eigene Entscheidung für diese Organisation für fast zehn Jahre rechtfertigt und auch keine für all die, die sich jahrelang diesem System unterordneten.“15

Aber Begründung ist nicht Rechtfertigung. Wenn ich eine zurückliegende Handlung rechtfertige, wende ich meine gegenwärtigen moralischen Maßstäbe auf die vergangene Handlung an. Nach unseren heutigen Maßstäben, ist die „Entscheidung für diese Organisation“ nicht zu rechtfertigen. Aber es besteht das Bedürfnis, sich selbst zu verstehen, d.h. im damaligen Kontext Gründe zu finden, die zu diesen Entscheidungen führten. Christian Semler hat dies 2001 am deutlichsten formuliert:

„Soll man sich, vor allem als Person des öffentlichen Lebens, von den Elementen seines eigenen Lebens öffentlich distanzieren, die dem heutigen Blick als verwerflich erscheinen? Entgegen der Auffassung, wonach die Biografie aus lauter unverbundenen Neuanfängen besteht, streben wir alle nach so etwas wie einer Ich-Identität im Lebenszyklus. Deshalb ist es ganz unsinnig, sich im Sinn eines Reinigungsrituals von Teilen der eigenen Biografie einfach loszusagen. Wir sollen erklären, wie alles zusammenhängt, was fortwirkt, was überwunden wurde. Dazu bedarf es nicht der kniefälligen Distanzierung, sondern der Selbstdistanz.“16

2. Gründe

Warum nun beteiligte sich Helmut Lethen, Literaturwissenschaftler Jahrgang 1938, 1969/70 an der Gründung einer maoistischen Partei?

In „Suche nach dem Handorakel. Ein Bericht“ beschreibt er 2012 ausführlich seinen intellektuellen Werdegang in den 60er Jahren17: Lektüre von Adorno, Walter Benjamin und Mitscherlich. Das waren die intellektuellen Voraussetzungen der Studentenbewegung vor 1969.

 

Mitscherlichs These von der „Vaterlosigkeit“ der Nachkriegsgeneration, deren Väter ihre Tätigkeiten in der Nazi-Diktatur und im Krieg beschwiegen, war zwar banal, „traf aber damals einen Nerv.“18. Lethen blieb jedoch skeptisch. Dass die durch die fehlende Autorität der Vatergeneration bewirkte „Unzuverlässigkeit der Innensteuerung“ seiner Generation der psychologische Grund für die Studentenbewegung sei, war für ihn damals unglaubwürdig. Für den Lethen der 60er-Jahre gehörte Mitscherlich auch zu den Vätern.

Die Ablehnung der Kritischen Theorie kam mit der Bild-Zeitungs-Kampagne des SDS. Die Kritische Theorie war problemlos in die bestehende Gesellschaft integrierbar. Auch die Bild-Zeitungsmacher konnten sie als strategischen Ratgeber verwenden.

Soweit erklärt Lethen die Voraussetzungen, die auf die ganze Breite der Studentenbewegung zutrafen. Aber warum musste es nun gerade dieser kleine Zirkel von knapp 20 Westberliner SDS-Mitgliedern sein, die eine demokratisch-zentralistische Kaderpartei gründen wollten? Zunächst bleibt die Bilanz seines Selbsterklärungsversuchs negativ:

„Nicht erklärt ist, warum ich mich 1970 der handverlesenen Schar der Parteigründer, in der ich kluge Köpfe der Studentenbewegung in Westberlin wiederfand, angeschlossen habe.“19

Dann nennt er neben dem Abschied von der lähmenden Praxislosigkeit der Kritischen Theorie einen weiteren Grund:

„Irgendwie hat mir die Enttäuschung über die Handlungslähmung und herrschaftsdienliche Funktion der Kritischen Theorie, die den Eintritt in eine ML-Partei legitimieren sollte, einen handfesteren Grund verborgen. Er lag in der Furcht, in der Umwelt der Lebensstilexperimente, im Strudel der zerfallenden Bewegung, die Fassung zu verlieren, ziellos zu treiben, marginalisiert zu werden.“ 20
„Was bewahrte uns vor Kollaps und Amoklauf? Sollte die Reihe der ML-Parteien eigens zu dem Zweck gegründet worden sein, diesen Gang der Dinge zu verhindern? Merkwürdiger Gedanke, diese Parteien könnten als ‚Sinnmaschinen‘ manchen aufgefangen haben.“ 21

Diesem subjektiven Bedürfnis nach Halt und Orientierung entspricht Lethens objektive Beschreibung der Funktion der ML-Bewegung nach 1970:

„Der Zerfall der Studentenbewegung hat in den Jahren 1969, 1970, 1971 ein nicht zu unterschätzendes Quantum ungebundener destruktiver Energie freigesetzt. Die Leistung der marxistisch-maoistischen Apparate bestand darin, die frei flottierenden Umsturzenergien in ihr oberirdisches Bewegungssystem einzubinden.“ 22

Lethens mehrfach wiederholte These ist: die ML-Parteien haben „objektiv gesehen der Stabilisierung der Republik gedient“. 23

Die politischen Ereignisse und gesellschaftlichen Entwicklungen, die so etwas aus heutiger Sicht Unwahrscheinliches und Unsinniges wie die Gründung einer maoistisch-kommunistischen Partei durch eine Handvoll Studenten und Jungakademiker, möglich machten, werden in Willi Jaspers Erinnerungsbuch „Der gläserne Sarg. Erinnerungen an 1968 und die deutsche ‚Kulturrevolution‘“ ausführlich geschildert:

  • Die Erschießung des Demonstranten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 durch einen Polizisten,
  • das Attentat auf Rudi Dutschke, den anerkannten Sprecher der Studentenbewegung, am 11. April 1968,
  • die Studentenproteste und Streiks im Mai 1968 in Paris,
  • der Einmarsch der russischen Truppen in Prag  im August 1968
  • der Vietnam-Krieg mit der gescheiterten Tet-Offensive des Vietcong 1969
  • die Streiks bei Fiat in Italien und der Einfluss der „Unione dei Communisti Italiani“,
  • die gewerkschaftsunabhängigen „wilden“ Streiks in Deutschland im September 1969,
  • die gewalttätige Auseinandersetzung zwischen Studenten und Polizei bei der Demonstration am Tegelerweg in Berlin im November 1969.

So wird vielleicht eher verstehbar, warum dann auf der Arbeitskonferenz der Berliner Roten Presse-Korrespondenz am 6./7. Dezember 1969 fünf ehemalige Mitglieder des aufgelösten SDS die Gründung einer Kommunistischen Partei vorschlugen24. Im Februar 1970 hieß es dann in der Vorläufigen Plattform der Aufbauorganisation für die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD-AO):

„Der rechtzeitige Aufbau einer nicht mehr studentischen politischen Organisation, die ihr Hauptaugenmerk auf die Organisierung des Proletariats gerichtet hätte, wäre das Korrektiv von Wahnvorstellungen gewesen, die bis heute in den Köpfen von Genossen spuken.“ 25.

Im Rückblick scheint das heute eher der Versuch gewesen zu sein, viele divergierende Wahnvorstellungen durch eine einheitliche Wahnvorstellung zu ersetzen.

Dass das Scheitern dieses Versuchs erst so spät eingestanden wurde (immerhin früher als bei den konkurrierenden K-Gruppen), lag auch daran, dass er zunächst erfolgreich war. Worin die Attraktivität dieser Gruppe bestand schildert Alan Posener, damals Student und später Chef-Kommentator der Zeitung „Die Welt“:

„Dass ich zur KPD/AO stieß, war eher zufällig. Ich hatte, um irgendetwas zu studieren, mich für Germanistik eingeschrieben, und in der „Roten Zelle Germanistik“ gaben die Vertreter der KPD/AO den Ton an. Das meiste, was sie sagten, verstand ich allenfalls umrisshaft, aber ich habe sie als Personen bewundert: Dietrich Kreidt, Helmut Lethen und Rüdiger Safranski zum Beispiel, aber auch Lerke von Saalfeld, Beate von Werner und vor allem Elisabeth Weber. Da war schon eine geballte intellektuelle Potenz. Ich glaube, dass es den meisten jüngeren Studenten damals so ging: die Entscheidung für eine politische Organisation war eher eine persönliche als eine ideologische Entscheidung. Man entschied sich, zu wem man gehören wollte, und eignete sich danach die politische Linie an. Die festigte sich in der Auseinandersetzung mit den anderen Sekten dann zur tatsächlichen Überzeugung.“ 26

Helmut Lethens „merkwürdiger Gedanke“, die Partei könne als „Sinnmaschine“ funktioniert haben und manchen aufgefangen haben, wird durch Alan Posener bestätigt:

„Ich verdanke der KPD {…} also, dass ich von den Drogen und dem Gefühl existenzieller Nichtigkeit losgekommen bin. {…} Und da verdanke ich ihr wohl eher als irgendwelcher eigenen Charakterstärke, dass ich vor Abgründen bewahrt wurde, in die andere schlidderten.“27

3. Doch Theater

„Noch nie war meines Wissens eine deutsche Partei durch eine solche Übermacht von Germanisten gegründet worden“ schrieb Peter Schneider über die KPD/AO28. Helmut Lethen bemerkt zu Recht „dass in unserem Politbüro unverhältnismäßig viele Theaterwissenschaftler waren.“ 29

Helmut Lethen und Willi Jasper stellen ausführlich dar, welche Rolle der Literaturwissenschaftler Peter Szondi in den damaligen Auseinandersetzungen spielte. Er war sowohl Anreger der Kritik an der noch unter dem Einfluss der ehemaligen Nazi-Mitläufer stehenden Germanistik als auch Opfer der Studentenproteste. Selbst der Lyriker Paul Celan wurde in den Strudel der 68-Bewegungen hineingezogen 30. Auch das Theater blieb nicht unberührt:

  • Peter Steins Inszenierung von Peter Weiss` „Viet Nam Diskurs“ (Kammerspiele München 5. Juli 1968 unter Mitarbeit der späteren KPD-AO Gründer Wolfgang Schwiedrzik und Jürgen Horlemann) sorgte für einen Skandal, weil im Anschluss an die Vorstellung Geld für die Vietnamesische Guerilla Vietcong gesammelt wurde.31
  • Peter Steins Inszenierung von Brechts „Die Mutter“ an der 8. Oktober 1970 Berlin Schaubühne am Halleschen Ufer (wiederum unter Mitarbeit von Wolfgang Schwiedrzik) konnte als Aufforderung verstanden werden, die Verwirklichung des Kommunismus, „das Einfache, das so schwer zu machen ist“, anzupacken.
  • Wolfgang Schwiedrziks Drama „Märzstürme 1921 (Leuna)“ an der Schaubühne 7.3.1972 uraufgeführt (erfolglos) erinnerte an die militanten Aktionen der KPD zu Beginn der Weimarer Republik.32

Es war also folgerichtig, dass die Aktionen der KPD-AO „wie revolutionäres Theater inszeniert wurden.“33

In seinem Bericht „Theater als ‚Aktion'“ schildert Wolfgang Schwiedrzik die Rolle des Theaters in der 68er Bewegung vor 1970  und erwähnt dann eine spätere Begegnung mit Ivan Nagel, der 1968 Chefdramaturg an den Münchner Kammerspielen war und in dem Konflikt um die Geldsammlung für den Vietcong zu vermitteln suchte. Seine Schlussfolgerung aus dem Gespräch in den achtziger Jahren ist:

„Die Unentschlossenen und Mitläufer von damals, die den ‚Marsch durch die Institutionen‘ erfolgreich abschlossen, halten den Mythos von 1968 hoch, während diejenigen, die damals bis ins Extrem gingen, heute eher zweifeln.“34

Diese Einschätzung trifft vielleicht für die Zeit zwischen 1960 und 1970 zu. Für Zeit nach 1970, für die Phase der K-Gruppen, ist die vorherrschende Einschätzung weniger gegensätzlich, sowohl Unentschlossene und Mitläufer als auch damalige Extremisten meinen: das war wohl nichts Gutes.

4. Verluste-Gewinne

Die Arbeit für die Partei war anstrengend. Die Mitgliedschaft (auch im Studentenverband) erforderte die Anerkennung des „Primats der Politik“, d.h. den Vorrang der politischen Tätigkeit vor allen anderen Lebensäußerungen. Helmut Lethen beschreibt die Partei als „selbstdestruktiven Trichter“, der alle Energie aufsog, ohne ein Resultat zu hinterlassen. 35. Das führte zu Verlusten. Die hier behandelten Erinnerungsbücher gehen mit diesen Verlusten nonchalant um. Lethen verließ die Partei 1976, Neitzke 1975, Alan Posener 1977. Willi Jasper arbeitete immerhin seit 1979 auf ihre Auflösung hin. Sie waren also selbstständig und handlungsfähig geblieben. Willi Jasper zuckt auf die Frage nach seinem persönlichen Verlust nur mit der Schulter:

„Auf die Frage, ob es eine `verlorene Zeit`war, erklärte ich {1980}, dass ich mir natürlich vorstellen könnte, die letzten zehn Jahre sinnvoller verbracht zu haben.` Aber ich konnte damals nicht beantworten, ‚durch welche Konstellation und ab welchem Punkt ich meine persönliche Entwicklung hätte in andere Bahnen leiten müssen.‘ Natürlich spürte ich ein Bedauern. {…} Doch ich glaubte (und glaube immer noch), dass man die ‚Schuld‘ der KPD-AO in eine ‚Gesamtbilanzierung‘ dessen einordnen muss, wie viel menschliche und soziale Existenz insgesamt in der linken Bewegung seit 1968 auf der Strecke geblieben ist.“36.

Und Helmut Lethens Schaden war eine Gastritis, die ihm immerhin die Abkehr von der Organisation ermöglichte. Aber die politisch begründete Ablehnung seiner Bewerbungen um Professorenstellen in Bremen und Marburg kränkte ihn doch.

„Natürlich richtete die Partei Destruktives an, in erster Linie nach innen: schlaue junge Gewerkschaftler wurden aus ihrem Biotopen gerissen und von Westberlin aus in unser Traum- und Niemandsland, genannt Ruhrgebiet, verschickt. Wir versauten vielen Genossinnen und Genossen fürs ganze Leben ihren Lehrerberuf, an dem sie mit Leidenschaft hingen. Die Partei verbrauchte Erbschaften und beendete akademische Karrieren.“37

Diese unaufgeregte Negativ-Bilanz steht im deutlichen Widerspruch zu den 1977 anonym veröffentlichten schrillen Leidensberichten einer Gruppe von Aussteigern38 und zu den hämischen Bemerkungen Außenstehender39.

Der Negativ-Bilanz steht aber auch der Versuch gegenüber, zu retten, was bleiben kann. Alan Posener, auf Grund seines Parteiaustritts und seiner Tätigkeit für das Flaggschiff der Springer-Zeitungen unverdächtig, ein Unverbesserlicher zu sein, findet im Wesentlichen zwei Dinge, die er der KPD verdankt: zum einen „technisch-charakterliche Dinge“: strenge Disziplin, zum anderen ideologische: „als negative Lehre die tiefe Abscheu vor dem Kommunismus und der tiefe Schrecken über die eigene Verführbarkeit“, aber auch: „einen linken Liberalismus. Liberal, weil ich zu wissen meine, wie wichtig die Freiheit ist; links, weil eben die wahren Helden die Leute sind, die es nicht leicht haben.“ 40

Christian Semler versucht ebenfalls festzuhalten, was an anschlussfähiger Orientierung übrig blieb, vor allem mit Blick auf die nicht wenigen, die weiterhin politisch aktiv blieben. Zunächst allgemein für die Studentenbewegung: „Die linken Studenten: „waren trotz ihres oftmals forciert linkstraditionalistischen Gepräges, Motoren des demokratischen Verwestlichungsprozesses“. 41 Dann aber auch konkret für die Ex-Genossen seiner ehemaligen Partei:

1. schroffer Antiutopismus (aus Enttäuschung über Utopie der Kulturrevolution), Verbindung mit osteuropäischen Demokraten,
2. linker Antitotalitarismus, Unterstützung von der osteuropäischen Opposition,
3. Drei-Welten-Theorie: Legitimität nationaler Befreiungsbewegungen auch im Fall der zerfallenden Sowjetunion und Jugoslawiens, positive Wertung der EU (zweite Welt)
4. Dem Volke dienen: „Volkstümlertum“ „Es erlaubte den Ex-Maoisten, ihre private berufliche Existenz an einem allgemeinen ethischen Maßstab zu messen.“ Kritik an der volksfeindlichen Entwicklung von Technik (Grüne Bewegung)

Als gewiefter Dialektiker sieht er aber auch die Kehrseiten dieser Vorteile: Der Antiutopismus ist zugleich die „Weigerung, das ganz andere der kapitalistischen Produktionsweise auch nur zu denken“. Der Antitotalitarismus führt zu „moralischen Superioritätsgefühle“ und zur „Pose des Chefanklägers“. 42

5. Romane

Nicht jeder fühlt sich wichtig genug, um zur Lektüre für künftige Historiker seine Erinnerungen zu veröffentlichen. Nicht jeder kann den Affekt der Scham so produktiv verarbeiten wie Helmut Lethen. Christian Semler hat schon früh und mehrfach als taz-Redakteur und Kommentator eine ehrliche Bestandsaufnahme versucht. Alan Posener kann sich auf eine einzelne Frage beschränken und vermeidet so jegliche „der rote-Opa-erzählt“-Haltung.

Es gibt aber noch einen anderen Weg, mit peinlichen Erinnerungen umzugehen: Fiktionalisierung. Es gibt mindestens drei Romane von ehemaligen Mitgliedern der Führung der KPD(nicht mehr AO). Helmut Lethen hat dafür ein passendes Zitat von Walter Benjamin aufgespießt:

„Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit, das sich über seine wichtigsten Angelegenheiten nicht mehr exemplarisch auszusprechen vermag, selbst unberaten ist und keinen Rat geben kann. Einen Roman schreiben, heißt, in der Darstellung des menschlichen Lebens das Inkommensurable auf die Spitze treiben.“ 43.

Am eleganteste umschifft Alexander von Plato die Klippe der eigenen Ratlosigkeit.. Erinnerung ist sein Thema, aber nicht seine eigene und nicht die an die Jahre 1970-80.

Verwischt. Eine Liebe in Deutschland 1989

Für den Historiker Alexander von Plato 44 sind die Jahre 1970-1980 eine zu kurze Welle, als dass er sich öffentlich damit beschäftigen würde. Als international renommierter Spezialist für „oral history“ beschäftigt ihn, wie die langen Wellen der historischen Entwicklung sich in den kurzen Wellen eines Menschenlebens auswirken. Die „longe durée“, deren Erforschung der französische Historiker Fernand Braudel zur Aufgabe der Geschichtswissenschaft gemacht hat, d.h. die für die Individuen unmerklich sich vollziehende Veränderung im Zusammenleben der Menschen, wirkt sich aus auf die Lebensverläufe der Einzelnen. Diese Entwicklungen, die sich in scheinbar unabhängig von den Entscheidungen einzelner in einer völlig anderen Zeitstruktur entwickeln als in dem individuellen Lebensrhythmus von Geburt, Leben und Tod, in ihrem Niederschlag auf das bewusste Erleben einzelner zu erfassen, ist Sinn von „oral history“.

Oder wie eine der Figuren, ein Filmregisseur, in von Platos Roman „Verwischt. Eine Liebe in Deutschland 1989“ erklärt:

„Es ist – denke ich – wahnsinnig schwer, die langen Wellen der Geschichte, die wir nur erlernen können, mit den kurzen, die wir erleben, zu verknüpfen […] Vielleicht kann dies auch nur der Kunst gelingen.“ 45

Eine andere Figur, eine Historikerin, greift dies auf:

„Seine Gedanken über die langen Wellen, die wir nur erlernen können, und die kurzen Wellen, die wir erleben, trafen den Kern meiner Arbeit. Diese beiden Wellen zusammen zu analysieren, das ist die Kunst, die die Fachleute aus den Kultur- und Geschichtswissenschaften beherrschen sollten.“ 46.

Von Plato versucht beides, Kunst (Fiktion) und Geschichtswissenschaft (Wahrheit), zu vereinen, er hat einen Roman geschrieben, der auf den lebensgeschichtlichen Erinnerungen seiner Gesprächspartner im Zuge seiner Arbeiten über die deutsche Wiedervereinigung beruht. Es geht darin um den großen Zeitraum zwischen 1944 und 2014 im Nazi-Deutschland, der DDR und im vereinigten Deutschland. (Die politischen Ereignisse in Westdeutschland und Westberlin in den 70er Jahren werden nicht erwähnt.)

Dieser im Selbstverlag erschienene in der medialen Öffentlichkeit kaum bemerkte Roman hat eigentlich das Zeug zu einem populären Schmöker, er ist so etwas wie ein Dokufiction-Krimi. Aber das Interesse an deutscher Vergangenheit schwindet mit dem steigenden Interesse an der Gegenwart. Kommunistischer Widerstand gegen die Nazi-Diktatur und das Ende der DDR, das interessiert angesichts des Ukraine-Krieges nur wenig. Allerdings gibt es aus der Perspektive eines ehemaligen DDR-Dissidenten von 2014 eine deutliche Warnung:

„Ein vereintes Deutschland unter dem Dach der Nato, das Russland aus Europa heraushielt und die Russen demütigte. Das werden wir noch teuer bezahlen. {…} Damit haben wir geholfen Putin groß zu machen.“ 47

Im Zentrum der Handlung steht eine westdeutsche Historikerin Marie, die mit den Mitteln der „oral history“ die Rolle der jüdischen kommunistischen Widerstandskämpfer in der frühen DDR untersuchen will. Sie verliebt sich in Paul Z., einen ihrer Gesprächspartner, ein 70jähriges Mitglied des ZK der SED. Am Tag der Maueröffnung 1989 bricht dieser nach einem Schlaganfall zusammen. Mit allen Mittel des Kriminalromans, – red herrings galore – wird dem Leser die Lösung vorenthalten. Paul hat nach seiner Verhaftung durch die Gestapo unter der Folter Namen der Inlandsleitung der KPD preisgegeben, die danach hingerichtet wurden. Das hat er in der DDR immer verschwiegen, aber der sowjetische Geheimdienst wusste es. Ein Sohn eines der Opfer von Pauls „Verrat“, ein erfolgreicher Filmregisseur, konfrontiert ihn schließlich an jenem Tag des Untergangs der DDR damit. Was zum Zusammenbruch Pauls führt.

Der Erzähler arbeitet mit allen Mitteln des perspektivischen Erzählens. Der erste Teil besteht aus Berichten, Notizen, Gesprächsprotokollen, die eine westdeutsche Journalistin von Marie und anderen beteiligten Personen erhält. Erst im kurzen zweiten Teil wird deutlich, dass dieses Material die Grundlage für einen Fernsehfilm war, den diese Journalistin mit besagtem Filmregisseur gedreht hat. Dieses Material erhält nun Marie zurück und kann damit beweisen, dass der Filmregisseur zwar zu Recht Paul seine Schwäche unter der Nazifolter vorhalten konnte, ihn aber zu Unrecht als Kollaborateur mit dem sowjetischen Geheimdienst diffamiert hat. Der ehrliche Aufklärer war also der Lügner.

Alexander von Plato kennt die Biografien vieler DDR-Bürger aus seiner Forschungsarbeit genau. Und er kennt die Fallstricke der „oral history“-Methode.

„Es kann doch sein, dass man sich immer aus anderen Geschichten und Bildern etwas zurechtklaubt, was zu den eigenen Erfahrungen oder Erlebnissen passt.“ 48

Auch Zeitzeugen sagen nicht immer die Wahrheit. Er hat aber keinen Schlüsselroman geschrieben. Die fiktiven Figuren sind zusammengesetzt aus Puzzleteilen realer Biografien.

Rote Fahnen Rote Lippen

Einen anderen Weg hat Marianne Brentzel beschritten. Sie hat schon 2011 einen Roman geschrieben, aber einen autobiographischen – ein Mittelweg zwischen Erinnerungsbuch (Jasper) und vollständiger Fiktionalisierung (Neitzke).

Hannah Heister heißt die Heldin (die Autorin wählt die Namen mit Bedacht), geboren 1943. Ihr Leben wird erzählt vom Beginn des Studiums 1963 in Berlin am Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität bis zur Auflösung der Partei 1980. Es umfasst also die Entwicklung der Studentenbewegung von ihrem Anfang an bis zum endgültigen Ende ihrer Ausläufer. Die Erschießung Benno Ohnesorgs, das Attentat auf Rudi-Dutschke, die wichtigen Ereignisse werden in ihren Auswirkungen geschildert. Hannah ist zunächst Mitglied des Liberalen Studentenbunds 49, dann wechselt sie zur Proletarischen Linken (Pl/PI), einer locker organisierte Gruppe mit syndikalistischer Ausrichtung, die propagierte, dass Studenten in den Industriebetrieben arbeiten sollten. Hannah arbeitet als Fabrikarbeiterin bei SEL und Gilette. Aber bald ist sie enttäuscht:

„Von einem Haufen von Chaoten, der bald wieder auseinander lief, hatte sie genug.“ 50.

Da kommt die Aufforderung, in die gerade gegründete KPD-AO einzutreten, gerade richtig.

„Wahrscheinlich war die chinesische heute die richtige Form des politischen Kampfes. Auf keinen Fall würden die Genossen der KPD auf die verrückte Idee kommen, einen Art bewaffneten Kampf anzuzetteln.“ [a.a.O. S.103].

Die Motive der Ablehnung des bewaffneten Kampfes der RAF und des Bedürfnisses nach Stabilität und Orientierung, die auch Helmut Lethen erwähnt, werden auch hier deutlich.

Nun wird der Roman eine Parteigeschichte, erzählt aus einem ganz spezifischen Blickwinkel. Alle Personen sind erkennbar, wenn auch unter Pseudonym: der unheimliche Genosse Elroh ist Jürgen Horlemann, Genosse Olaf (Peter Neitzke) zerreißt ein Stalin-Bild und wird aus dem ZK ausgeschlossen. Katharina, die Große Ka, (Ruth Henning) beherrscht kompetent und mit flexibler Unnachgiebigkeit die regionale Leitung. Der Parteivorsitzende Brotler (Christian Semler) kommt nur am Rande vor. Hannah hat schon vor ihrem Parteieintritt einen kleinen Sohn und sie wird Funktionärin, zieht im Auftrag der Partei von Berlin nach Dortmund. Und was den Roman weit über eine Parteigeschichte hinaushebt, ist die Gestaltung dieses Konflikts zwischen privatem Familienleben und bedingungslosem Einsatz für die politische Organisation.

Diese Hannah ist eine Frau von heftigem Temperament, spitzer Zunge und erheblichem Tätigkeitsdrang. Auch nach einer unerfreulichen Weihnachtsfeier in der Parteizentrale hält sie daran fest:

„Der pausbäckige Familienalltag soll nicht meine Sache sein.“ 51

Aber sie sieht sich und ihre Genossen als

„Marionetten der selbstgesetzten Pflichten {…} ganz und gar nicht die allseits entwickelten Persönlichkeiten, die wir einmal werden wollten. Eher wie Hamster im Rädchen. Das Partei ist unsere Welt. Wir laufen und laufen und kommen uns sehr wichtig vor. Aber wir kommen keinen Meter voran.“

So beweint sie ihr Leben, „wusste am nächsten Morgen nicht mehr genau warum.“ 52Auf die Frage ihrer Pariser Freundin „Wozu das alles?“ antwortet sie

„Weißt du, es ist schwer zu erklären, weil es neben der inneren Überzeugung auch ein Leben in einem festen sozialen Umfeld ist.“ 53

Und sie lässt nicht locker, wird Mitglied der Regionalen Leitung Nordrhein-Westfalen, wiederum mit unterdrückten Selbstzweifeln:

„Warum wollte sie das eigentlich? War es Ehrgeiz, der sie trieb? Der Wunsch nach mehr Anerkennung?! Sicher spielten diese ‚erzbürgerlichen‘ Motive auch eine Rolle, wie sie Lena in Paris gestanden, aber hin zugefügt hatte, vor allem wolle sie ‚der Sache‘ besser dienen.“ 54

In dieser Funktion vertritt sie die vollständige Unterordnung aller persönlichen Bereiche unter den Primat der Politik auch gegenüber anderen. Einem Genossen, der sich weigert, von Duisburg nach Solingen umzuziehen, macht sie das klar und beschwichtigt danach ihre eigenen Zweifel.

„Er hätte nein sagen können, beruhigte sie sich. Über mein Leben bestimmt die Partei doch auch. So ist das nun mal, wenn man bei uns mitmacht. Anders geht es nicht.“ 55

Nach einer ausführlich geschilderten Abtreibung 56 bekommt sie problemlos in zweites Kind. Und doch bleibt der Zwiespalt:

„Familie, dachte Hannah in dieser Zeit häufig, Familie ist etwas Verrücktes. Eine Dennoch-Konstruktion. Man will sie und will sie doch nicht.“ 57

Eine China-Reise mit der Parteidelegation auf Einladung der Kommunistischen Partei Chinas sorgt für die endgültige Desillusionierung. Das Land der Utopie ist auch nur eine widersprüchliche Wirklichkeit. Am Ende steht die erlösende Selbstauflösung der Partei im Frühjahr 1980.

Der stille Held im Hintergrund, der das alles möglich macht, ist Hannahs Ehemann Rolf, das ist Hugo Brentzel 58, der langjährige Anwalt der Partei, der selbst kein Mitglied war, aber zahlreiche Genossen in ungezählten Prozessen verteidigt hat, mit denen Staatsanwaltschaften die Parteimitglieder überzogen. Er ist immer da, um die Kinder zu betreuen, wenn Hannahs Termine Vorrang haben, er ist da, um Hannah zu trösten in ihren Verzweiflungsnächten. Diese privaten Szenen, die die Parteiberichterstattung immer wieder unterbrechen, geben dem Bericht erst den Charakter eines Romans.

Der Roman hat aber noch ein zweites Element: in die Erzählung des Lebens Hannahs sind immer wieder Texte eingeschoben, die den Titel „Hildes Tagebuch“ tragen. Erst am Ende wird klar, dass Hannahs Freundin Hilde ihr dieses Tagebuch übergeben hat. (Ein ähnliches erzähltechnisches Manöver wie in Alexander von Platos Roman die Übergabe der Materialien der Journalistin Barbara an die Historikerin Marie.) Diese Texte erzählen bruchstückweise die Suche Hildes nach ihren Ursprüngen. Sie ist als Tochter einer KZ-Wärterin im KZ Ravensbrück geboren. In diversen Etappen der Erzählung wird deutlich, dass diese Herkunft für Hilde sowohl ein Grund war, sich der kommunistischen Partei anzuschließen als auch, dass sie diesen Grund für sich behalten will, ihn nicht der Partei als Argument zur Verfügung stellen will. Sie nimmt dafür in Kauf, von der Partei ausgeschlossen zu werden.

Diese Parallelgeschichte zu Hannahs Karriere, vertieft das Thema des Konflikts zwischen Privatheit und politischer Tätigkeit weiter: das richtige Motiv führt zur Trennung von der Partei, das falsche Motiv führt zum Aufstieg in der Partei.

Morelli verschwindet

Die literarische Spitze der Erinnerungsbücher dieser Autorengruppe ist Peter Neitzkes Roman „Morelli verschwindet“. Es ist Gegenwartssatire, Kritik der Erinnerungsliteratur, Abrechnung und Versöhnung mit der Vergangenheit – alles in einem. Ein Roman mit Bitterkeit und Humor, von einer überlegenen Reflektiertheit, die man in kaum einem anderen Roman finden wird. Und ein Lesevergnügen der herausfordernden, spannenden Art.59
Die Grundidee des Romans ist alles andere als naiv: Gregor Hellman, ein Barpianist, engagiert Frantz Morelli, einen Architekten, als Ghostwriter, der mithilfe von Hellmanns Notizen dessen Autobiographie schreiben soll. Alles ist hier verdreht und verspiegelt. Hellman klärt Morelli auf:

‚Schriftsteller {…} geben als Fiktion aus, was sich mehr oder weniger aus Elementen der eigenen Biographie zusammensetzt. Aber mit den üblichen Tricks die eigene Person verdunkelt. Mich interessiert das Umgekehrte: Wie, wenn das eigene Leben eine Fiktion ist? Wie löst man das literarisch?‘“ 60

Und Morelli versteht seine Rolle für Hellman als „eine Art produktiver Schatten, als investigatives Double, als Frageinstanz und handwerkliches Spaltprodukt.“ 61

Aber Morelli verschwindet, wirft seine Matratze samt Manuskripten aus dem Fenster seiner Wohnung im 5. Stock in den Fluss und reist ab, mit unbekanntem Ziel. Für Hellmann schreibt er nichts, die Dreitausend, die er als Anzahlungshonorar erhalten hat, gibt er nicht zurück. Der Roman wechselt nun ständig die Perspektiven zwischen Hellmann und Morelli. Hellmann sucht Morelli, meint ihm zu begegnen. Das gibt eine Reihe von satirischen Vignetten der Gegenwart: ein Besuch im Einkaufsparadies „Universum“, assistiert von einer digitalen Kaufberaterin, der mit marxistisch geschulter Begrifflichkeit endet:

„‚Keine Angst. Die Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums werden darauf verzichten, die Produktionsverhältnisse zu revolutionieren.‘ ‚Und was machen sie stattdessen?‘ ‚Sie finden ihr Betätigungsfeld in der Zirkulationssphäre.‘“ 62

Oder der Vortrag eines berühmten Künstlers in der Kunsthochschule:

„Sprechakte als Marktereignisse über den Planeten geschoben. Das Geschäftsfeld heißt performativer Ansatz oder performative turn.“ 63

Und ein Besuch in einer umgebauten Industriehalle, ein die „Chambers of Posthumus Fame. Nachruhm-Kammern.“ eingebaut wurden, kleine fensterlose Kubikel für Menschen, die verschwinden wollen. Dort gibt es auch „Kammern für Renegaten jeglichen {…} Kammern für Kommunisten einst konkurrierender Generallinien.“ 64.

Hellmann hat inzwischen in Morellis verlassener Wohnung Fragmente eines Adressbuchs gefunden, alles nur Adressen von Personen mit Anfangsbuchstaben K., ein Lateinlehrer, ein Zeitungsredakteur, ein Optiker, seine frühere Vermieterin, eine Stimmberaterin, eine Klavierlehrerin, eine Performerin. Die interviewt er nun nacheinander. Er erhält Auskünfte über Morellis Vergangenheit, aber keine über seinen derzeitigen Aufenthaltsort.

Im zweiten Teil wir nun aber deutlich, wohin Morelli verschwunden ist: nach Dubai, wo er die Endphase des dortigen Baubooms erlebt. Dort trifft er aber auch einen Schriftsteller. Das ergibt das „Kunstgespräch“ des Romans, in dem die Geheimnisse seiner Machart freigegeben werden. Der Schriftsteller empfiehlt Julio Cortazárs Methode:

Ironie, unablässige Selbstkritik, Inkongruenz, Phantasie in niemandes Diensten. {…} Du musst den Antiroman schreiben, ohne jede geschlossene Ordnung. Musst deine Leser zu Komplizen machen. Ihnen so etwas wie eine Fassade mit Türen und Fenster geben, nicht mehr. Dahinter werden sie jede Menge umaufgelöster Widersprüche {…} Sie werden hinter der Fassade mit Türen und Fenstern eine Welt aus Ruinen entdecken. Und jubilieren.“

Morelli entgegnet:

„Nur mit diesen Tricks schreibst du heute keine Erzählung. Die Form kann konventionell sein. Sie muss es nicht, sie kann. So konventionell, dass man verführt wird, in deine Geschichte einzutauchen. Und es eine Weile bei dir aushält. Brüche und Einbrüche musst du aufschieben. {…} Vor allem muss deine Erzählung eine Erzählung aus deiner Zeit sein, mit jeder Zeile. {…} Die Fassade ist die Konvention. Deine Ruinen sind nicht die Ruinen der Erzählform, das interessiert nur Theoretiker, sondern die Ruinen deiner Gegenwart. Wenn ich schreibe, berichte ich ja von Trümmern, von Staubwolken. Von der Jauche der Welt, in der ich lebe.“ 65

Dass dies nicht nur die selbstreferentiellen Pirouetten eines unentschlossenen Literaten sind, sondern wirklich das Vermächtnis des realen Peter Neitzke, wird immer wieder deutlich. Ein Gesprächspartner Hellmanns sagt zum Beispiel über Morelli:

„Sie wissen vielleicht, dass er irgendwann eine dieser linken Politsekten mitbegründet hat.“ 66

Und in einer der als „Fundsachen“ eingeschobenen Notizen Morellis heißt es:

„Morelli, hat ihm einmal einer gesagt, hier wird politisch argumentiert, nicht moralisch, moralisch war kleinbürgerlich, die eigene armselige Person ins Zentrum rückend, dein Name ist nicht Morali, hat der Parteisekretär einmal gesagt und dabei maliziös gelächelt, dein bürgerlicher Name ist Morelli, moralisch wird hier nicht argumentiert, um Moralisches ging es nicht, politisch war, die eigene Person in die Regie des Politischen zu nehmen, politisch war, die Leute danach zu beurteilen, wo sie standen, auf der richtigen oder der falschen Seite. Er ahnte, dass das grundfalsch war, riskierte aber mit den Genossen keinen Streit.“67

Vor dem Abschied aus der Wüste der Neubauruinen in Dubai zitiert Morelli im Selbstgespräch sich die Kritik der Trinitarischen Formel der Vulgärökonomie (Kapital, Boden, Arbeit) aus dem Dritten Band des Kapitals von Karl Marx 68, dass das wahre Reich der Freiheit nur auf dem Reich der Notwendigkeit als einer Basis aufblühen kann.

„Du suchtest hier dein privates Reich der Freiheit. Hat nicht geklappt, wie man sieht. Klappt nirgends, solange …“ 69

Schließlich treffen Hellmann und Morelli doch noch aufeinander, am Ostseestrand, verprügeln sich gegenseitig und spielen dann einträchtig auf Morellis Flügel [Peter Neitzkes Flügel] vierhändig Bill Evans Song „What are you doing the rest of your life?“. Morelli verweigert weiterhin die Biographie Hellmanns:

„Warum sollte er unbedingt sein Leben ausbreiten wollen, irgendeine Deprigeschichte.? {…} Eine Todesanzeige, falls sie denn jemand in die Zeitung gesetzt und ich sie (was sonst) zufällig entdeckt hätte, würde mich nicht erstaunen.“ 70

Am 13.5.2015, kurz vor dem Erscheinen dieses Romans, ist Peter Neitzke gestorben.

 

Literaturliste:

  • Marianne Brentzel, Rote Fahnen Rote Lippen. Roman. Edition Ebersbach, 2011
  • Helmut Lethen, Suche nach dem Handorakel. Ein Bericht. Göttingen: Wallstein, 2012
  • Alan Posener, „Was ich der KPD verdanke (1-3)“. starke-meinungen.de, 25.6.2013
  • Christian Semler, Kein Kommunismus ist auch keine Lösung. Texte und Essays. Hg. v. Stefan Reinecke und Mathias Bröckers. Berlin: taz, 2.Auflage, 2013
  • Peter Neitzke, Morelli verschwindet. Roman. Lohmar: Hablitzl, 2015
  • Willi Jasper, Der gläserne Sarg. Erinnerungen an 1968 und die deutsche „Kulturrevolution“. Berlin: Matthes & Seitz, 2018
  • Alexander von Plato, Verwischt. Eine Liebe in Deutschland 1989. Berlin: neobooks, 2019
  • Helmuth Lethen, Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Berlin: Rowohlt, 2020
  • Marianne Brentzel, Rathaussturm. Vechta: Geest-Verlag, 2021

Sekundärliteratur:

  • Klaus Birnstiel, „Gelehrtenexoterik. Einige akademisch-intellektuelle Erinnerungs- und Notizbücher.“ in: Merkur 67 (2013), S. 354-360.
  • Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht, 1998
  • Dorothea Kraus, Theater-Proteste. Zur Politisierung von Straße und Bühne in den 1960er Jahren. Frankfurt: Campus, 2007
  • Andreas Kühn, Stalins Enkel, Maos Söhne. Die Lebenswelt der K-Gruppen in der Bundesrepublik der 70er Jahre. Frankfurt/M, New York, Campus 2004.
  • Michael Rutschky, Erfahrungshunger. Ein Essay über die siebziger Jahre. Köln: Kiepenheuer& Witsch, 1980
  • Karl-Heinz Schubert, „Zur Geschichte der westberliner Basisgruppen“, aus: Aufbruch zum Proletariat. Dokumente der Basisgruppen, eingeleitet und ausgewählt von Karl-Heinz Schubert, Westberlin 1988
  • Benedikt Sepp, Das Prinzip Bewegung. Theorie, Praxis und Radikalisierung in der West-Berliner Linken 1961-1972. Göttingen: Wallstein, 2023

 

  1. 16.5.1941-31.3.2022
  2. -17.12.2022
  3. 11.6.1945-3.2.2023
  4. 31.5.1943-15.3.2023
  5. Elisabeth Weber war 1970 der führende Kopf der Roten Zelle Germanistik an der Berliner FU und dann bis 1980 Mitglied der Leitung der KPD(ehemals AO). Nach 1980 war sie Mitarbeiterin verschiedener Bundestagsabgeordneter der „Grünen“ und entscheidend beteiligt an der Vorbereitung der Fusion von Bündnis 90 und „Die Grünen“. Nachruf Böll-Stiftung, Nachruf Havemann-Gesellschaft
    Ruth Henning war ebenfalls Mitglied des ZK der KPD(ehemals AO). Nach 1980 unterstützte sie die polnische Opposition, lebte zeitweise in Polen und gründete die Deutsch-Polnische Gesellschaft Brandenburg. Nachruf Märkische Oderzeitung
    Willi Jasper war 1976-1980 Chefredakteur der „Roten Fahne“, der Wochenzeitung der Partei. Seit 1994 war er Professor für Neuere deutsche Literatur- und Kulturgeschichte und Jüdische Studien an der Universität Potsdam. Gespräch Deutschlandfunk 2022
    Antje Vollmer, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags von 1994-2005, „trat der Partei {KPD-AO} nicht bei“ und war nur Mitglied der „Liga gegen den Imperialismus“, einer Tochterorganisation der KPD, hat aber durch ihre unter Pseudonym (Karin Bauer) veröffentlichte Biografie Clara Zetkins (Oberbaum Verlag, Berlin 1978) und einen Artikel zur Frauenfrage in der „Roten Fahne“ jedenfalls Einfluss auf die frauenpolitische Linie der Partei genommen. Nachruf taz
    Dass diese Personen hier vor allem in ihren Funktionen in den Jahren 1970-1980 erwähnt werden, bedeutet nicht, dass ihre späteren Tätigkeiten und Positionen nicht zu würdigen wären. Alle hier genannten haben nach 1980 bedeutende Beiträge zur Politik und Kultur in Deutschland geleistet, die hier nicht im Einzelnen erwähnt werden können. Was sind schon diese 10 Jahre gegen die 30 oder 50 folgenden!
  6. 7.12.1941-24.5.1995 Nachruf Südostasien Informationen
  7. 13.12.1938-13.2.2013 taz Übersicht über Nachrufe, Drei taz-Erinnerungen
  8. 21.8.1938-15.3.2015 Nachruf Bauwelt
  9. Jürgen Horlemann, Christian Semler und Peter Neitzke waren das Gründungs-Triumvirat der KPD-Aufbauorganisation, die Ende 1969 aus der Auflösung des Berliner SDS und der RPK-Konferenz hervorging. Die KPD-AO wurde auch spöttisch „Semler-Horlemann-Neitzke-Gruppe“ genannt.
  10. Eine ausführliche Darstellung der K-Gruppen, einschließlich der KPD-AO, als Gegenstand historischer Forschung ist: Andreas Kühn, Stalins Enkel, Maos Söhne. Die Lebenswelt der K-Gruppen in der Bundesrepublik der 70er Jahre. Frankfurt/M, New York, Campus 2004.
    Der Nachteil dieser aus zeitlicher und intellektueller Distanz zur ML-Bewegung geschriebenen Arbeit ist die Faszination des Autors für die abstoßenden Züge seines Gegenstands. Er sammelt alle verwerflichen oder verwunderlichen Praktiken und Auffassungen, die er finden konnte (und das sind zu Recht viele). Ein Bemühen, die Motive der damals Handelnden zu verstehen, außer in den distanzierten Formeln der Sozialpsychologie, geht ihm völlig ab. Zudem behandelt er die drei Organisationen KPD-AO, KPD/ML und KBW im Zusammenhang und wird damit der KPD(ehemals AO) vor allem in den letzten zwei Jahren ihrer Existenz nicht gerecht. Eine Einordnung in die politischen Entwicklungen in Deutschland und der Welt der 70er Jahre fehlt völlig (vgl. die Rezension von Thomas Dannebaum). Eine sehr viel tiefergehende Analyse der Entstehung der KPD-AO findet sich in der Dissertation von Benedikt Sepp, Das Prinzip Bewegung. Theorie, Praxis und Radikalisierung in der West-Berliner Linken 1961-1972. Göttingen: Wallstein, 2023. Sepp erklärt die fortschreitende Selbstverhärtung und Selbstabschließung der KPD-AO damit, dass im Gegensatz zur vorangehenden Studentenbewegung die Theorie als wahr und gültig vorausgesetzt wurde, und somit, wenn die „Bewegung“ weiter fortschreiten sollte, nur die unzureichende Umsetzung der Theorie in die Praxis als Erklärung möglich war. (Zur KPD-AO: S.270-303)
  11. Semler, S.32, taz 1998. Die abgekürzten Zitatnachweise verweisen auf die Literaturliste am Ende
  12. Der Schreiber dieser Zeilen war 1970 Mitglied der Roten Zelle Germanistik der FU Berlin, dann bis 1976 des Kommunistischen Studentenverbandes (KSV), danach Mitarbeiter der Zeitschriften „Kämpfende Kunst“, „Kunst und Gesellschaft“ und „Spuren“ und 1978-1980 Kulturredakteur der Wochenzeitung „Rote Fahne“ der KPD(ehemals AO).
    Meine Aufgabe war die Öffnung der Zeitung zur allgemeinen Öffentlichkeit. Also schrieb ich vor allem Rezensionen von aktuellen Filmen und Romanen. Meine Artikel waren insofern erfolgreich, als sie viele empörte Leserbriefe nach sich zogen. Schließlich gab es im Umkreis der Partei viel kompetentere Beurteiler als diesen wenig belesenen Jungspund.
    Der Satz „war nie Mitglied der Partei“ hat in Deutschland eine anrüchige Tradition, aber in diesem Falle ist er unvermeidlich. Ich war in verschiedenen Funktionen subalterner Mitarbeiter der Parteizentrale in Dortmund und dann in Köln, ohne Mitglied der Partei zu sein. Als man mir 1979 den Aufnahme-Antrag aushändigte mit der Bemerkung, ich sei nur vergessen worden, hatte ich mit der „Rote Fahne“-Redaktion bereits für die Auflösung der Partei plädiert und gab das Formular nicht zurück.
  13. Lethen, Handorakel, S. 11
  14. ehemaliges  Mitglied der regionalen Leitung Nordrhein-Westfalen der KPD und Mitglied der Parteidelegation in China 1979
  15. Brentzel, S.175
  16. Semler S. 80, taz 2001
  17. In seiner 2020 erschienen Autobiographie „Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Erinnerungen“ greift Lethen für die hier interessante Phase von 1969 bis 1980 auf seinen älteren „Bericht“ zurück und fügt wenig Neues hinzu.
  18. Lethen, Handorakel S. 72
  19. Lethen, Handorakel S.21
  20. Lethen, Handorakel, S.25
  21. Lethen, Handorakel, S. 27
  22. Lethen, Handorakel, S. 14
  23. Lethen, Handorakel, S. 13
  24. „Die erste Etappe des Aufbaus der Kommunistischen Partei des Proletariats“ Thesenpapier von Semler, Horlemann, Neitzke, Hartung, Chr. Heinrich, Jasper. Darstellung des Ablaufs der Konferenz, in: Karl-Heinz Schubert, „Zur Geschichte der westberliner Basisgruppen“, aus: Aufbruch zum Proletariat. Dokumente der Basisgruppen, eingeleitet und ausgewählt von Karl-Heinz Schubert, Westberlin 1988
  25. Die Partei aufbauen. Plattformen, Grundsatzerklärungen. Berlin, 1971
  26. Alan Posener, Was ich der KPD verdanke 1-3. starke-meinungen.de
  27. Alan Posener, Was ich der KPD verdanke 3. starke-meinungen.de
  28. zit. bei Jasper, S. 53
  29. Lethen, Handorakel S. 19. Die erste deutsche Ausgabe der Schriften des Bühnenbildners und Theaterreformers Edward Gordon Craig (1872-1966) wurde 1969 von den späteren KPD-AO Gründungsmitgliedern Elisabeth Weber und Dietrich Kreidt herausgeben: Edward Gordon Craig, über die kunst des theaters. Berlin: Gerhart Verlag, 1969
  30. Jasper, S.58-63
  31. Eine ausführliche Darstellung der Ereignisse im Zusammenhang mit dieser Inszenierung durch einen der Beteiligten findet sich in Wolfgang Schwiedrziks Beitrag „Theater als ‚Aktion'“ in: Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht, 1998, S. 224-238
  32. Eine Darstellung der politischen Entwicklung der Schaubühne am Halleschen Ufer zwischen 1960 und 1970, geschrieben aus der Distanz von vierzig Jahren, findet sich in der Dissertation von Dorothea Kraus, Theater-Proteste. Zur Politisierung von Straße und Bühne in den 1960er Jahren. Frankfurt: Campus, 2007, S.281-301.
  33. Jasper, S.133
  34. Ingrid Gilcher-Holtey, S. 238
  35. „Der Apparat war ein selbstdestruktiver Trichter, der Bewegungsenergien im Selbstlauf von Wiederholungen im Inneren verschlang, aber in der unübersichtlichen Situation der 70er Jahre stabilisierende Wirkung nach außen hatte.“ Lethen, Handorakel, S.18
  36. Jasper, S.33
  37. Lethen, Handorakel,S. 18
  38. Wir warn die stärkste der Partein… Erfahrungsberichte aus der Weit der K-Gruppen, Berlin 1977
  39. Michael Rutschky, Erfahrungshunger. Ein Essay über die siebziger Jahre. Köln: Kiepenheuer& Witsch, 1980. Ist „Germanist L.“ in Rutschkys Darstellung des Germanistentags in Berlin 1968 im ersten Kapitel des Essays wirklich Helmut Lethen?
  40. Posener, Teil 3
  41. Semler, S. 167
  42. Semler, S. 34-36
  43. Walter Benjamin, Illuminationen S. 413, zit. bei Lethen, Handorakel S.51f
  44. (*1942). Seine Dissertation Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik. KPD und Komintern, Sozialdemokratie und Trotzkismus. Oberbaumverlag, Berlin 1973 prägte das historische Verständnis der KPD-AO-Kader entscheidend. Er war dann Leiter des Jugendverbandes KJVD der KPD.
  45. v. Plato, S. 302f
  46. v.Plato, S. 304
  47. von Plato, S.283f
  48. v. Plato S. 312
  49. Der Liberale Studentenbund Deutschlands war eigentlich der Studentenverband der FDP, hatte sich aber bereits in den 60er Jahren von der FDP gelöst und verstand sich als Bestandteil der „sozialistischen Opposition.“
  50. Brentzel, Rote Fahnen S.102
  51. a.a.O. S.141
  52. a.a.O. S.142
  53. a.a.O., S. 157
  54. a.a.O., S. 160
  55. a.a.O., S.209
  56. Die nicht, wie im Klappentext steht, von der Partei „diktiert“ ist, sondern auch von ihr gewollt. Ihr erste Reaktion auf die Feststellung der Schwangerschaft beim Gynäkologen ist „Das will ich nicht, kein Kind und keine Herztöne.“ Später wiederholt sie „Ich will es {die Abtreibung} auch“ S.202
  57. a.a.O., S.226
  58. ✝︎2017
  59. vgl. die Rezension von Andreas Platthaus in Frankfurter Allgemeine Zeitung 12.5.2015
  60. Neitzke, S.24
  61. a.a.O, S. 57
  62. a.a.O., S. 32
  63. Oa.a.O., S. 34
  64. a.a.O., S.45-47
  65. a.a.O. S.118f
  66. a.a.O, S. 76
  67. a.a.O, S.51
  68. Karl Marx, Das Kapital Bd. III. 48. Kapitel, in: MEW Bd. 25, S. 828
  69. a.a.O., S.125
  70. a.a.O., S.139

Theater und politische Theologie – Die zwei Körper des Königs

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Rezension der Einleitung von  Peter W. Marx, Macht |Spiele. Politisches Theater seit 1919. Alexander Verlag Berlin 2020, 223 S. 1

Peter W. Marx will mit seinem neuen Buch „Macht|Spiele. Politisches Theater seit 1919“ exemplarisch nachvollziehen, wie die verschiedenen „Denkfiguren“ sich entwickelt haben, mit denen die sich wandelnden staatlichen Machtverhältnisse in Deutschland seit dem Ende des ersten Weltkrieges auf den Theatern „bedacht“, in sinnlich anschaulicher Form betrachtet und untersucht werden. Dabei ist das Verhältnis von Theater(spiel) und Macht ein wechselseitiges: die Macht inszeniert sich in der Politik, stellt sich zur Schau und das Theater inszeniert Macht (und deren Selbstinszenierung) in der Fiktion auf der Bühne. Die „Spannung zwischen den Inszenierungen von Macht und Politik und den theatral-fiktiven Reflexionen“ 2 nennt Marx die „Grundachse“ seiner Darstellung. Die Konzentration der Darstellung der Geschichte des politischen Theaters in Deutschland auf diese Denkfiguren und ihre Konkretisation auf exemplarische Inszenierungen ist der große Vorzug diese Buches gegenüber anderen theatergeschichtlichen Darstellungen. 3. Peter W. Marx‘ Verständnis von Theatergeschichte als Sozialgeschichte wird durch diese konzentrierte Darstellungsweise bestätigt. Und da sie über faktenhuberische Nacherzählung von Vergangenem hinausgeht zur Darstellung intellektueller und politischer Strömungen, regt sie an und reizt zur Auseinandersetzung.

In seiner „Einleitung“ stellt Marx den theoretischen Ausgangspunkt seiner Untersuchungen dar. Dazu einige Anmerkungen:

Body politic – Staatskörper oder Politikerkörper?

Um die „Formen politischer Kommunikation“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu verstehen, beruft sich Marx auf Ernst H. Kantorowicz’ historische Analyse der Theorie der zwei Körper des Königs 4. Marx findet bei Kantorowicz die Beschreibung einer „Praxis der sinnlichen Verdopplung des Herrscherkörpers“. Kantorowicz zeigt diese Praxis tatsächlich an vielen Beispielen von Herrscherbildern, Münzen, Gemälden, Trauerzügen 5, Grabplatten. Aber die Grundlage dafür bietet eine juristische Argumentation mittelalterlicher Rechtsexperten, die Kantorowicz in vielen Details nachzeichnet. Es geht in dieser Theorie, die vor allem bei den Juristen des elisabethanischen Englands eine Rolle spielte, um die juristische Sicherung der Kontinuität des Staates. Die imaginäre Verdopplung des Herrscherkörpers war ein notwendiges Stadium in der Herausbildung des Bewusstseins, was ein Staat ist, dass ein Staat besteht und nicht nur ein Herrscher herrscht.

Für das abstrakte Gebilde des Staates, der aus einem Gefüge verschiedener Institutionen, Rechtsvorstellungen und Personen besteht, verwendete man seit den Römern 6 die Metapher des Körpers 7. Kantorowicz weist nach, wie christliche Theologie die Übertragung dieser Vorstellung auf die Monarchen Europas möglich machte. Kantorowicz zeigt aber auch, dass die Fortführung dieser mittelalterlichen Theorie in der Renaissance vor allem auf England beschränkt blieb und betont, dass dieses Theorie in Deutschland keine Rolle spielte. 8 Der englische Historiker Quentin Skinner bedauert, dass Kantorowicz seine Untersuchungen nicht über den Beginn des 17. Jh. hinaus fortgesetzt hat, denn dann hätte er die Ersetzung der Theorie der zwei Körper durch andere Begründungen der Staatlichkeit festgestellt 9 Marx aber überträgt die Theorie der zwei Körper des Herrschers auf Wilhelm II. Ihm sei es um die „Erzeugung eines virtuellen body politic“ gegangen, um die „mediale Verdopplung des Kaiserkörpers“. Marx interessiert also die mediale, bildliche Repräsentanz des Herrschers. Der „body politic“ im Sinne der englischsprachigen Staatstheorie ist aber das gesamte Staatswesen, nicht nur die medial vermittelte Präsentation eines Herrschers. Kantorowicz eindringliches Bild der zwei Körper eignet sich nicht, um die modernen Mechanismen der Darstellung von Macht zu analysieren. Die mittelalterliche Zwei-Körper-Lehre kann nicht gleichgesetzt werden mit der modernen Unterscheidung zwischen dem realen Körper von Regierenden und dessen Abbildung in den Medien. 10.

Deutschland war zur Zeit Wilhelms II. eine sich rasend schnell entwickelnde Nation mit vielfältigen, starken politischen Strömungen, einem hochentwickelten bürokratischen Apparat, dessen Modernität nur durch die glitzernde feudale Oberfläche verdeckt wurde – eine zutiefst heuchlerische staatliche Struktur 11, aber kein mittelalterliches Kaisertum und keine absolutistische Monarchie. Die Theorie, dass der Staat eine juristische Person ist, die „sich in und nicht über das Recht stellt“, also ein Rechtsstaat, in dem das Volk die letzte Quelle des Rechts ist und der Monarch nur ein Organ dieser Gesamtpersönlichkeit, war in der deutschen Rechtswissenschaft von Otto Gierke längst entwickelt worden, kam aber in der politischen Wirklichkeit nicht zum Zuge. 12.

Marx illustriert seine Auffassung mit dem bekannten, 1919 veröffentlichten Titelbild einer Illustrierten, das Reichspräsident Ebert und Innenminister Noske in Badehosen zeigt, und resümiert „Die Nacktheit des body natural disqualifiziert den neuen body politic.“ 13 Es geht also darum, wie das Bild der Körper der Repräsentanten des Staates von ihren Gegnern in der öffentlichen Auseinandersetzung durch die Medien eingesetzt wird. Die Körper-Metapher für den „unsterblichen“ Staat als Ganzes, der mit body politic in der Theorie der zwei Körper des Königs gemeint ist, spielt dabei eigentlich keine Rolle.

Vom Körper zum Staat und zurück

Peter W. Marx beruft sich auf Hans Beltings Rezeption der von Kantorowicz dargestellten Theorie der zwei Körper des Königs.14 Belting zeigt zu Recht, dass jeder menschliche Körper selbst ein Bild ist, noch bevor er in einem Bild nachgebildet wird 15. In Beltings Zusammenfassung von Kantorowicz’ Kapitel über „Effigies“ zeigt sich aber auch die terminologische Verwirrung. Eine „Effigies“ war eine Puppe, die bei der Beerdigung des Königs an Stelle des toten Herrschers die Insignien der Macht trug und zusätzlich zum Sarg beim Leichenzug mitgeführt wurde Diese Praxis war zunächst in England bei Edward II, dann im 16. und 17. Jahrhundert in Frankreich üblich. Belting schreibt, es gebe dabei „zwei Körper, die man in einer Amtsperson trennte, einmal um den natürlichen Körper, der sterblich war, und dann um den Amtskörper, der von einem lebenden Träger auf den nächsten übertragen wurde und dadurch Unsterblichkeit erlangte“ 16. Kantorowicz legte ausführlich dar, welche verschiedenen Begriffe für das, was Belting „Amtskörper“ nennt, im Umlauf waren: „corpus mysticum“, „universitas“, „corona“, „body politic“. Im Zusammenhang mit den effigies wird der Begriff dignitas verwendet. 17 Es ist die „Amtswürde“ (d.h. dignitas), wie Belting zwei Sätze später schreibt, die vom Körper des verstorbenen Königs auf die Puppe, die effigies, übertragen wird. Kantorowicz selbst greift auf die Metapher des „body politic“ zurück, wenn er anschließend schreibt „Die im lebenden Körper vereinten zwei Körper wurden nach seinem[des Königs] Ableben sichtbar getrennt.“ 18 Das immer vielfältiger sich ausbildende Gemeinwesen mit seinen Institutionen war immer noch an die Person des Herrschers gebunden. Das Abstraktum des Staates musste in einem menschlichen Körper sichtbar gemacht werden, so wurde „Körper“ (body) der anthropomorphe Begriff für dieses abstrakte Gemeinschaftsgebilde . Belting zeigt an vielen historischen und aktuellen Beispielen die Krise des Körperbildes und ihre Reflexion in der Kunst. Die Theorie der zwei Körper des Königs aber ist eine lange überwundener Phase der Entwicklungsgeschichte des Begriffs des Staates. Der moderne Staat wird nicht mehr verkörpert in einer Person. Er hat nur Repräsentanten, gewählte Personen, deren Körperbilder in der visuellen Kommunikation den allgemeinen Mechanismen des Bildermarktes unterliegen.

In seinem Kapitel über weibliche Machtfiguren auf dem Theater („Die Provokation des Female Body Politic“)19 wendet Marx den Begriff „body politic“ auf die äußere Erscheinung einer Person der Macht an: es geht um die Frisuren des Bundeskanzlers Schröder und der Bundeskanzlerin Merkel. Dass die Darstellung des Körpers von Politikern in den Medien einer demokratischen Gesellschaft eine Rolle spielt, ist offensichtlich. Dass die Darstellung des Körpers von Politikerinnen (und ihrer Selbstdarstellung) den Mechanismen einer patriarchalischen Tradition ausgesetzt ist, ist auch erkennbar und bedauerlich. Aber Politiker sind keine Könige und Politikerinnen keine Königinnen.

Die Karriere eines mittelalterlichen theologischen Begriffes, der in der Renaissance von den Juristen zur Unterscheidung zwischen dem Herrscher und dem Staatswesen ausgebaut wurde, auf dem Theater ist erstaunlich 20. Die Bemühungen der Juristen, aus undeutlichen Metaphern saubere Rechtsbegriffe zu bilden, werden zurückgeführt auf ihren bildlichen Ursprung. Das ist ein Beispiel für die krummen Wege der Visualisierung gesellschaftlicher Kommunikation.

Wer antwortet auf Carl Schmitt?

Peter Marx stellt Max Weber und Carl Schmitt als die beiden Repräsentanten des politischen Staatsverständnisses der Weimarer Republik gegenüber. 21 Peter Marx findet diesen Gegensatz aber auch noch in der Bonner Republik und führt dafür das bekannte Böckenförde-Diktum an, dass der Staat auf Voraussetzungen beruhe, die er nicht garantieren könne. Böckenförde hat wirklich das Kunststück vollbracht, Carl Schmitts Theorie des Politischen und seine Staatstheorie liberal zu interpretieren und als Verfassungsrichter in eine liberale Entscheidungspraxis umzusetzen.22 Das berühmte Böckenförde-Diktum war von ihm vor allem als Appell an die Christen gedacht, die Erhaltung der Freiheit durch den Staat auch als ihre Aufgabe zu betrachten 23. Böckenförde war schließlich auch ein SPD-Politiker. Er war der seltene Fall eines liberalen katholischen Staatsrechtlers, der auch bereit war, sich gegen die Kirchenhierarchie zu stellen.

Aber Böckenfördes Diktum ist weniger eine „Antwort auf Carl Schmitt“ 24 als dessen Fortsetzung unter den Bedingungen der Bonner Republik. Böckenförde verstand sich als Schüler Schmitts. Er berief sich dabei natürlich nur auf dessen Arbeiten in der frühen Weimarer Republik, nicht auf seine NS-Traktate in den ersten Jahren des Dritten Reiches. Aus Schmitts schroffer Ablehnung jeder Art von Pluralismus wird dabei bei Böckenförde der vorsichtige Hinweis auf eine „relative Homogenität“ als Voraussetzung des Staates 25. Als Antwort auf Carl Schmitt kann man eher die Theorie Chantal Mouffes verstehen, die Schmitt zustimmt in der Anerkennung der Notwendigkeit einer Homogenität in einer Demokratie (die sie dann um der Abgrenzung von Schmitt willen „commonality“ nennt). Aber für sie ist diese Homogenität das Ergebnis eines Prozesses in einem Konfliktfeld widerstreitender Kräfte. 26. Diese Theorie wird auch des Öfteren zur Rechtfertigung die Konflikte zuspitzenden Konzepte des aktuellen politischen Theaters verwendet 27.

 

 

  1. Der Begriff der „politischen Theologie“ wird hier in Anlehnung an Carl Schmitts Aufsatz, Politische Theologie.Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. zuerst 1922 (2021. 11., korr. Aufl. 72 S.) verwendet. Er bezieht sich nicht auf die in der protestantischen Theologie debattierte Zwei-Reiche-Lehre. Vgl. Martin Luther, Von weltlicher Obrigkeit (1523). https://www.projekt-gutenberg.org/luther/weltobri/weltobri.html
  2. Marx, S.8
  3. Siegfried Melchinger, Geschichte des politischen Theaters. Velber: Friedrich Verlag, 1971 oder Manfred Brauneck, Die Deutschen und ihr Theater. Kleine Geschichte der „moralischen Anstalt“ oder ist das Theater überfordert? Bielefeld. transcript Verlag, 2018
  4. Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München: dtv, 1990. zuerst engl. Princeton 1957
  5. vgl. das Kapitel „Le Roy est mort“ bei Kantorowicz S. 405-432, das die Begräbnisriten der französischen Könige beschreibt
  6. Livius berichtet von der Fabel des Menenius Agrippa: „tempore quo in homine non ut nunc omnia in unum consentiant, sed singulis membris suum cuique consilium, suus sermo fuerit, indignatas reliquas partes sua cura, suo labore ac ministerio ventri omnia quaeri, ventrem in medio quietum nihil aliud quam datis voluptatibus frui; conspirasse inde ne manus ad os cibum ferrent, nec os acciperet datum, nec dentes quae acciperent conficerent. Hac ira, dum ventrem fame domare vellent, ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem venisse. Inde apparuisse ventris quoque haud segne ministerium esse, nec magis ali quam alere eum, reddentem in omnes corporis partes hunc quo vivimus vigemusque, divisum pariter in venas maturum confecto cibo sanguinem. Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres, flexisse mentes hominum.“ Livius, Ab urbe condita2, 32. https://www.thelatinlibrary.com/livy/liv.2.shtml
  7. A. Koschorke, S. Lüdemann, T. Frank, E. Matala de Mazza, Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt/M: Fischer, 2007. zeichnen diese Entwicklung der politischen Metaphorik detailliert nach.
  8. „Doch scheint es, dass der Begriff der ‚zwei Körper’ des Königs nicht von der frühen Entwicklung und der dauernden Triebkraft des Parlaments im englischen Verfassungsdenken und seiner Praxis zu trennen ist.“ und „Ein deutscher Fürst hatte sich in einem abstrakten Staat einzurichten. Jedenfalls fehlte die Theorie der ‚zwei Körper’ des Königs in all ihrer Kompliziertheit und manchmal skurrilen Konsequenz auf dem europäischen Kontinent so gut wie völlig.“ Kantorowicz S.440. Nur in einer einzigen Fußnote verweist Kantorowicz auf das Deutschland des 20. Jahrhunderts. Dabei geht es um die Eidesformel „pro rege et patria“, die feudale (rege) und staatliche (patria) Pflichten verbindet. Kantorowicz schreibt: „Die Formel pro rege et patria (Für König und Vaterland), die sich in der preußischen Armee bis in die jüngste Vergangenheit erhalten hat, brachte 1918 sich widersprechende Pflichten mit sich, als die Offiziere sich erst nach der Flucht Wilhelms II. nach Holland frei fühlten, der res publica zu dienen, nachdem ihre ‚feudalen‘ Treueide obsolet geworden waren. Eine ähnliche Situation entstand 1945, als der persönliche Eid sie der patria verpflichtete.“ S. 267 Anm. 204
  9. „Kantorowicz trieb seine Erforschung der englischen Quellen nicht weiter als bis zu den letzten Jahrzehnten des ausgehenden 16. Jahrhundert. Angesichts seines im Vorwort angekündigten umfassenden Vorhabens, zu einem Verständnis der Ursprünge und der Mythologie des modernen säkularen Staates beizutragen, überrascht es allerdings, dass er gerade an diesem Punkt damit aufhörte. Hätte er seine Forschungen englischer Quellen noch über eine Generation weiter vorangetrieben, würde er in den englischsprachigen Diskussionen über das Verhältnis zwischen dem politischen Körper von Königen und dem corpus Politikum ihrer Untertanen auf einen epochemachenden Augenblick gestoßen sein. Er wäre an den Punkt gelangt, an dem man vielerorts damit begann, den Körper, von dem es hieß, dass Könige über ihn herrschen, erstmals als den Körper des Staates zu beschreiben.“ Quentin Skinner, Die drei Körper des Staates. Frankfurt: Wallstein, 2012, S.14. Dem Essay Skinners liegt seine Kantorowicz Lecture vom Mai 2011 an der Goethe-Universität Frankfurt zugrunde.
  10. Susanne Lüdemann macht deutlich, dass diese Herrschaftstechnik schon bei Machiavelli angelegt ist und im 17. Jahrhundert bedeutsam wurde, und zeigt die Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser beiden Zwei-Körper-Theorien: „In gewisser Weise ist auch diese Dichotomie zwischen (zu verbergender) Wirklichkeit und (verbergendem) Schein eine politische Zwei-Körper-Lehre: nur dass an die Stelle des unsterblichen und symbolischen Körpers des Königs sein medialer und imaginärer Leib getreten ist.“ A. Koschorke e.a. S. 156
  11. vgl. Fritz Stern „Geld, Moral und die Stützen der Gesellschaft“, in: Das Scheitern illiberaler Politik. Studien zur politischen Kultur Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin: Ullstein-Propyläen, 1974, zuerst engl. 1970
  12. Thomas Frank, „Der Staat als juristische Person“, in: Koschorke e.a. Teil V, S. 374
  13. Marx, S. 14
  14. Marx, S. 12
  15. „Der Körper ist selbst ein Bild, noch bevor er in Bildern nachgebildet wird. Die Abbildung ist nicht das, was sie zusein behauptet, nämlich Reproduktion des Körpers. Sie ist in Wahrheit Produktion eines Körperbildes, das schon in der Selbstdarstellung des Körpers vorgegeben ist.“ Hans Belting, „Das Körperbild als Menschenbild. Eine Repräsentation in der Krise“, in: H.B., Bild-Anthropologie. Paderborn: Fink, 2001, S.89
  16. Belting S.96f
  17. Kantorowicz zitiert den französischen Legisten Pierre Grégoire: „Nam ipse non est dignitas: sed agit personam dignitatis.“ Kantorowicz S. 417
  18. Kantorowicz, S.418
  19. Marx, S.119-203
  20. vgl. z.B. Luise Vogts Inszenierung von Shakespeares „König Lear“ im Schauspiel Bonn 2019, https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=17734:koenig-lear-theater-bonn-luise-voigt-verdoppelt-den-koerper-des-koenigs-und-uebersetzt-shakespeares-pessimistischste-tragoedie-in-eine-abfolge-stilisierter-vorgaenge&catid=38&Itemid=40. Ursächlich für die extensive Rezeption des Buches von Kantorowicz in den Theatern ist wahrscheinlich auch, dass er die Theorie der zwei Körper der Königs zunächst an einem Drama, Shakespeares „Richard II.“, demonstriert.
  21. Max Weber war als Soziologe aber gar nicht Carl Schmitts Gegner, das war eher der Staatsrechtler Hans Kelsen, gegen den Schmitt in seiner Schrift „Politische Theologie“ von 1922 polemisiert. Carl Schmitts Begründung des politischen als „transzendental“ zu bezeichnen, trifft aber seine Theorie nicht genau. Mit Kants Begriff von Transzendentalität, der die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis meint, hat Schmitts Theorie des Politischen jedenfalls nichts zu tun. Eher könnte man sie als eine anthropologische durch den Freund-Feind-Gegensatz begründete Theorie nennen.
  22. vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts“ (zuerst 1988), in: E.-W.B., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1991 , S.344-366.
  23. Böckenförde, a.a.O S.114
  24. Marx S.16
  25. Böckenförde, S.346, 366
  26. Chantal Mouffe, „Schmitt and the Paradox of Liberal Democracy“ (zu erst 1997) in: The Democratic Paradox. London: Verso 2005, p.56
  27. vgl. Florian Malzacher, Gesellschaftsspiele. Politisches Theater heute. Berlin: Alexander Verlag, 2020, S.12-14

Theaterhistorische Aufschlussbohrung – Peter W. Marx über „Hamlet“ in Deutschland

Peter W. Marx, Hamlets Reise nach Deutschland

Peter W. Marx, Hamlets Reise nach Deutschland. Eine Kulturgeschichte. Berlin: Alexander Verlag, 2018, 435 S. ISBN 978-3-89581-490-7, 35,- €

Das Theater als vergängliche Kunst hat ein besonderes Verhältnis zum Gedächtnis. Theater ist nicht nur die Kunstform der absoluten Gegenwart, der Gleichzeitigkeit von Performanz und Rezeption, es ist auch die Kunstform des Gedächtnisses. Ohne Erinnerung kein theaterkritischer Diskurs, ohne Diskurs keine Kunst. 1 Schon der lockere Plausch nach dem Theaterbesuch („Wie fandest du es denn?“) setzt das Gedächtnis voraus. Und Theaterkritik ist auch Gedächtnishilfe. Die deutsche Theaterwissenschaft dagegen versucht eher der gegenwärtigen Theaterpraxis voraus zu sein als dem Theater der Vergangenheit nachzudenken. Theatergeschichtsschreibung scheint etwas für Pensionisten zu sein. Um so erstaunlicher, dass Peter W. Marx, seit sechs Jahren Professor für Theaterwissenschaft in Köln, eine groß angelegte, gut lesbare theatergeschichtliche Studie vorgelegt hat: die Geschichte der deutschsprachigen „Hamlet“-Inszenierungen2.

Die deutsche Nostrifizierung Hamlets

Spätestens seit der deutschen Übersetzung der Romantiker August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck reklamiert man in Deutschland eine besondere Beziehung zu Shakespeare. Dass er Brite war, wird als unglücklicher Zufall abgetan. Dass er ein Autor von Weltruhm ist, interessiert nicht. Shakespeare ist unser! Im 19. Jh. schon wird von Shakepeares „urgermanischer Natur“ phantasiert 3. Auch im nationalistischen Getümmel des 1. Weltkriegs hält man an der „Nostrifizierung“ Shakespeares fest4. Und Hamlet ist dabei die entscheidende Figur, weil er eine „Aufforderung zur Selbst-Identifikation“ 5 darstellt. „Hamlet“ ist für die Deutschen ein „Sehnsuchtsstück“ 6.
Peter W. Marx unternimmt eine Aufschlussbohrung in die deutsche Geschichte. Mit „Hamlet“, der seit den fahrenden Schauspielertruppen des frühen 17. Jahrhunderts auf den deutschen Bühnen präsent ist, kann man einen Bohrkern in die Sedimente deutscher Mentalitäten treiben. Was zeigt die Bodenprobe?

Man sieht, wie sich im frühen 18. Jh. zunächst die Frage nach dem Jenseits, der metaphysische „Bedürfnisrest“ der Aufklärung, an der Erscheinung des Geists von Hamlets Vater festmacht. Diese Frage wird ein paar Jahrzehnte später aber ganz anders beantwortet: Es geht gar nicht mehr um den Geist selbst, sondern nun um den Menschen, um die Authentizität der körperlichen Reaktion des Hamlet-Darstellers auf den Geist, um das Verhältnis von Innen und Außen des Menschen. Im 19. Jh. setzt sich dann der heroisch verzweifelte Hamlet oder die Sehnsuchtsfigur des Heldenprinzen durch. Freiligraths spöttische Sottise „Deutschland ist Hamlet“ wird plötzlich affirmativ heroisch gewendet, bis Hamlet zur Sehnsuchtsfigur für den Wunsch nach dem jungen Führer der Nation wird. Über die gegensätzliche Politisierung der Figur in Weimarer Republik (Jessner) und Nazi-Reich (Gründgens) wird Hamlet zur Ikone der zeitlos gültigen Kunst (immer noch Gründgens), dann kommen die postheroischen Hamlets (Zadek, Heyme), die mit der Nazi-Väter-Generation abrechnen bis zu Steemanns Hamlet (Hannover 2001)7, in dem eben diese 68er-Väterverächter selbst als Väter an der Macht sind und den Jungen keine Chance zur Opposition lassen durch ihr überbordendes Verständnis. Bis zu den „Sein oder Nichtsein“ rezitierenden Youtubern, als Beispiele für die Spiele der Informationsgesellschaft, die keine Zuschauer mehr brauchen, nur noch Teilnehmer.

Kontextualisierung von Hamlet-Inszenierungen

Marx stellt die einzelnen Inszenierungen immer in einen Rahmen, politisch und kulturell. Immer wieder huschen historische Gestalten durchs Bild: Lichtenberg, Goethe, Nietzsche, Wilhelm II., Göbbels. Immer wieder werden kurz die Kulissen eines historischen Ereignisses aufgebaut: 1. Weltkrieg, Mauerfall – und im nächsten Kapitel wieder eingerissen. Damit wenigstens skizzenhaft der Hintergrund auftaucht, auf den die Inszenierungen sich beziehen. Marx wirft auch Seitenblicke auf die Konjunkturen anderer Shakespeare-Stücke: Warum „Coriolanus“ statt „Hamlet“ für die frühe DDR interessant wird und „King Lear“ für die späte Bonner Republik.

Auch in der Theatergeschichte sattsam bekannte Inszenierungen wie Leopold Jessners Berliner „Hamlet“-Inszenierung von 1926 8 kann Marx durch seine breite Einordnung neu erhellen. Fritz Kortners blonde Perücke, die in der Theaterkritik als „Idiotendach“9 verspottet wurde, verursachte eine solche Empörung, weil sie in das Schema des täuschenden Juden passte. Marx zitiert dazu Oskar Panizza, Friedrich Nietzsche und Arnold Zweig und verweist auf die Schmähungen des polnisch-jüdischen Hamlet-Darstellers Bogumil Dawison. Der assimilierte Jude war für die Antisemiten der Weimarer Republik der schlimmste Jude, weil er lüge.

Epiphänomene des Hamlet -Kults

Nicht nur die Highlights werden erwähnt, sondern auch die fast vergessenen Versionen wie Felicitas von Vestvalis weiblicher Hamlet (1913), eine seltsam modernisierte Filmfassung „Der Rest ist Schweigen“ von 1959 oder Heyme/Vostells Kölner Medien-„Hamlet“ (1977). Auch Epiphänomene des Hamlet-Kults werden einbezogen wie Gerhart Hauptmanns gemeinsam mit Edward Gordon Craig herausgegebene kommentierte Textausgabe (1928), Harald Schmidts Talkshow „Hamlet“ (2001) oder Katie Mitchells Performance „Ophelias Zimmer“ (2015). Während die rein textorientierten Inszenierungen der letzten Jahrzehnte (Grüber Berlin 198210, Steckel Bochum 199511, Gosch Düsseldorf 2001 12, Bachmann Köln 201613) übergangen werden.

Marx erschließt auch neue Quellen, z.B. Heymes Regienotizen zu seinem Kölner „Hamlet“. Schon vor 40 Jahren notierte Heyme: „dass historisch-fixierte Kunst bzw. Theaterarbeit schlechthin nurmehr durch Medien gefiltert erfahren werden kann. Alles andere ist Lüge. Wobei diese Wahrheit in Konsequenz eine tödliche und fatalistische – gänzlich unutopische ist, und die Sehnsucht natürlich nur darauf abzielen darf […], THEATER GEGEN die uns umklammernden und z.T. ausmachenden Medien zu erfahren.“ 14 Dem ist auch heute nichts hinzuzufügen.

Umbesetzungen

Die Schwierigkeit eines jeden historiographischen Unternehmens liegt in dem Widerspruch zwischen der Individualität der einzelnen Inszenierungen, der man gerecht werden muss, und der großen Zickzacklinie, um derentwillen man die ganze historische Schürfarbeit unternimmt. Marx orientiert sich dabei an Hans Blumenbergs Begriff der „Umbesetzung“, er will damit zeigen wie „differente Aussagen als Antworten auf identische Fragen“ 15 verstanden werden können. Marx meint, „Hamlet“ könne im Sinne Blumenbergs als „Metapher“ verstanden werden, die ein Feld für den „Prozess des Erprobens und Verwerfens“ 16 von Antworten auf eine zugrundeliegende Frage bietet. Die Kontinuität stiftende Frage ist für Marx die nach der kollektiven Identität der Deutschen. „Hamlet“-Inszenierungen sind dabei nicht selbst die Antworten, sondern Metaphern, die das Material liefern für das „Erproben und Verwerfen“ von Antworten auf diese Frage.

Hamlet als kollektive Denkfigur

Diese Einbettung der „Hamlet“-Inszenierungen in die „kollektiven Denkfiguren“ ihrer Zeit löst den Anspruch ein, nicht nur eine Theatergeschichtsschreibung zu betreiben, die Inszenierungen um der Vollständigkeit willen erwähnt, sondern Kulturgeschichte17. Gründgens’ Nachkriegsinszenierungen werden vor dem Hintergrund von Hannah Arendts Auseinandersetzung mit der Kollektivschuldthese und Mitscherlichs These von der vaterlosen Gesellschaft diskutiert, Heiner Müllers „Hamlet“ von 1990 in den Zusammenhang der Situation des Intellektuellen in der DDR und deren Auflösung gestellt.

Peter W. Marx’ narratives Modell ist kontextualistisch, die Erzählhaltung weitgehend ironisch, aber am Ende wird es dann doch eine Verfallsgeschichte mit Warnung. Höhepunkt jeder kulturgeschichtlichen Analyse ist ihr abschließender Blick auf die Gegenwart. In so unterschiedlichen Figuren wie Frank-Walter Steinmeier, Christian Lindner, Marc Jongen, Simon Strauß und Philipp Ruch findet Peter W. Marx 2018 versteckte Referenzen zur Bild- und Gedankentradition „Hamlets“: Er deute diese Referenzen als „Krisenbewusstsein einer falsch saturierten Gesellschaft“, als gefährliche Selbstermächtigung, die bestehenden Verhältnisse in einer „rauschhaften Tatensehnsucht“ zu überwinden 18

Ohne Gedächtnis funktioniert sowieso keine Erkenntnis. Wenn das Theater ein überindividuelles Gedächtnis hat, und das wäre die Theatergeschichtsschreibung, kann man mit ihrer Hilfe Dinge sehen, die man ohne Gedächtnis nicht sieht, nicht nur im Theater, sondern in der Gesellschaft.

Diese Rezension ist die erweiterte Fassung eines Textes, der in „Theater heute“ im Heft Dezember 2018 erschienen ist. 

  1. Marvin Carlson hat dies in einer ausführlichen Studie dargelegt. „We are able to ‚read’ new works – whether they be plays, paintings, musical compositions, or, for that matter, new signifying structures that make no claim to artistic expression at all – only because we recognize within them elements that have been recycled from other structures of experience that we have experienced earlier. {…} The primary tools for audiences confronted with new paintings, pieces of music, books, or pieces of theatre are previous examples of these various arts they have experienced.“ Marvin Carlson, The Haunted Stage. The Theatre as Memory Machine. Ann Arbor: University of Michigan Press, 2001, pp.4, 5.
  2. Peter W. Marx hat bereits mit der Herausgabe des Hamlet-Handbuches  einen enzyklopädischen Beitrag zur Hamlet-Forschung geleistet, der weit über die Rezeption in Deutschland hinausgeht. Einiges Material aus dem Handbuch ist aber auch in die Monographie eingegangen. Peter W.Marx, Hamlet Handbuch. Stoffe, Aneignungen, Deutungen. Stuttgart: Metzler, 2014
  3. Koberstein 1865, zit. bei Marx S. 108
  4. Wilhelm Hortmann, Shakespeare und das deutsche Theater im XX. Jahrhundert. Mit einem Kapitel über Shakespeare auf den Bühnen der DDR von Mark Hamburger. Berlin: Henschel, 2001, S.19
  5. Marx S.9
  6. Marx S.10
  7. vgl. meine Kurzkritik in: Berliner Festspiele (Hg.), Theatertreffen-Journal 2002, S.29
  8. Vgl. Hortmann a.a.O., S.75f; Günther Rühle (Hg.) Theater für die Republik 1917-1933 im Spiegel der Kritik. Frankfurt/M: S.Fischer 1967 S.763-773; Hugo Fetting (Hg.), Von der freien Bühne zum politischen Theater. Drama und Theater im Spiegel der Kritik 1917-1933. Bd. 2. Leipzig: Reclam, 1987 S. 314-332; Günther Rühle, Theater in Deutschland 1887-1945. Seine Ereignisse – seine Menschen. Frankfurt/M: S. Fischer, 2007 S. 503-505;
  9. Alfred Polgar zit. bei Marx S.130
  10. vgl. Hortmann a.a.O. S. 321-325
  11. vgl. meine Kritik in Theater heute 8/1995, S.22-25
  12. vgl. meine Kritik in Theater heute 7/2001, S.28-30
  13. vgl. meine Kritik in Theater heute 11/2016, S.20-23
  14. zit. bei Marx S.291f
  15. Blumenberg zit. bei Marx S.14. Vgl. auch: „Umbesetzung meint ebenden Prozess der Ersetzung einer epochal nicht länger befriedigenden Antwort durch eine neue. Die Frage fungiert dabei als konstantes, Zeitabschnitte oder Epochen übergreifendes Moment, das die Tiefenstruktur der Umbesetzungsvorgänge bildet. {…} Das ‚Verfahren‘ nimmt seinen Ausgang von einer als Antwort verstandenen Theorieformation, deren zugrunde liegende Frage in regressiver Analyse zu ermitteln ist.“ Herbert Kopp-Oberstebrink, „Umbesetzung“, in: Robert Buch & Daniel Weiden (Hg.), Blumenberg lesen. Berlin: Suhrkamp, 2014, S.359
  16. Marx S.16
  17. Marx bezieht sich dabei auch ausdrücklich auf Fischer-Lichte, die vor einer „rein chronologisch vorgehender Faktographie“ warnt und postuliert „In jedem Fall lässt sich Theatergeschichte nur mit einer problemorientierten Vorgehensweise betreiben.“ Erika Fischer-Lichte, Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen: Francke, 1993 S.8f
  18. Marx S.377, 380f

Gibt es eine Philosophie des Theaters? Teil 1

Rezension von:  Tom Stern (ed.), The Philosophy of Theatre, Drama and Acting. London/New York: Rowman & Littlefield, 2017. 209 pages

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Teil 1 von 5: Einleitung

In Deutschland gibt es eine Wissenschaft des Theaters, aber keine Philosophie des Theaters. Philosophie und Theater – dabei denkt man in Deutschland an Simmel 1 und Plessner (oder Schiller und Hegel), nicht an Autoren von heute 3. Die Theaterwissenschaft beansprucht, alles philosophische Gedankengut in sich aufgenommen zu haben. Was kann die Philosophie selbst angesichts der Ausdifferenzierung der Wissenschaften mit ihrer „Inkompetenzkompensations-kompetenz“ 4) noch leisten? Kann es eine philosophische Ästhetik des Theaters noch geben oder bleibt nur noch Performanztheorie oder Aisthesis?5

Das entscheidet sich an der Konzeption von Philosophie, am Selbstverständnis der Philosophie. Und so sehr man über die Anglisierung der deutschen Philosophie klagen mag, über die Usurpierung der Philosophielehrstühle durch Vertreter der analytischen Philosophie – die Philosophie des Theaters (und die muss es auch geben, wenn auch der Weingenuss Gegenstand ernsthafter philosophischer Bemühungen ist 7) hat diese Tendenz noch nicht erreicht.

“Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück. […] Der Begriff der übersichtlichen Darstellung ist für uns von grundlegender Bedeutung.“Das hat natürlich kein deutscher Theaterphilosoph oder -wissenschaftler geschrieben, sondern der (österreichische) Begründer der englischen analytischen Philosophie, Ludwig Wittgenstein. Wenn es die Aufgabe der Philosophen ist, Begriffe zu analysieren und zu klären 9, haben sie beim Nachdenken über das deutsche Theater und seine Wissenschaft noch einiges zu tun 10.

Der Londoner Philosophie-Dozent Tom Stern arbeitet daran,  eine Verbindung zwischen Philosophie und Theater herzustellen. Nach seiner Einführung „Philosophy and Theatre11hat er nun einen Sammelband herausgegeben mit dem Titel „Philosophy of Theatre, Drama and Acting“, der einige der wichtigsten Autoren der englischsprachigen Theaterphilosophie mit neuen Aufsätzen zu Wort kommen lässt 12.

Alain Badiou hat drei Typen des Verhältnisses von Philosophie und Kunst dargestellt 13:

  • das didaktische Konzept, danach ist die Kunst nur der Schein der Wahrheit, nie die Wahrheit selbst, deshalb ist sie gefährlich (Platon),
  • das romantische Konzept: Nur die Kunst kennt die Wahrheit (Heidegger),
  • das klassische, der Kompromiss: Kunst vermittelt keine Wahrheit, nur Wahrscheinliches, aber das ist nicht schlimm (Aristoteles).

Badiou meint, diesen drei Modellen ein viertes, eigenes entgegenstellen zu können: die Kunst erzeuge ihre eigenen, irreduziblen Wahrheiten. Von solchen systembildenden Schematisierungen sind die Autoren von Sterns Sammelband weit entfernt. Hier werden wirklich einzelne Begriffe analysiert und geklärt. Was meinen wir genau, wenn wir von Partizipation, Aufmerksamkeit, Maske, Fokus, Fiktion usw. sprechen?

In seiner Einleitung stellt Stern drei Anwendungsbereiche dieser Sorte von Theaterphilosophie heraus:

  • Zunächst überraschenderweise die Aufklärung der Philosophie über sich selbst durch die Reflexion auf das Theater. Die Philosophie lernt vom Theater, was sie ist.
  • Dann aber auch die Umkehrung: Das Theater lernt von der Philosophie,
    • und zwar einerseits klärt die Philosophie die Schauspieler darüber auf, was sie eigentlich tun,
    • und andererseits klärt die Philosophie die Zuschauer darüber auf, wie man am besten zuschaut14.

Hier aber sollen anhand der Aufsätze des Bandes vier Fragen untersucht werden:

  • Wie gestaltet sich das Verhältnis von Theater und Philosophie (nochmal)? (Teil 2)
  • Was zeigt uns das Theater (an sich, nicht ein bestimmtes Stück oder eine bestimmte Inszenierung oder Vorstellung) über das Leben (an sich)? (Teil 3)
  • Welche Art von Kunst ist das Theater, vor allem das der Gegenwart? (Teil 4)
  • Was kann die Theaterkritik von der Philosophie des Theaters lernen? (Teil 5)

  1. Georg Simmel, „Zur Philosophie des Schauspielers“, in: G.S., Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse. hg. v. Michael Landmann, Frankfurt/M: Suhrkamp, 1987, S.75-95. Dies ist ein Text aus dem Nachlass. Zu Lebzeiten veröffentlichte Aufsätze Simmels sind: „Zur Philosophie des Schauspielers“, Der Morgen1908, „Über den Schauspieler. Aus einer Philosophie der Kunst“, Der Tag 1909, „Der Schauspieler und die WirklichkeitBerliner Tageblatt 1912. ↩︎
  2. Helmuth Plessner, „Zur Anthropologie des Schauspielers (1948)“, Gesammelte Schriften Bd. VII Ausdruck und menschliche Natur.Frankfurt/M: Suhrkamp, 1982 ↩︎
  3. Natürlich gibt es rühmliche Ausnahmen, z.B. Christoph Menke und Juliane Rebentisch ↩︎
  4. Odo Marquard, „Inkompetenzkompensationskompetenz? Über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie“ Vortrag München 1973, in: O.M., Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart: Reclam, 1981 S.23-38 ↩︎
  5. vgl. Doris Kolesch, „Ästhetik“ in: Erika Fischer-Lichte e.a. (Hg.), Handbuch Theatertheorie. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2. Aufl. 2014, S.6-13 ↩︎
  6. Tobias Rosefeldt (FAZ) über Manfred Franks Klage↩︎
  7. Barry C. Smith (ed.), Questions of Taste. The philosophy of wine. Oxford: Oxford University Press, 2007 und David Edmonds & Nigel Warburton, „Barry Smith über Wein“, in: D.E. & N.W., Philosophy Bites. 25 Philosophen sprechen über 25 große Themen.Stuttgart: Reclam 2013, S. 166-174 ↩︎
  8. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1967 (zuerst 1958), S.67, 69 ↩︎
  9. “Philosophers typically deal in arguments (…). They also analyze and clarify concepts.“ Nigel Warburton, Philosophy. The Basics. London: Routledge, 3rd ed. 1999. p.2 ↩︎
  10. Was an der Theaterwissenschaft grundsätzlich stört, ist der wertende Gebrauch des Adjektivs „neu“, für die Philosophie ist das standardisierte Wertadjektiv „wahr“. ↩︎
  11. Tom Stern, Philosophy and Theatre. An Introduction. London and New York: Routledge, 2014 ↩︎
  12. Die deutsche Theaterwissenschaft scheint wie das deutsche Stadttheater eine nationale Besonderheit zu sein, trotz ihrer demonstrativen Internationalität. Nur die historisch arbeitenden Autorinnen des besprochenen Bandes, Jennifer Ann Bates und Kristin Gjesdal, sowie Tom Stern beziehen sich auf deutschsprachige Autoren: A.W. Schlegel, Hegel und Nietzsche. Nur bei zwei Aufsätzen tauchen ins Englische übersetzten Arbeiten von Erika Fischer-Lichte im Literaturverzeichnis oder in Anmerkungen auf, allerdings auch dort ohne dass sie in die Argumentation des Haupttextes einbezogen würden. Marvin Carlson versucht in seiner Einleitung zur amerikanischen Ausgabe von Fischer-Lichtes „Ästhetik des Performativen“ ausführlich zu erklären, warum in Deutschland das Theater im Mittelpunkt der „performance studies“ steht, während in den USA alle möglichen anderen öffentlichen Vorstellungen, Reden, Ereignisse untersucht werden. Carlson weist zu Recht auf die unterschiedlichen Kulturen als Grund dieser Differenz hin. Selbst für den in den USA seltenen Theatergänger sei eine Broadway-Show das Standardbeispiel von Theater, während in Deutschland wahrscheinlich eine Castorf-Inszenierung in Berlin das Paradigma abgebe. (Marvin Carlson, „Perspectives on performance: Germany and America“, in: Erika Fischer-Lichte, The transformative power of performance. A new aesthetics. trsl. by Saskia Iris Jain. New York: Routledge, 2008, pp.1-10) Hinzu kommt, dass das von Tom Stern und seinen Mitautoren betriebene Projekt einer Philosophie des Theaters teilweise unabhängig von  und vielleicht sogar in Konkurrenz zu den amerikanischen „performance studies“ betrieben wird. ↩︎
  13. Alain Badiou, Kleines Handbuch zur Inästhetik, 2. Auflage. übers.v. Karin Schreiner. Wien: Turin + Kant, 2012 (frz. Petit Manuel d’Inesthétique. Paris: Editions du Seuil, 1998), S.9-21 ↩︎
  14. Tom Stern (ed.), The Philosophy of Theatre, Drama and Acting. London/New York: Rowman & Littlefield, 2017. im Folgenden zitiert als PTDA, pp.9-11↩︎

Gibt es eine Philosophie des Theaters? Teil 2

Rezension von: Tom Stern (ed.), The Philosophy of Theatre, Drama and Acting. London/New York: Rowman & Littlefield, 2017. 209 pages

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Teil 2 von 5: Das Theater und die Philosophie

Auch wenn die klassische Philosophie sich wenig mit dem Theater (nicht zu verwechseln mit dem Drama) auseinandergesetzt hat, als Metapher war das Theater in der Philosophie immer präsent1. Als eigene Kunst aber fand Theater, unabhängig vom Drama, wenig Beachtung. Hegel hatte für die Schauspielkunst nur herablassende Nebenbemerkungen übrig. Nur als „Instrument, auf welchem der Dichter spielt“2 ist der Schauspieler ein würdiger Künstler, während nur „ganz schlechte Produkte (…) Gelegenheit für die freie Produktivität des Schauspielers“ bieten 3.

Jennifer Ann Bates, eine amerikanische Hegel-Kennerin, findet dementsprechend einen Zugang von Hegels Philosophie zu einem Theatertext: Shakespeares „Merchant of Venice“4. Sie parallelisiert Hegels Entwicklungsphasen der Vernunft, v.a. der beobachtenden Vernunft aus der „Phänomenologie der Geistes“, mit der Wahl der drei Kästchen, die Portias Bewerber absolvieren müssen, und wendet eine Formulierung aus Hegels Naturphilosophie vom „Innersten des Inneren“, der dialektischen Trias von Universalität, Partikularität und Individualität5, auf Belmont, Portias Herrschaftsbereich, an6. Sie glaubt, mit Hilfe von Derridas sprachspielerischem Begriff der „relevant translation“7, (frz. „traduction relevante“, dt. „relevante, d.h. aufhebende Übersetzung“) die gefährlichen Ambivalenzen von Shakespeares Stück auflösen (im hegelschen Sinne „aufheben“) zu können. Für die Interpretation von Shakespeares Drama heißt das: Wenn Shylock böse ist, liegt es nicht nur an ihm, sondern auch an der venezianischen Gesellschaft. Ein ziemlich vorhersehbares Ergebnis.

Und das Ergebnis der Untersuchung des Verhältnisses von Philosophie und Drama ist auch nur, dass die Entwicklungsstufen des absoluten Geistes, Kunst, Religion und Philosophie, keine Rangfolge darstellen, sondern dass die Philosophie die Kunst, und zwar das Drama als dessen höchste Form, ebenso benötige wie das Drama die Philosophie. Der komplizierte Beweisgang verbleibt aber völlig hermetisch verschlossen im begrifflichen Kosmos von Hegels Philosophie. Auch das Literaturtheater hat solche Philosophie nicht nötig.

Tom Sterns eigener Beitrag in seinem Sammelband8 untersucht die umgekehrte Richtung: was das Theater für die Philosophie bedeutet, am Beispiel Nietzsches. Nietzsches elegantes Begriffsfeuerwerk wird von Stern in seine einzelnen Funkenträger zerlegt. Und natürlich findet er Widersprüche. Nietzsche empfiehlt dem Philosophen, sich hinter einer Maske zu verbergen, andererseits warnt er davor, dass der Philosoph sich wie ein Schauspieler9 benehme.10 Stern löst diesen Widerspruch auf, in dem er drei Arten von Schauspielerei unterscheidet11: die immersive, die gymnastische und die marionettenhafte.

  • – Als immersiver Schauspieler macht man sich das Innenleben der Figur zu eigen, geht völlig in ihren Emotionen auf12.
  • – Als gymnastischer Schauspieler stellt man das mit dem Publikum verabredete Zeichen für eine bestimmt Emotion bewusst her, ohne dieses Gefühl selbst zu empfinden13.
  • – Als marionettenhafter Schauspieler agiert man wie eine Puppe, rein körperlich, ohne innere Beteiligung14.

Nietzsche warnt offensichtlich vor dem ersten Schauspieler, der sich als „Märtyrer der Wahrheit“ darstellt und ganz dem Beifall des Publikums verfallen ist, und empfiehlt dem Philosophen, auf der Bühne des philosophischen Disputs maskiert aufzutreten – ein Versteckspiel um der Verpflichtung auf die Wahrheit willen, bei dem der Denker sich nicht selbst verliert. Indem Stern dabei Nietzsche ansatzweise zustimmt, warnt er vor der „naturalistischen“ Interpretation Nietzsches. „Das Unternehmen der naturalistischen Philosophie wird natürlicherweise die Möglichkeit seines Erfolges selbst untergraben.“15

 


  1. In Schellings „System des transzendentalen Idealismus“ z.B. wird das Verhältnis von Freiheit und Gesetzmäßigkeit der Geschichte durch das Bild eines Schauspiels, dessen Autor nur virtuell in den einzelnen Schauspielern vorhanden ist, anschaulich gemacht. F.W.J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus. Hamburg: Meiner, 1957 (zuerst Tübingen 1800), S.271. Auch Hegel verwendet die Metapher des Schauspiels oft, z.B. in seiner Einleitung zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. G.W.F. Hegel, Theorie Werkausgabe Bd. 12. Frankfurt/M: 1970, S.34-35 ↩︎
  2. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III. Theorie Werkausgabe Bd. 15. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1970 S.513 ↩︎
  3. ibid. S. 516 ↩︎
  4. Jennifer Ann Bates, „Hegel’s ‚Instinct of Reason‘ and Shakespeare’s The Merchant of Venice: What is a relevant Aufhebung of nature? of Justice?“ PTDA, pp. 15-41 ↩︎
  5. G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. Theorie Werkausgabe Bd.3. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1970, S.185-187 u. 233-262 ︎undG.W.F. Hegel, Enzyklopädie der Wissenschaften II. Theorie Werkausgabe Bd. 9. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1970 S. 22↩︎
  6. Terry Eagletons Interpretation des „Merchant of Venice“ zu lesen, ist hilfreich für das Verständnis von Bates’ Essay. Eagleton findet den Gegensatz zwischen Allgemeinheit und Besonderheit im Begriff des Rechts, den Shylock und Portia jeweils nach einer Seite hin auslegen (dabei jeweils verkehrt). Bates findet bei Hegel eine Aufhebung dieses Gegensatzes, eine Vermittlung auf höherer Ebene, und glaubt diese auch in Details von Shakespeares Text nachweisen zu können. Terry Eagleton, „Law: The Merchant of Venice“, in: T.E., William Shakespeare. London: Blackwell, 1986, pp.35-48 ↩︎
  7. Jacques Derrida, „What is a ‚relevant translation‘?“ Critical Inquiry27 (Winter 2001), p.174-200 ↩︎
  8. Tom Stern, „Nietzsche, the mask and the problem of the actor“, PTDA, pp.67-87 ↩︎
  9. Ich verwende hier das generische Maskulinum, wie es auch die meisten Autoren des Sammelbandes tun, obwohl im Englischen auch die weibliche Form „actress“ schon immer gebräuchlich ist. Alles, was in meinem Text über Schauspieler gesagt wird, gilt also auch für Schauspielerinnen. Eine nicht-feministische, aber an Lacan orientierte Differenzierung der Leistungen und Aufgaben von Schauspielerinnen und Schauspielern findet sich bei Alain Badiou, Rhapsodie für das Theater. Kurze philosophische Abhandlung. Wien: Passagen 2015, XLVI S.74-76 und LVIII-LX S. 86-90↩︎
  10. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, § 25: „Seht euch vor, ihr Philosophen und Freunde der Erkenntnis,(…) Flieht in’s Verborgene! Und habt eure Maske und Feinheit, dass man euch verwechsele! (…) Das Martyrium des Philosophen, seine »Aufopferung für die Wahrheit« zwingt an’s Licht heraus, was vom Agitator und vom Schauspieler in ihm steckte; und gesetzt, dass man ihm nur mit einer artistischen Neugierde bisher zugeschaut hat, so kann in Bezug auf manchen Philosophen der gefährliche Wunsch freilich begreiflich sein, ihn auch einmal in seiner Entartung zu sehn (entartet zum »Märtyrer«, zum Bühnen- und Tribünen-Schreihals).“ ↩︎
  11. PTDA, pp. 71-74 ↩︎
  12. vgl. Stanislawski. Stern nennt diesen Typus von Philosophen einen “Wagnerian entertainer“ PTDA, p.78 ↩︎
  13. vgl.Diderot↩︎
  14. vgl. Kleist ↩︎
  15. “The pursuit of the naturalist philosophy will naturally undermine the possibility of its successful pursuit.“ PTDA, p.83 ↩︎

Gibt es eine Philosophie des Theaters? Teil 3

Rezension von: Tom Stern (ed.), The Philosophy of Theatre, Drama and Acting. London/New York: Rowman & Littlefield, 2017. 209 pages

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Teil 3 von 5: Das Theater und das Leben (an sich)

Wenn die Aufsätze über das Verhältnis von Philosophie und Theater vielleicht für diejenigen, die sich nicht als professionelle Philosophen verstehen, etwas unergiebig bleiben, so finden sich aber auch Aufsätze, die auch dem Nicht-Philosophen weiterhelfen können.

Lior Levy von der Universität Haifa untersucht Jean-Paul Sartres Konzeption des Theaters1. Dessen Vortrag „Episches und dramatisches Theater“ von 1960 wird sonst vor allem als Versuch, einen Mittelweg zwischen Brechts epischem Theater und dem „bourgeoisen Theater“ zu finden, also als eine Rechtfertigung von Sartres eigener Dramenproduktion verstanden. Levy aber stellt diesen scheinbar etwas geschwätzigen Vortrag in den systematischen Zusammenhang von Sartres Philosophie. Er geht aus von der Unterscheidung von Bild („image) und Analogon („analogue“), die Sartre in seiner frühen Arbeit „L’imaginaire“ (1940) macht. Repräsentierende Analoga sind die Kunstwerke als materielle Objekte, Bilder (images) sind dagegen Vorstellungen, die keine materielle Realität haben. Levy wendet diese Unterscheidung auf die Schauspieler an: „Actors, as analogues, are present. Characters remain absent as images.“2Im Theater gibt es aber zwei Analoga: den Dramentext oder das Bühnengeschehen und den Schauspieler. Die Schauspieler erschaffen für sich Bilder der Charaktere, die sie darstellen. Und sie sind selbst Analoga für die Zuschauer, die daraus für sich Bilder erschaffen. Das Theater entsteht aus dieser Überlagerung von Bildern3. 4

Für Sartre ist Handlung das Wesen des Theaters5, nicht in dem Sinne, dass ein „plot“ erzählt werden muss, sondern, dass das Kunstwerk, das auf der Bühne entsteht, durch handelnde Menschen entsteht. Um handeln zu können, braucht der Mensch einen „Entwurf“ („projet“) von sich selbst6. Dieser Entwurf ist nicht ein bestimmtes Ziel, das sich ein Mensch bewusst setzt, sondern eine dem Handelnden selbst nicht direkt zugängliche ursprüngliche Wahl, die die Voraussetzung für alle seine einzelnen Wahlen ist. Auch der Schauspieler macht einen solchen Entwurf seiner Figur, ohne sagen zu können, worin er besteht, wenn er sich ein Bild („image“) des Charakters macht7. Er tut also etwas, das wir im Leben auch tun. Er ermöglicht uns also zu erkennen, wie wir leben8. Theater ist ein Mittel zur Selbsterkenntnis9. Wir sehen, dass der Entwurf gelebt wird durch Handeln, dass wir nicht erst etwas oder irgendwer sind und danach handeln, sondern dass wir erst handeln und deshalb etwas oder irgendwer sind. Wir sind nämlich frei in unseren Handlungen. Daran, meint Levy, erinnert uns das Theater.

Etwas anderes über unser Leben erfahren wir aus Tzachi Zamirs Reflexionen darüber, was ein Schauspieler tut10. Er geht aus von dem, was er „giving focus“ nennt, Aufmerksamkeit für einen anderen Schauspieler herstellen, Aufmerksamkeit ablenken, das Sich-Selbst-Herunterspielen. Das muss jeder Schauspieler irgendwann lernen. Und für Zamir ist es ein Grundzug aller Schauspielerei, nicht nur weil auf der Bühne mehrere Schauspieler zusammenarbeiten, sondern weil jeder einzelne Schauspieler etwas zeigt, eine Figur, einen Vorgang – nicht sich. Im Gegensatz zu allem, was man sonst über Schauspieler sagt – eitle Durchwehgeschöpfe – und ganz im Gegensatz zum Wandel des Schauspielers zum Performer, der alle Mittel der Aufmerksamkeitssteigerung für sich selbst nutzt,11sieht Zamir als eine Grundtugend der Schauspielerei deshalb die Großzügigkeit an, das freigiebige Verschenken12. Nicht, dass alle diese Tugend wirklich besäßen. Aber sie ergebe sich als Ziel notwendig aus der Analyse dessen, was Schauspielerei ist.

Zum anderen geht er auf die Rolle ein, die Künstler als Vorbild für die Lebensführung haben. Seit Nietzsche ist das Verhältnis des Subjekts zu seinem Leben analog dem des Künstlers zu seinem Werk13. Das eigene Leben wird nach ästhetischen Kriterien gestaltet und beurteilt. Schön soll es sein und nicht langweilig. Auch Zamir hält diese Analogie zwischen künstlerischer Gestaltung und authentischer Lebensführung aufrecht14. Durch seine Analyse der Schauspielkunst aber sieht er andere Möglichkeiten der kreativen Selbstgestaltung. Die Unterordnung der eigenen Entscheidungen unter die nur gemeinsam mit anderen zu erreichende Wirkung sei auch authentisch. Zamir kommt so zu Aussagen, die konträr zum Zeitgeist stehen : „Ich kann mich zum Beispiel entscheiden, eine Nebenrolle in der Lebensgeschichte eines anderen Menschen zu spielen, und diese Entscheidung kann ein wertvoller Teil von dem werden, was einige Aspekte meines eigenen Lebens für mich bedeutungsvoll und einzigartig macht.“15

Ein weiteres Ergebnis der Untersuchung der Aufmerksamkeitssteuerung durch Nebenrollen ist, dass Empathie im Theater in zwei Richtungen wirkt. Nicht nur das Publikum fühlt sich in die Charaktere ein, sondern auch die Darsteller fühlen sich in das Publikum ein. Die Schauspieler, die die Aufmerksamkeit des Publikums auf einen anderen lenken, tun dies meist in Vorwegnahme von Reaktionen des Publikums oder in der Sichtbarmachung von unterdrückten oder halbbewussten Reaktionen des Publikums. So rückwärtsgewandt den Verfechtern der „Ästhetik des Performativen“ eine solche Analyse vielleicht erscheint, sie ist nicht naiv, sondern ergibt sich aus der genauen Beobachtung der Tätigkeiten von Schauspielern.16

Versprochen war, wir könnten etwas daraus für das Leben lernen. Also: „Die Selbstlosigkeit des Schauspielers kann die Ästhetik der Selbsterschaffung bereichern.“17Vom Theater lernen heißt, schöne Bescheidenheit zu lernen. Das ist wirklich etwas Neues.18


  1. Lior Levy, „The image and the act – Sartre on dramatic theatre“, PTDA, pp. 89-108 ↩︎
  2. PTDA p.95↩︎
  3. „The interaction between actors’ and spectators’ imaginations, their joint participation in the constitution of images, makes theatre an inherently democratic art.“ PTDA p.97. ↩︎
  4. Exkurs: Durch eine Anmerkung Levys wird das distanzierte Verhältnis von englischsprachiger Theaterphilosophie und deutscher Theaterwissenschaft deutlich: Levy zitiert aus der englischen Übersetzung von Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen zwei Modelle der Beziehung zwischen Aufführung und Zuschauern: das traditionelle, mit „staging strategies to stir the audience into guided and controlled responses“ und andererseits das seit den 60er Jahren entstandene Modell mit Aufführungen „generated and determined by a self-referential feedback-loop.“ (PTDA p.106 Annotation 29) Levy ordnet Sartre dem zweiten Modell zu, obwohl er zugibt, dass für Sartre Schauspieler und Zuschauer weiterhin unterschieden werden. An Levys Kommentar wird das Interesse deutlich, die traditionelle Theaterpraxis mit vorgegebenem Dramentext und klarer Trennung von Bühne und Publikum zu verteidigen, aber auch die Unkenntnis oder Verharmlosung des Fischer-Lichteschen Konzepts. Die Wechselwirkung von Zuschauer und Darsteller im traditionellen Theater ist etwas anderes als die Fischer-Lichtesche Feedback-Schlaufe, in der Schauspieler und Zuschauer Ko-Subjekte eines Ereignisses sind. Und mit dem, was Levy das traditionelle Modell nennt, meint Fischer Lichte auch nicht das Ende des 19. Jahrhunderts entstandene bürgerliche Theater, sondern die Ansätze eines aktivierenden politischen Theaters im frühen 20. Jh. bei Eisenstein und Piscator. (Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen. Frankfurt/M: Suhrkamp, 2004, S.60) ↩︎
  5. „Il n’y a pas d’autre image au théâtre que l’image de l’acte, et si l’on veut savoir ce que c’est que le théâtre, it faut se de- mander ce que c’est qu’un acte, parce que le théâtre représents l’acte et it ne peut rien repré-senter d’autre.“ –  „Es gibt kein anderes Bild im Theater als das Bild der Tat, und wenn man wissen will, was Theater ist, muss man sich fragen, was eine Tat ist, weil das Theater die Tat darstellt und nichts anderes darstellen kann.“   Jean-Paul Sartre, „Episches und dramatisches Theater“ (1960), in: J-P.S., Mythos und Realität des Theaters. Schriften zu Theater und Film 1931-1970. Reinbek: Rowohlt, 1991,S. 96↩︎
  6. Heideggers ethymologisch aufgeladene Begriffsbildung („Der Entwurf ist die existenzielle Seinsverfassung des Spielraums des faktischen Seinkönnens. Und als geworfenes ist das Dasein in die Seinsart des Entwerfens geworfen.“ Martin Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer, 15. Aufl. 1979, S.145) wird im Französischen bei Sartre zum schlichten „projet“ („Toutes ces menues attentes passives du réel, toutes ces valeurs banales et quotidiennes tirent leur sens, à vrai dire, d’un premier projet de moi-même, qui est comme mon choix de mois-même dans le monde. Mai précisément, ce projet de moi vers une possibilité première, qui fait qu’il ya des valeurs, des appels, des attentes et en général un monde, ne m’apparait qu’au delà du monde comme le sens et la signification abstraits et logiques de mes enterprises.“ Jean-Paul Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique. Paris: Gallimard, 1943, p.75 ↩︎
  7. In Schauspiellehrbüchern wird versucht, dieses Verfahren zu schematisieren. Z.B. bei Susan Batson, wo es heißt: „Every scripted character has three basic dimensions – Public Persona, Need and Basic Flaw. Every person has the same three dimensions. In order really to act – to breathe life into a script – you must identify and explore these three dimensions in yourself.“ (Susan Batson, Truth: personas, needs and flaws in building actors and creating characters. New York: Webster\Stone, 2013 p.8) . Und dann werden alle Theaterfiguren auf diese drei Wesenszüge festgenagelt. Das ist natürlich nicht das, was Sartre meint. Sartre sagt: „Totales Objekt sein könnte man entweder für die Ameisen oder für die Engel, aber als Mensch kann man es nicht für die Menschen sein.“ (Jean-Paul Sartre, „Episches und dramatisches Theater“ (1960), in: J-P.S., Mythos und Realität des Theaters. Schriften zu Theater und Film 1931-1970. Reinbek: Rowohlt, 1991, S.94.) Aber es zeigt die Richtung, in die die Arbeit des Schauspielers geht. ↩︎
  8. “The theatre is the place where we confront both the impossibility of knowing the project and the necessity of living it, of acting it out.“ PTDA, p.102 ↩︎
  9. “Und folglich ist das, was wir wiedergewinnen wollen, wenn wir ins Theater gehen, natürlich wir selbst, aber wir selbst nicht insofern wir mehr oder weniger sentimental oder mehr oder weniger stolz auf unsere Jugend oder unsere Schönheit sind, sondern insofern wir handeln und arbeiten und auf Schwierigkeiten stoßen und Menschen sind, die Regeln haben, das heißt Regeln für diese Handlungen“. Jean-Paul Sartre, „Episches und dramatisches Theater“ a.a.O., S. 96. Levy fasst das zusammen: „Theatre is a means for self-discovery, a place where we can‚ rediscover (…) ourselves as we act‘“ PTDA, p.103 ↩︎
  10. Tzachi Zamir, „Giving focus“ PTDA, pp. 123-134 ↩︎
  11. vgl. Wolfgang Engler/Frank M. Raddatz, „Entfremdung verboten! Die Fallstricke des Authenitizitätsdikurses und die Freiheit des Spiels.“ Lettre InternationalNo. 114 Herbst 2016, S. 52-74; oder: Bernd Stegemann, „Achtung, echte Menschen“, Süddeutsche Zeitung, 2.1.2017 und die Gegenposition: Christian Holtzhauer, „Die Regeln des Spiels“, Süddeutsche Zeitung, 19.1.2017 und Eva Behrendt, „Echte Tränen. Theaterkolumne“Merkur, 2.1.2017 ↩︎
  12. “generosity“ PTDA, p.129 ↩︎
  13. “Die Künstler allein (…) enthüllen das Geheimnis, das böse Gewissen von jedermann, den Satz, daß jeder Mensch ein einmaliges Wunder ist; sie wagen es, uns den Menschen zu zeigen, wie er bis in jede Muskelbewegung er selbst, er allein ist, noch mehr, daß er in dieser strengen Konsequenz seiner Einzigkeit schön und betrachtenswert ist, neu und unglaublich wie jedes Werk der Natur und durchaus nicht langweilig.“ Friedrich Nietzsche, „Schopenhauer als Erzieher, in: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV etc. Kritische Studienausgabe Bd. 1, hg. G. Colli u. M. Montinari. München: dtv/de Gruyter, 1988, S.337f, zit. engl. bei Zamir PTDA, p. 124 ↩︎
  14. “Nietzsche was right to aestheticize authenticity.“ PTDA, p.128 ↩︎
  15. Übers. G.P. „I can choose to be a minor character in another’s life story, for example, and this decision can become a treasured part of what makes some aspects of my own life story meaningful and unique to me.“ PTDA, p.127↩︎
  16. Zamir geht aus von einer Szene aus Charlie Chaplins Film Goldrausch, in der Chaplin seinen Schuh isst und dabei von einem anderen Schauspieler beobachtet wird. Zamir ist Dozent an der Hebräischen Universität Jerusalem, dürfte also Yael Ronens Arbeiten kennen und hat eine umfassende Studie vorgelegt, in der auch die außertheatralischen Formen von „performance“ untersucht werden. Tzachi Zamir, Acts. Theater, Philosophy and the performing self. Ann Arbor: University of Michigan Press, 2014. ↩︎
  17. Übers. G.P., orig.: “… the actor’s selflessness can enrich the aesthetics of self-creation“ PTDA, p.128
  18. Ein Beleg dafür, dass Tzachi Zamir Recht hat, ist die wunderbare Dankesrede der Schauspielerin Wiebke Puls bei der Verleihung des 3sat-Preises beim Berliner Theatertreffen 2018, in der sie sich bei ihren Mitspielerinnen und Mitspielern bedankt für die Aufmerksamkeit, die sie von ihnen erhalten hat. Die Gegenposition formuliert der Schauspieler Fabian Hinrichs in seiner Rede als Juror des Alfred-Kerr-Preises bei dem Theatertreffen Berlin 2018.

Gibt es eine Philosophie des Theaters? Teil 4

Rezension von: Tom Stern (ed.), The Philosophy of Theatre, Drama and Acting. London/New York: Rowman & Littlefield, 2017. 209 pages

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Teil 4 von 5: Theater als Kunst

Die Autonomie des Theaters als eigene Kunst ist in allen Beiträgen des Sammelbandes unumstritten. Auch James R. Hamilton geht von ihr aus1. Aber er untersucht das Verhältnis von beobachtetem und partizipativem Theater. Zunächst beschäftigt er sich mit der genauen Analyse der geistigen Tätigkeiten, die ein Zuschauer im „beobachteten“ Theater ausführt2. Dabei spielen die Gliederung von Ereignissen („event segmentation“) und die ständige Anpassung von Erwartungen im zeitlichen Ablauf der Vorstellung („belief-revision in time“) eine wesentliche Rolle. Hamilton sieht keinen entscheidenden begrifflichen Unterschied zwischen Performance („performance“) und Schauspiel („acting“)3. Dies gilt sowohl für narrativ strukturierte Aufführungen wie für nicht-narrative. Hamilton liefert also mit Rückgriff auf die empirische Zuschauerforschung den differenzierten begrifflichen Unterbau zu Jacques Rancières Behauptung: „Le spectateur aussi agit.“4.

Hamilton setzt sich ausführlich auseinander mit den Theorien des partizipatorischen Theaters. Es gibt das moralische Problem: Teilnahme bedeutet Kooperation. Kann man von Kooperation sprechen, wenn die Zuschauer und die Darsteller kein gemeinsames Ziel verfolgen? Ist Kooperation möglich ohne Zustimmung der mitwirkenden Zuschauer zu einem gemeinsamen Ziel, oder wenn sie dieses Ziel gar nicht kennen? Viele Projekte des „partizipatorischen Theaters“ beanspruchen gegen diese sonst allgemein akzeptierten moralischen Anforderungen verstoßen zu dürfen.

Außerdem untersucht Hamilton den Begriff der Interaktivität und kommt zu dem Ergebnis, dass er skalierbar sein müsse. „All theatre is interactive“. 5 Das beobachtete Theater und das partizipatorische Theater unterscheiden sich nur im Grade ihrer Interaktivität. Es geht nur um die Frage, wie hoch das Niveau der Interaktivität sein muss, um ein Theaterprojekt sinnvoll partizipatorisch zu nennen. Eine Rechtfertigung dieser Art von Theater ist oft, es biete Aufmerksamkeitstraining („attention-training exercises“)6. Die Frage ist nur, ob dieses Training auch Auswirkungen auf die Zuschauer/Teilnehmer außerhalb des Theaters hat. Hamilton greift dabei auf Untersuchungen über die Wirkung von Videospielen auf die Aufmerksamkeitsstruktur der Spieler zurück. Er kommt zu dem Ergebnis, interaktives Aufmerksamkeitstraining sei tatsächlich übertragbar auf andere Lebenssituationen. Die geringe Chance, dass im Training erworbene Fähigkeiten in andere Lebensbereich übertragen werden, wird durch Interaktivität erhöht. Dies ist aber nicht abhängig vom Grad der Interaktivität. Auch bei einem niedrigen Niveau von Interaktivität wie beim beobachteten Theater ist die Übertragung der Aufmerksamkeitsstruktur auf andere Bereiche eine empirisch belegte Wirkung. Der so oft behauptete kategoriale Unterschied zwischen passiven Zuschauern und aktivierten Teilnehmern einer Performance in der „Feedback-Schleife“ wird verwischt zu einem graduellen, bei dem der höhere Grad von Interaktivität keineswegs eine Voraussetzung für bessere Wirkung ist7.

So deutlich Hamilton Rancières auch in Deutschland viel beachtete Rehabilitierung der Aktivität des Zuschauers untermauert, so geht er doch nicht auf die kritische Diskussion der Auffassung Rancières in der deutschen Theatertheorie ein. Aufmerksamkeitstraining ist ein bescheidenes Ziel im Vergleich zur „Wiederverzauberung der Welt“, die Fischer-Lichte sich von der Ästhetik des Performativen verspricht8. Juliane Rebentisch z.B. kritisiert Rancière dafür, dass er den Doppelcharakter der Partizipation an Kunst nicht berücksichtige. Sie sei kein aktives Lernen. In den performativen Arbeiten der Gegenwartskunst werde „Partizipation durch künstlerische Intervention reflexiv thematisch.“ Das Zuschauen werde als eine „Form der Partizipation neben anderen ins Bewusstsein“ gehoben. 9. Diese hehren Ziele der performativen Theaterästhetik entziehen sich aber, anders als Hamiltons Aufmerksamkeitstraining, der empirischen Überprüfung. Und das, meint die deutsche Kunsttheorie, sei auch gut so: „Ob solche Reflexionen tatsächlich zu einer Bewusstseinsänderung führen, die in praktische Aktion übergeht, ist dann jedoch eine Frage, die nicht von der Kunst selbst entschieden wird.“10

Das Theater ist eine Kunst unter und mit anderen Künsten. Naheliegend ist es, das Verhältnis zwischen Theater und Film zu untersuchen. Der Film ist seit seinem Entstehen sowohl Konkurrent als auch Vorbild, Geschichtenlieferant oder integrierbares Material für das Theater. David Z. Saltz11 sieht den Unterschied vor allem auf der Ebene des Wirklichkeitsbezugs („on a representational level“ p.168). Für ihn ist das Filmbild eine visuell „volle“ Darstellung einer fiktiven Welt.12 „Voll“ heißt hier, alles was im Filmbild sichtbar ist, gehört zur fiktiven Welt. Auch die Küchenschabe, die hinter dem Hauptdarsteller von allen in der fiktiven Welt unbemerkt die Wand hoch kriecht. Sie wird nicht als Fehler oder Zufall verstanden. Das gilt nicht für das Theater. Man glaubt in der Regel nicht, dass die Theatermotten, die die Scheinwerfer umflirren, zu Hamlets dänischer Königsburg gehören.

Außerdem unterscheidet Saltz hineinwirkende Fiktion („infiction“) und herauswirkende Fiktion („outfiction“). Meist wird die Tätigkeit des Zuschauers so verstanden, dass er aus den real stattfindenden Bühnenvorgängen eine fiktionale Erzählung herausliest. Aber auch der umgekehrte Vorgang findet statt. Der Zuschauer liest durch seine Kenntnis der fiktionalen Erzählung in die real stattfindenden Bühnenvorgänge eine bestimmte Bedeutung hinein. Dies ist aber nur im Theater so. Im Film decken sich die beiden Richtungen der Bedeutungskonstitution beim Zuschauer. Der Filmzuschauer muss nicht erst durch seine Vorkenntnis der fiktionalen Geschichte die Bedeutung bestimmter visueller Vorgänge entschlüsseln, weil der Film visuell „voll“ ist. Saltz erklärt die Rolle der „einwirkenden Fiktion“ mit dem Begriff der konstitutiven Regel („constitutive rule)13. Solche Regeln sind nicht sichtbar, aber ohne sie würde die sichtbare Aktivität, die sie regeln, gar nicht existieren. Es sind also erfundene Spielregeln. Solche Regeln spielen im Theater eine entscheidende Rolle. Jede Handlung kann für eine andere stehen. Der Tenor singt eine Arie, dass er seinen Gegner mit einem Messer ersticht, dabei hat er eine Pistole in der Hand. Man muss diese Regeln kennen, um Theater zu verstehen. Und die konstitutiven Regeln unterscheiden sich von Inszenierung zu Inszenierung. Man muss sie aus der Aufführung selbst herauslesen. Saltz nennt den Repräsentationsmodus des Theaters spielerisch („ludic representation“) und die des Films bildlich („pictorial representation“).

So weit sind Theater und Film begrifflich schön sauber getrennt. Aber Saltz kennt durchaus die Mischformen. Es gibt (oder gab) ein Theater, das versucht bildlich so „voll“ zu sein wie der Film (z.B. Alvis Hermanis’ Inszenierung des „Oblomow“ in der Halle Kalk des Schauspiels Köln 2011.14 Es gibt Filme, die versuchen so „leer“ zu sein wie das Theater (z.B. Lars von Trier „Dogville“ von 2003). Und es gibt das Musical, das eigentlich zum spielerischen Repräsentationsmodus gehört, aber im Musicalfilm dann dem bildlich „vollen“ Repräsentationsmodus des Films unterworfen wird. So kommt Saltz zu dem Schluss, dass Film und Theater sich zwar typischerweise ihrer beiden unterschiedlichen Strategien bedienen, dass diese Zuordnung aber kulturell bedingt und veränderlich sei15.

Und gerade weil diese Strategien des Wirklichkeitsbezugs flexibel gehandhabt werden können und weil ihre Verwendung so historisch und kulturell bedingt ist, ist es schade, dass Saltz’ Beispiele so begrenzt sind. Er bezieht sich auf Thornton Wilders „Happy Journey“ von 1931 und Peter Shaffers „Equus“ von 1973 (bzw. dessen Verfilmung von 1977) als Beispiele für den visuellen Minimalismus des Theaters. Inzwischen werden die deutschen Bühnen von einer Welle von filmischen Darstellungsmitteln erfasst: Projektionswände, Filmeinspielungen, live projizierte Filmbilder, interaktive computergenerierte bewegte Bilder, – alle Mischformen werden ausprobiert16. Es würde sich lohnen nachzuforschen, wie sich diese Repräsentationsmodi, die die jeweiligen Sehgewohnheiten von Film und Theater prägen,  in dieser heute so häufigen Theaterart zu einander verhalten.

 


  1. James R. Hamilton „What is the relationship between ‚observed‘ and ‚participatory‘ performance“ PTDA, pp.137-164 ↩︎
  2. Hamilton greift dazu auf eine biologische Theorie der Kognitionswissenschaft zurück, was zu amüsanten Formulierungen führt: „performers, similarly to other animals, (…) display features“ PTDA, p.138 ↩︎
  3. p.145↩︎
  4. Jacques Rancière, Le spectateur émancipé. Paris: La fabrique éditions, 2008; zit. in Englisch bei Hamilton PTDA, p.148 ↩︎
  5. PTDA, p.154 ↩︎
  6. PTDA, p.150 ↩︎
  7. “… thinking of so-called participatory and observed theatre as merely marking different degrees of interactivity is important.“ PTDA, p.156 ↩︎
  8. Fischer-Lichte, ibid., S.360 ↩︎
  9. Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung. Hamburg: Junius, 2013, S.89. Dies trifft auf Produktionen zu wie z.B. Milo Raus „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“, Schaubühne Berlin 2016. Vgl. die Kritik in der Tageszeitung (taz) vom 19.1.2016 oder im Freitag↩︎
  10. Rebentisch ibid. S.79 ↩︎
  11. David Z. Saltz, „Plays are games, movies are pictures: Ludic vs. pictorial representation“ PTDA, pp.165-182↩︎
  12. „The film image is a visually replete representation of the fictional world.“ PTDA p. 169. Saltz übernimmt den Begriff „replete“ von dem Symboltheoretiker Nelson Goodman. Dieser vergleicht ein Elektrokardiogramm mit einer Zeichnung des Berges Fujiyama des japanischen Malers Hokusai: „Einige Aspekte, die im bildlichen Schema [Zeichnung von Hokusai] konstitutiv sind [Dicke oder Farbe der Linie usw.], [werden] im diagrammatischen Schema [Elektrokardiogramm] zu kontingenten Aspekten abgewertet; die Symbole im bildlichen Schema sind relativ voll (replete).“ Nelson Goodman, Die Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1973, S. 231. ↩︎
  13. Saltz greift hier auf einen Begriff John R. Searles zurück. „Constitutive rules constitute (and also regulate) an activity the existence of which is logically dependent on the rules.“ John R. Searle, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language. London: Cambridge University Press, 1969, p. 34 ↩︎
  14. Vgl. die Kritik von Peter Michalzik vom 13.02.2011. ↩︎
  15. “The difference between the two mediums (…) is ontologically grounded in the sense that theatre and film are highly compatible with their characteristic modes of representation. Nonetheless, it remains historically and culturally contingent and mutable, not baked into the ontology of the two mediums“ PTDA, p.179 ↩︎
  16. Kay Voges, der Intendant des Schauspiels Dortmund, nutzt gerne die technischen Möglichkeiten, um diese Repräsentationsmodi neu zusammenzubauen. So sah man z.B. in seiner Inszenierung von Wolfram Lotz’ „Einige Nachrichten aus dem All“ eine Stunde lang im Theater nur einen Film, bis am Ende plötzlich ein echtes Auto von hinten durch die Projektionswand  brach. Vgl. die Nachtkritik vom 14.09.2012. Und in dem Projekt „hell.ein augenblick“ wurden Schauspieler fotografiert und aus den real auf der Bühne agierenden Darstellern wurden statische, groß projizierte Bilder: zwei völlig unterschiedliche Repräsentationsmodi kombiniert und gegenübergestellt. vgl. die Nachtkritik vom 11.02.2017↩︎

Gibt es eine Philosophie des Theaters? Teil 5

Rezension von: Tom Stern (ed.), The Philosophy of Theatre, Drama and Acting. London/New York: Rowman & Littlefield, 2017. 209 pages

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Teil 5 von 5: Philosophie und Theaterkritik

In keinem der Aufsätze des Bandes wird die Theaterkritik, außer in ein paar missgünstigen Seitenhieben, zum Gegenstand der Untersuchung. Aber zwei der zehn Essays lassen sich dennoch als Abhandlungen über Theaterkritik (gegen den Strich) lesen.

Kristin Gjesdalvon der Temple University in Philadelphia untersucht die in der Dramentheorie wenig beachteten „Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur“, die August Wilhelm Schlegel 1808 in Wien hielt. Diese Vorlesungen sind in der Philosophie völlig unbeachtet geblieben, weil sie vor allem als eine nacherzählende Darstellung der europäischen Theaterliteratur verstanden wurden. Schlegel aber wollte „die Theorie der dramatischen Kunst mit ihrer Geschichte zu verbinden…“ 2 Gjesdal präpariert nun ihren theoretischen Kern heraus. Und dank der Mehrdeutigkeit der Begriffe „critic“ und „modern“ lässt sich das auch als eine Liste von Anforderungen an die heutige Theaterkritik lesen3.

Gjesdal weist daraufhin, dass Schlegel von einem „Kritiker“ keine festen Kriterien verlangt, sondern eine bestimmte Haltung. Die „innere Vortrefflichkeit“ eines Kunstwerkes sei zu beurteilen. Dazu fordert Schlegel die „Vielseitigkeit oder Universalität des echten Kritikers“4 und die Unabhängigkeit von „persönlicher Vorliebe“5. Gjesdal betont, dass diese Unparteilichkeit des Kritikers nicht vorab behauptet werden kann, sondern durch die Begegnung mit verschiedenen Standpunkten erst erworben wird. Diese Art von romantischer (d.h. moderner) Kritik sei ein Erziehungsprozess, durch den der Leser sowohl sich selbst als auch das Kunstwerk besser verstehe. Der Kritiker müsse das Kunstwerk als Individualität würdigen und zugleich seine allgemeingültige Dimension herausarbeiten6. Das Vorbild für dieses scheinbar paradoxe Verfahren gibt wieder Shakespeare ab. Seine Charaktere hätten eine „konkrete Universalität“7, eine Verbindung von Individualität und Allgemeingültigkeit, die das Vorbild für den Kritiker sein solle8. Das Theater der Gegenwart (Gjesdal meint Schlegels Gegenwart ebenso wie die heutige) solle Kunstformen schaffen, durch die das moderne Publikum sich selbst verstehen lerne9. Der Kritiker solle nicht einer der Lebensweisen, die ein Drama präsentiere, den Vorzug geben, sondern eine Art Synkretismus betreiben, der sich aus der Zusammenschau der Vielfalt der Lebensweisen ergebe10.

Diese Beschreibung der Aufgaben des Kritikers, die bei Schlegel eigentlich den literarischen Dramenkritiker meint, trifft aber ziemlich gut das heutige Selbstverständnis der meisten Theaterkritiker. Es trifft aber nicht das Bild des Kritikers, das in den Köpfen vieler Kunsttheoretiker immer noch vorherrscht. Oft ist der Kritiker ein Feindbild, ein Popanz, den man aufbaut, um eine Gegenposition zu formulieren11. Ihm wird unterstellt, er beanspruche Objektivität für seine Urteile. Schon Alfred Döblins Forderung „Ein Kerl muss eine Meinung haben“12 betont ja die Subjektivität des Urteils des Theaterkritikers. Und fast alle Theaterkritiker seitdem sehen es ähnlich13. Die Unabhängigkeit von „persönlicher Vorliebe“, die Schlegel fordert, bezieht sich auf vorgefasste Urteile, die feststehen vor der Begegnung mit dem Kunstwerk (der Aufführung) und auf die vorgefasste emotionale Bindung an oder wirtschaftliche Abhängigkeit von den Kunstproduzenten. Das Kriterium der „inneren Vortrefflichkeit“, das Schlegel fordert, bedeutet die Ablehnung aller allgemeingültigen Maßstäbe. Vom Kritiker ist die Flexibilität gefordert, sich auf die Eigenheiten des jeweiligen Kunstwerkes einzulassen. Das war schon 1808 klar.

Paul Woodruff14  von der University of Texas Austin untersucht die für den professionellen Kritiker lebenswichtige Frage, ob er seine Aufmerksamkeit auf die technische Seite des Theaters, die Schauspieltechnik, Bühnentechnik usw. richten soll oder nicht. Woodruff definiert Theater zweifach: als Kunst, menschliches Handeln anschauenswert zu machen (Darsteller), und als die Kunst, menschliches Handeln anschauenswert zu finden (Zuschauer). Für ihn gehören zum Theater viele verschiedene Arten von menschlichen Handlungen: Konzerte, Tanz, Improvisation, Aufführungen von Dramen, Rituale, religiöse Zeremonien, Unterricht und Zuschauersport. Fiktion und Mimesis sind für ihn unterschiedliche Begriffe, die beide nicht notwendigerweise zum Theater gehören. Die Aufmerksamkeit für die Technik kann allerdings mimetische Effekte des Theaters stören. Nur in der Pädagogik sei die Konzentration auf das Wie der Vorstellung wünschenswert. Das Theaterpublikum muss mit seiner Phantasie mitspielen. Das gilt aber nicht für den Kritiker. Woodruff kommt zu dem traurigen Schluss: „Die Aufgabe des Kritikers ist nicht nur zuzuschauen, sonder auch die Technik der Herstellung der Wirkung zu beobachten, auch um den Preis, weniger Vergnügen an der Theatererfahrung zu haben.“15. Woodruffs Beispiele stammen, entsprechend seinem weiten Theaterbegriff, sowohl aus Konzerten klassischer Musik16 als auch aus Shakespeares „Sommernachtstraum“17. Zum Schluss kommt er zu einem etwas milderen Urteil über das Vergnügen des Kritikers bei der Aufführung oder beim Konzert: Je besser man die technische Seite der jeweiligen Vorführung kenne, desto weniger brauche man auf sie zu achten. Und dann entwickelt er ein handfestes Kriterium für künstlerische Größe im Theater: Kann eine Aufführung die Aufmerksamkeit des gebildeten, erfahrenen Zuschauers von der technischen Seite ablenken?18 Wenn eine Aufführung auch im abgebrühten Kritiker eine zweite Naivität der emotionalen Reaktion hervorruft, dann ist sie groß.

***

Dass alle Autoren dieses Bandes in irgendeiner Weise die Schule der analytischen Philosophie im Hintergrund haben, führt zu einer Genauigkeit in der Explikation von Begriffen, die in Deutschland vielleicht pedantisch erscheint. Aber sie ist fast immer rückgebunden an tatsächlichen Sprachgebrauch und künstlerische Praxis. Das führt zu vielfältigen, erhellenden Einsichten. Nur wenige Aufsätze verbleiben im reinen Theoriedschungel. Gerade die konkrete Rückbindung an künstlerische Praxis in einigen Aufsätzen (Levy, Zamir, Hamilton, Saltz) macht auffällig, wie schmal die empirische Basis dieser Arbeiten ist. Shakespeare ist immer das Paradebeispiel (in den historisch arbeitenden Essays ist es sogar die deutsche Shakespeare-Rezeption, die den Ausgangspunkt für die Überlegungen bildet). Die vielfältige experimentelle Praxis amerikanischer und britischer Theatergruppen wird allenfalls abstrakt zur Kenntnis genommen. Carol Churchills „Love and Information“ von 2012 ist das avancierteste Beispiel19. Die klassische deutsche Philosophie des 19. Jahrhunderts wird in drei Beiträgen mit ehrfurchterregender Textkenntnis und Genauigkeit auf ihre Aussagen über das Theater abgeklopft. Die gegenwärtige deutsche Theaterwissenschaft aber wird kaum erwähnt (ebensowenig die französische Philosophie20). Ganz zu schweigen von der aktuellen deutschen Theaterpraxis. Nicht nur der räumliche Abstand der Autoren aus USA, Israel, Australien und Großbritannien dürfte die Ursache dafür sein, sondern auch die sprachliche Hürde. Vorläufig ist die Internationalisierung des Schauspieltheaters eine Einbahnstraße und solange es unterschiedliche Sprachen gibt, wird sie unvollkommen bleiben.

An English version of this review will follow on this website soon. 


  1. Kristin Gjesdal, „The theatre of thought: A.W. Schlegel on modern drama and romantic criticism“. PTDA, pp.43-63 ↩︎
  2. August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Hg. Edgar Lohner. Erster Teil. Erste Vorlesung. Stuttgart: Kohlhammer, 1966, S.17. Gjesdal: „his bottom up (rather than top-down) approach, to combine a historical and a systematic approach in aesthetics.“ PTDA, p. 44 ↩︎
  3. Schlegel nennt die „Kritik“ die Mittlerin zwischen Theorie und Geschichte. Im Englischen wird das mit „criticism“ übersetzt, und das ist eigentlich nach deutschen Begriffen die Literaturwissenschaft. Aber der Vertreter dieser Zunft wird von Schlegel mal „Kenner“, mal „Kritiker“ genannt. Im Englischen ist das immer „critic“. Schlegel benutzt zudem die Begriffe „romantisch“ und „modern“ als Synonyme. Entsprechend setzt Gjesdal hinter das Wort „modern“ in Klammern dahinter „romantisch“ z.B. PTDA, p. 44, p.56. ↩︎
  4. August Wilhelm Schlegel, ibid. S. 19 ↩︎
  5. „Aber ein echter Kenner kann man nicht sein ohne Universalität des Geistes, d.h. ohne die Biegsamkeit, welche uns in den Stand setzt, mit Verleugnung persönlicher Vorliebe und blinder Gewöhnung, uns in die Eigenheiten anderer Völker und Zeitalter zu versetzen, sie gleichsam aus ihrem Mittelpunkte heraus zu fühlen…“ August Wilhelm Schlegel, ibid., S. 18 zit engl. bei Gjesdal „No man can be a true critic or connoisseur without universality of mind (Universalität des Geistes), without that flexibility which enables him, by renouncing all personal predilections and blind habits, to adapt himself to the peculiarities of other ages and nations – to feel them, as it were, from their proper central point.“ PTDA, p.51 ↩︎
  6. “The romantic critic should treat the work as an individual and, all the same, explicate its universal dimension, its contribution to our understanding of what human life and expression is and can be.“ PTDA, p.54 ↩︎
  7. “concrete universality“ PTDA, p.56 ↩︎
  8. „Shakespeares ausführlich gezeichnete Personen haben unstreitig viele ganz individuelle Bestimmungen, aber zugleich eine nicht bloß für sie gültige Bedeutung: sie geben meistens eine ergründende Theorie ihrer hervorstechenden Eigenschaft an die Hand.“ August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Hg. Edgar Lohner. Zweiter Teil, 26. Vorlesung. Stuttgart: Kohlhammer, 1966, S. 131. ↩︎
  9. “Schlegel’s hopes for contemporary theatre do not involve the re-awakening of any particular content, but an ability to present a diversity of viewpoints and, by so doing, create artworks through which modern (romantic) audiences can understand themselves.“ PTDA, p. 56 ↩︎
  10. “In approaching drama, as it presents us with a variety of life choices and modes of action and self-understanding, the critic, according to Schlegel, should not ask which of these life options are preferable, but should engage the kind of syncretism that emerges in their interaction.“ PTDA, p.57 ↩︎
  11. So leider auch Juliane Rebentisch: „Traditionell wurde der Kritiker als jemand vorgestellt, der seine Autorität durch eine Distanz zum Objekt etabliert, die seine Neutralität garantieren soll – so, als ob die Grenzen dieses Selbst und jenes Objekts stabil wären. Der so verstandene ideale Kritiker ist nicht nur objektiv, also von Vorurteilen möglichst frei, er zeigt auch möglichst wenig affektive Reaktionen vor allem keine heftigen wie beispielsweise Scham, Erregung, Angst oder Ekel. Neutralität ist nach dieser Vorstellung eine Voraussetzung für die kritische Urteilspraxis.“ Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung. Hamburg: Junius, 2013, S. 83
  12. Alfred Döblin, Ein Kerl muss eine Meinung haben. Berichte und Kritiken 1921-1924. München: dtv, 1981
  13. Zwei Beispiele: „Der Kritiker ist nur der Sekretär seiner Eindrücke, seiner Empfindungen, seiner Erfahrungen. Hätte der Kritiker Maßstäbe, so wäre alles einfacher.“ Georg Hensel, „Der Hordenkomiker, Alfred Kerr, Karl Valentin und Kollegen. Der Maßstab des Theaterkritikers oder Die Elle des tapferen Schneiderleins“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Mai 1990. Und: „Es gibt keine allgemein gültigen Kriterien, aber man muss trotzdem Urteile fällen. Denn nur am Argument entzünden sich unterschiedliche Betrachtungsweisen, die wiederum die Kreativität des Ganzen befördern. (…) Ein Kritiker darf hassen, gerührt sein, belehren, resignieren, persönlich werden oder jubeln, solange er seine Gefühle in eine verständliche Relation zu dem Gegenstand bringt.“ Till Briegleb, „Kritiker und Theater. 10 Thesen“, in: Dramaturgie, Heft 1/2006, S. 12-13 ↩︎
  14. Paul Woodruff, „Attention to technique in theatre“, PTDA, pp. 109-121 ↩︎
  15. “The critic’s job is not only to watch, but also to observe technique. Even at the cost of losing some joy in the experience.“ PTDA, p. 114 ↩︎
  16. Saint-Saëns, Cellokonzert op. 33; Beethoven, Klaviersonate op. 101 ↩︎
  17. Theseus’ und Hippolytas Kommentare als Zuschauer bei der Handwerkeraufführung ↩︎
  18. “Perhaps that is the best test for greatness in theatre: can a performance steal the attention of educated watchers from technique?“ PTDA, p. 120 ↩︎
  19. vgl. Hamilton PTDA, p. 143
  20. Mit Ausnahme einer Verbeugung vor Derrida (PTDA p. 31) und einer vor Rancière (PTDA p.148)↩︎

Tom Stern über Philosophie und Theater

  • Tom Stern, Philosophy and Theatre. An Introduction. London and New York: Routledge, 2014

Philosophie und Theater scheinen in Deutschland ein inniges Verhältnis zu haben. Philosophisches Assoziationsmaterial findet sich in allen Programmheften. In Theaterwissenschaft und Dramaturgenprosa beruft man sich gerne auf Nietzsche, Foucault, Derrida, Rancière, Flusser oder Žižek. Dabei wird die Philosophie aber überwiegend als Legitmationsresource für das Theater oder für eine bestimmte Auffassung von Theater eingesetzt. Selten wird das Theater von der Philosophie selbst, von ihrem eigenen, unabhängigen Standort aus, in den Blick genommen.

Nun gibt es eine Einführung in das Verhältnis von Philosophie und Theater, geschrieben von einem englischen Philosophen, der nur als Zuschauer in den Theaterbetrieb verwickelt ist. Tom Stern ist Senior Lecturer am Londoner University College, seine Spezialgebiete sind die antike Philosophie und Nietzsche1. Sein Ausgangspunkt ist die englischsprachige analytische Philosophie. Und dort ist es durchaus üblich, die Philosophiegeschichte als eine Folge von Fußnoten zu Platon und Aristoteles zu betrachten 2. Tatsächlich führt Stern fast alle Auseinandersetzungen darüber, was das Theater ist, soll, will oder darf, auf den Gegensatz zwischen diesen beiden Altvorderen der Philosophie zurück.

Andererseits verweist er auf die, nicht allzu umfangreiche, neuere Literatur über das Theater im Bereich der analytischen Philosophie. Und verfährt nach den dort üblichen Methoden: Probleme werden benannt, Argumente gesammelt, geordnet, überprüft und nach schlichten Plausibiltätskriterien bewertet, ohne deutsche systembildende Begriffshuberei oder französische subversive Verwirrungskunst.

Es ist eine Einführung, entstanden aus Seminaren für Studienanfänger. Die naiven Fragen durchschnittlicher Theaterbesucher bilden den Ausgangspunkt. Die Antworten auf diese Fragen aber werden schrittweise in voller Komplexität und mit historischer Schärfentiefe entfaltet. Tom Sterns pädagogische Ausbildung hilft dabei: alle Argumente werden fein säuberlich nummeriert und nach Sichtung von Für und Wider wird eine Schlussfolgerung gezogen.

Tom Stern kennt sehr wohl die aktuellen Debatten in der englischsprachigen Theaterwissenschaft über den „Kampf gegen die Hegemonie des Textes“. Bei seiner Arbeitsdefinition von Theater, „an artistic event that takes place in a particular location with mutually aware performers and spectators engaged income kind of play“ 3, zeigt er genau, wie das aktuelle Theater jedes einzelne Element dieser Definition isoliert und so die Grenzen des im Theater Möglichen austestet („Theater, das nicht Theater sein will“ Th. Oberender). Aber den Schwerpunkt seiner Untersuchungen bildet das textbasierte Theater, das er immer noch als die dominate Form versteht.

Mimesis

In seinem Kapitel über Mimesis unterscheidet Stern zwischen Mimesis als Nachahmung und als Vorstellung. Dadurch wird deutlich, dass auch die Zuschauer im Theater eine mimetische Tätigkeit ausüben. Stern unterscheidet zwischen sinnlicher Vorstellung („sensory imagination“), dass ich mir etwas bildlich vorstelle, und propositionaler Vorstellung („propositional imagination“), dass ich mir vorstelle, etwas sei wahr oder falsch 4. Beide gehören zu den mimetischen Tätigkeiten des Zuschauers: sowohl die Fantasieleistung, dass ich den Geist von Hamlets Vater sehe, obwohl er nur von einem Schauspieler beschrieben wird, als auch die Fantasieleistung, dass ich es für wahr halte (im Rahmen der Fiktion des Theaterstückes), dass Hamlets Vater gestorben ist, obwohl ich mir zu Beginn des Stückes noch kein genaues Bild davon machen kann, wie. So komplexe gedankliche Turnübungen vollführt der angeblich passive Zuschauer oder die Zuschauerin schon zu Beginn einer Vorstellung von Hamlet (sofern ihn oder sie nicht schon die ersten Minuten der Inszenierung eingeschläfert haben oder er sich gerade die Vorderseite der Dame in Reihe 3, Platz 52, deren Rücken er leider nur sieht, vorstellt oder sie darüber nachdenkt, ob Ophelias Kostüm ihr selbst auch stehen würde).

Außerdem gehört für Stern das Spiel in Fantasiewelten („make-believe“ oder „play-acting“) zu den mimetischen Tätigkeiten. Stern diskutiert dabei Kendall Waltons Auffassung, dass Kunstrezeption generell eine Art von vereinheitlichtem, regelgeleitetem Spielverhalten ist, in dem wir uns so verhalten, als wären bestimmte Dinge der Fall, von denen wir wissen, dass sie nicht der Fall sind („unified, rule-bound make-believe“ 5). So könnte man ja die Tätigkeit der Schauspieler und Schauspielerinnen beschreiben. An die Komplexität dieses Begriffs von Mimesis zu erinnern ist nützlich angesichts der Polemiken gegen ein Theater, das sich als Mimesis versteht 6. Auch die gängige Gleichsetzung von Mimesis und Repräsentation, die vor allem auf Rancière zurückzugehen scheint 7, wird durch Sterns Analyse des Begriffs korrigiert .

Wenn heute die Schauspieler nicht mehr „make-believe“ (Kinderspiel) spielen wollen, die Zuschauer nicht mehr die Mühe der Fantasie des Sich-bildlich-Vorstellens und Für-Wahrhaltens auf sich nehmen wollen, ist das Fantasiefaulheit oder überinformierte Gewitztheit? Keine andere Kunstform kann so komplexe Verschränkungen von verschiedenen Mimesis-Arten hervorbringen: das gilt sowohl für Shakespeare wie für Rimini-Protokoll. So gesehen ist das gegenwärtige Theater ein Experimentierkasten für die Kombinationsmöglichkeiten verschiedener Mimesis-Typen. Satt Mimesis als begrifflichen Popanz aufzurichten, den man dann mit donquichotesker Energie umstößt, entfaltet Tom Stern die komplexe Struktur dieses seit Jahrtausenden von der Literatur-und Theaterwissenschaft hin- und hergeworfenen Begriffs.

Wahrheit

Eng mit dem Begriffsstreit um Mimesis verbunden ist die Frage nach der Wahrheit auf dem Theater. Stern hält sich nicht lange mit einer Definition von Wahrheit auf, sondern geht einfach von einer Sottise von Bertrand Russell aus, der feststellte, Shakespeares Aussagen in Hamlet seien nicht wahr, weil es die Person Hamlet schließlich nie gegeben habe 8. Mit diesem referentiellen Begriff von Wahrheit lässt sich schnell die Behauptung abfertigen, das Theater würde uns wahre Erkenntnisse vermitteln. Auch implizite oder universelle Wahrheit lernen wir nicht im Theater. „We did not find a particular or special way in which we learn from theatre.“ 9 Es bleibt nur die Interaktion zwischen Zuschauer und Aufführung, eine gewisse Anregung zum Denken. 10 Das ist ein ernüchternder Befund, wenn man ihn mit den hochfliegenden Rechtfertigungen des Theaters als eines Zugangs zur „überlegenen“ 11 oder „sich offenbarenden Wahrheit“12 oder der Behauptung, Kunst sei ein „Wahrheitsverfahren“13, vergleicht.

Der Gegenbegriff zur Wahrheit ist die Illusion. Auch hier hält sich Stern aus der Bewertung heraus und analysiert erst einmal genau, was den mit diesem Begriff im Theater gemeint sein kann. Er unterscheidet vier Typen von Illusion: die optische Illusion (wie sie auch außerhalb des Theaters vorkommt), die Bühnenbildillusion (vorgetäuschte Materialien), die Zauberer-Illusionen („Houdini-type tricks“) und die durch die Schauspieler hervorgerufene Illusion (Verhüllung oder Enthüllung der Identität)14. Davon unterschiedet er die Trance, das Gebanntsein („being under the spell“), in das der Zuschauer gelegentlich verfällt. Dies ist ein freiwilliger Beitrag des Zuschauers, der auch jederzeit zurückgenommen werden kann, es ist das, was schon Samuel Coleridge „willing suspension of disbelief“ nannte 15.

Vergleicht man Sterns Analyse des Begriffs theatralischer Illusion mit dem Hans-Thies Lehmanns, zeigt sich, wie beliebig manchmal solche Begriffe gefüllt werden. Für Lehmann hat Illusion drei Aspekte: den Aspekt der Magie, den Aspekt des Eros und den Aspekt der Konkretisation16. Der Aspekt der Magie entspricht Sterns „Zauberer-Illusion“ („Illusionist Illusion“). Der Aspekt des Eros wird bei Stern im Kapitel „Emotionen“ abgehandelt. Für Lehmann ist es die „Identifizierung mit der sinnlichen Intensität der Schauspieler“. Der Aspekt der Konkretisation, das Füllen von Leerstellen (bei Stern „gap-filling“), ist für Stern nicht theatertypisch, da er auch im Alltag eine Rolle spielt. Aber Lehmann kommt es darauf an zu zeigen, dass „Illusion“ auch ohne Konkretisation möglich sei. Für ihn ist Konkretisation das Kennzeichen von Fiktion, der Schaffung einer fiktiven Welt auf der Bühne. Und das ist das Ziel seiner Begriffsanalyse (oder eher -synthese): zu zeigen, dass Fiktion im Theater überflüssig ist. Dass Konkretisation keine notwendige Bedingung des Theaters ist, darin sind sich zwar beide einig. Aber für Stern ist diese Konkretisation eine Vorstufe der viel umfassenderen Aktivität des Zuschauers als Teil theatralischer Mimesis. Für Lehmann ist Fiktion eine verzichtbare Zutat zu Eros und Magie des Theaters.

Moral und Emotion

Auch wenn das Theater keine Wahrheiten liefert, so kann es doch als Schule der Moral wirken, so die im deutschen Theater beliebte Rechtfertigung. Und wenn es auch keine verbindlichen moralischen Regeln geben sollte, so kann das Theater doch Emotionen hervorrufen und helfen, die Emotionen anderer zu verstehen. Doch beide Theorien lösen sich unter Sterns sezierendem Blick in ungelöste Einzelprobleme auf.

Die Frage der moralischen Wirkung des Theaters entfaltet Stern nach zwei Seiten: nach der Wirkung auf das Publikum und der auf die Schauspieler. Nach einem Durchgang durch alle Argumente der Debatte zwischen Rousseau und d’Alembert17 entlastet er das Theater von der Aufgabe der moralischen Besserung der Zuschauer. Und nach einer Überprüfung aller Argumente Diderots und Platons gegen die Unsittlichkeit und Hohlheit des Schauspielerberufs entlastet er auch die Schauspieler vom Vorwurf der Sittenlosigkeit. Dabei wird auch der in der aktuellen deutschen Theaterdiskussion so heißgeliebte Begriff der Authentizität demontiert: hinter ihm stehe ein statisches Bild des Menschen.18 Sterns Resümee am Ende des Kapitels „A school of morals?“ ist diesmal eindeutig: Die Annahme, dass das Theater als Ganzes die Menschen verderbe, sei genauso unwahrscheinlich wie die, dass es sie verbessert.19 Theater ist weder moralisch noch unmoralisch. Moralisch belanglos also.

Bleibt die emotionale Wirksamkeit des Theaters, die kaum bestritten werden kann. Aber wie kommt es dazu und worin besteht genau diese emotionale Wirkung? Stern identifiziert drei Probleme: Warum reagieren wir emotional auf Figuren, von denen wir wissen, dass sie nicht real sind? Warum haben wir Vergnügen an Abläufen, die uns im wirklichen Leben Angst einjagen?20 Was ist diese ominöse Katharsis, von der alle seit 2300 Jahren reden?21 Alle Fragen werden sorgfältig geprüft.

Für die erste Frage hat er eine pluralistische Lösung: Manchmal haben wir Mitgefühl für Menschen, von denen wir wissen, dass sie nicht existieren; manchmal vergessen wir die Wirklichkeit völlig und glauben, die Menschen auf der Bühne, mit denen wir fühlen, existierten wirklich; manchmal spielen wir uns selbst Gefühle vor, die wir gar nicht haben; manchmal haben wir gar kein Mitgefühl mit Menschen, sondern reagieren emotional auf ein Thema, das uns beschäftigt.22 Für die zweite Frage ist die Antwort ebenso pluralistisch: manchmal geht es um sadistischen Voyeurismus, manchmal um Anregung des moralischen Nachdenkens, manchmal Mitgefühl mit einem Unglücklichen einfach ein schönes Gefühl sein und manchmal ist eine Tragödie einfach grässlich. 23In der Diskussion über die Katharsis schlägt sich Stern vorsichtig auf die Seite derer, die vor einer Interpretation von Katharsis als moralischer Läuterung warnen.24

Die Argumente werden als Argumente vorgestellt und erst in den Anmerkungen findet sich ihre Herkunft aus der aktuellen englischsprachigen Literatur nachgewiesen. Aber Sterns Ergebnis bleibt immer unentschieden. Er nimmt nicht Partei, er stellt keine Forderungen. Er zeigt die Herausforderungen, die sich beim klärenden Nachdenken über das Theater ergeben. Wie es sich für eine philosophische Einführung gehört.

Politik

Stern sieht, wie viele andere Autoren auch, den strukturell politischen Charakter von Theater, ganz unabhängig davon, ob seine Inhalte politisch sind 25, deshalb untersucht er sowohl die politische Dimension von Theatertexten als auch von Theateraufführungen. Ausgehend von dem Beispiel von Caryl Churchills Drama „Seven Jewish Children“, das den israelisch-palästinensischen Konflikt behandelte, argumentiert er gegen Platons Kritik, die Künstler verfügten über kein Wissen und keine Qualifikation, politisch Stellung zu nehmen. Dagegen stellt er (mit Hegel26) die These , die politische Aufgabe des Theaters sei es, Fragen zu stellen und Aufmerksamkeit zu wecken. 27 Hier ist Stern nun doch sehr eindeutig. Für die deutsche Diskussion fehlt aber die Überlegung, wie weit diese politische Struktur des Theaters auch eine demokratische Struktur ist. Denn das ist der gängige Vorwurf an textbasiertes Theater auf der Bühne, dass es die Zuschauer zu passiven, im Zuschauerraum zur bloßen Kontemplation gefesselten Untertanen des Bühnengeschehens macht.

Den Abschluss von Sterns Einführung bildet ein Kapitel über Brechts politisches Theater. Das Ergebnis der Bewertung ist hier überwiegend negativ. Brecht wird auf die platonische Seite geschoben28, sein anti-aristotelisches Theater wird mit denselben Argumenten kritisiert, mit den Aristoteles Platons Abwertung der Kunst als „triton ap’ aletheias“ ablehnt. Seine Theaterpraxis wird als Beitrag zur Weiterentwicklung des Theaters gewürdigt. Seine Theatertheorie aber wird mit Eric Bentley als Mittel zur Steigerung der Aufmerksamkeit auf seine Stücke abgetan.29

Für englische Verhältnisse dürfte dieses Buch eine sehr brauchbare und anspruchsvolle Einführung in das Nachdenken über Theater sein. Für deutsche Verhältnisse ist es die Einführung in ein ganz anderes Nachdenken über Theater, als man es hier gewohnt ist. Vielleicht scheinbar naiver, aber dafür gedanklich präziser.

 

  1. http://sterntom.com ↩︎
  2. „The safest general characterization of the European philosophical tradition is that it consists of a series of footnotes to Plato.“ Alfred North Whitehead, Process and Reality (1929) Part II, Section I; https://archive.org/stream/AlfredNorthWhiteheadProcessAndReality/Alfred%20North%20Whitehead%20-%20Process%20and%20Reality_djvu.txt ↩︎
  3. Stern, p.6 ↩︎
  4. Stern, p.39 ↩︎
  5. Stern, p.40 ↩︎
  6. z.B. „At the centre of the critique (sic!) of dramatic theatre stood its use of however estranged mimetic representation, which was seen as discredited and was subsequently confronted with the notion of presence.“ Florian Malzacher, „No Organum to follow: Possibilities of political theatre today“, in: Florian Malzacher (ed.), Not just a Mirror. Looking for the political theatre of today. Berlin: Alexander Verlag, 2015 p.18 ↩︎
  7. “The aesthetic break has generally been understood as break with the regime of representation or the mimetic regime. But what mimesis or representation means has to be understood. What it means is a regime of concordance between sense and sense.“ Jacques Rancière, „Aesthetic Separation, Aesthetic Community: Scenes from the Aesthetic Regime of Art“. Art & Research. A Journal of Ideas, Contexts and Methods. Volume 2. No. 1. Summer 2008, http://www.artandresearch.org.uk/v2n1/ranciere.html, p.5 deutsch in : Friedrich Balke e.a. (Hg.), Ästhetische Regime um 1800. Paderborn: Fink, 2009 ↩︎
  8. Stern p. 49; oder Bertrand Russell: „The play ‚Hamlet‘ consists entirely of false propositions.“ in: An Inquiry into meaning and truth (1940). Die konträre Position findet sich bei Adorno: „Keine Aussage wäre aus Hamlet herauszupressen; dessen Wahrheitsgehalt ist darum nicht geringer.“ Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. (=Gesammelte Schriften Bd. 7). Frankfurt/M: Suhrkamp, 1970, S. 193 ↩︎
  9. Stern, p.70 ↩︎
  10. “we are talking about a kind of interaction between spectator and performance … a certain kind of provocation or stimulation to thought“, Stern p.54 ↩︎
  11. “So ist die Handlung eines Schauspiels (…) schlechterdings als etwas in sich selbst Beruhendes da. Sie lässt kein Vergleichen mit der Wirklichkeit als dem heimlichen Maßstab aller abbildlichen Ähnlichkeit mehr zu. Sie ist über allen solchen Vergleich hinausgehoben – und damit über die Frage, ob denn das alles wirklich sei -, weil aus ihr eine überlegene Wahrheit spricht.“ Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Tübingen: Mohr,41975, S.107 ↩︎
  12. „Sie (die Wahrheit der Kunst) ist weder die bestehende noch die ignorierte, sondern die bis eben unbekannte, die sich offenbarende Wahrheit.“ Adolf Dresen, „Wahrheitsagen“, in: A.D., Siegfrieds Vergessen. Kultur zwischen Konsens und Konflikt. Berlin: Ch. Links, 1992, S. 223 ↩︎
  13. Alain Badiou, Kleines Handbuch zur Inästhetik. Wien: Turin & Kant, 2012 (frz. 1998), S. 20 ↩︎
  14. Stern, p.62f ↩︎
  15. „that willing suspension of disbelief for the moment, which constitutes poetic faith“, Samuel Taylor Coleridge, Biographia Literaria (1817). Ch. XIV, ebook Project Gutenberg, 2004 p.347 ↩︎
  16. „An dem, was Illusion genannt werden kann, lassen sich bei näherem Hinsehen mindestens drei Aspekte unterscheiden. Es besteht aus dem Staunen über die möglichen Realität-Effekte (Aspekte der Magie); aus der ästhetischen und sinnlichen Identifizierung mit der sinnlichen Intensität der realen Schauspieler und Theaterszenen, tänzerischen Bewegungsformen und verbalen Suggestionen (Aspekt des – hellen oder dunklen – Eros); aus der inhaltlichen Projektion eigener Welterfahrung auf die vorgeführten theatralen Modelle, verbunden mit den mentalen Akten des „Ausfüllen der Leerstellen“ und der Einfühlung in die dargestellten Personen, wie die Rezeptionsäthetik sie analysiert, die mutatis mutandis im Zuschauerraum-Akt ebenso wie im Lese-Akt stattfindet (Aspekt der „Konkretisation“).“ Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater. Frankfurt/M: Verlag der Autoren, 1999, S. 191 ↩︎
  17. Jean-Jacques Rousseau, „Brief an d’Alembert über das Schauspiel“, in: J-J.R., Schriften hg. v. Henning Ritter. Bd. 1. Berlin: Ullstein, 1981, S.433-474 ↩︎
  18. Stern, S. 119 zur deutschen Debatte siehe u.a. Wolfgang Engler/Frank M. Raddatz, „Entfremdung verboten! Die Fallstricke des Authenitizitätsdikurses und die Freiheit des Spiels.“ Lettre International No. 114 Herbst 2016, S. 52-74. Eine sprachlich ganz andere, aber inhaltlich ähnliche Position vertritt mein kurzzeitiger Lehrer Hans Günther von Kloeden: „Freiheit und Echtheit bedingen sich gegenseitig.(…) So entsteht also Wahrheit aus Freiheit.“ in: Hans Günther von Kloeden, Grundlagen der Schauspielkunst II: Improvisation und Rollenspiel. Velber: Friedrich Verlag, 1967, S.24 ↩︎
  19. Stern, p. 123 ↩︎
  20. ohne Bezug zu Schillers in Deutschland kanonischer Abhandlung „Über den Grund des Vergnügen an tragischen Gegenständen“ von 1792 ↩︎
  21. ohne Bezug zu Wolfgang Schadewaldts in Deutschland epochemachenden Aufsatz „Furcht und Mitleid? Zur Deutung des aristotelischen Tragödiensatzes“ von 1955 ↩︎
  22. Stern ,p. 138 ↩︎
  23. Stern, S. 148 ↩︎
  24. Stern, p. 155 ↩︎
  25. vgl. „So ist das Theater denn in der Tat die politische Kunst par excellence, nur auf ihm, im lebendigen Verlauf der Vorführung, kann die politische Sphäre des menschlichen Lebens überhaupt soweit transfiguriert werden, dass sie sich der Kunst eignet.“ in: Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben. München, Piper, 81998 zuerst engl. The Human Condition 1958, S. 180; und „Isomorphie Politik/Theater“ Alain Badiou, Rhapsodie für das Theater. Kurze Philosophische Abhandlung. Wien: Passagen, 2015, S. 30 ↩︎
  26. „Das Kunstwerk (…) ist wesentlich eine Frage, eine Anrede an die widerklingende Brust, ein Ruf an die Gemüter und Geister.“ G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1970 (=Theorie Werkausgabe Bd. 13), S. 102 ↩︎
  27. “My point is that, by moving away from thinking about the political play as informing us towards thinking about it as demanding certain kinds of attention or thoughts we place different and perhaps less stringent demands on its creators. Playwrights may not deserve the authority to tell us about the world, but anyone can ask us to look or to think.“ Stern, p.174 ↩︎
  28. “ (Brecht offered) a critique that has been opened in influence and to some extent in content to that of Plato.“ Stern p.189 ↩︎
  29. “’Back in the the early twenties, Brecht’s plays were not getting much attention. ‚What you need‘ a friend told him, ‚is a theory. To make your stuff important.‘“ Eric Bentley, zit. bei Stern p. 189 ↩︎

Alain Badiou über das Theater

Philosophen meiden das Theater: zu konkret. Kommunisten meiden das Theater: zu bourgeois. Ein kommunistischer Philosoph, der ins Theater geht? Gibt es, immer noch: Alain Badiou. Er ist der Mann, der das Verhältnis von Philosophie und Theater vom Kopf auf die Füße stellt. Nicht mehr Ablehnung, weil das Theater ja nur Verfälschungen der Wahrheit biete (Platon, Rousseau), nicht nur Abgrenzung, weil es in der Kunst ja gar nicht um Wahrheit gehe, sondern nur um emotionale Wirkungen (Aristoteles), nicht nur Verherrlichung der Kunst als privilegierter Weg zur Wahrheit (Romantik, Heidegger), auch nicht Reduktion des Theaters auf den Theatertext (Hegel). Sondern: die Philosophie im Dienste des Theaters. Die Philosophie untersucht, von welcher Art die Wahrheiten des Theaters sind.

So wird Badiou zu einem der Lieblingsphilosophen der Dramaturgen und wird seit einigen Jahren auf allen europäischen Theaterfestivals eingeladen. Aber Badiou ist nicht Žižek, der universal einsetzbare Sinnzerstäuber, mit dem man in Programmheften intellektuelle Duftnoten versprühen kann. Badiou ist der elegante philosophische Holzhammer, ein Dinosaurus gallicus, einzig Überlebender einer ausgestorbenen Spezies, ein Platoniker, für den Mathematik die Grundlage der Ontologie ist, Erbauer eines auf mengentheoretischen Axiomen basierenden umfassenden Gedankengebäudes.

Badiou, Rhapsodie für das Theater Titelbild.jpg

Im Passagen Verlag ist Ende letzten Jahres eine Übersetzung der Neuausgabe von Badious „Rhapsodie für das Theater“ herausgekommen, die zuerst 1990 in Frankreich erschienen war. Badiou hat 2014 ein neues Vorwort dazu geschrieben, ansonsten ist die Neuauflage unverändert. Alle eingestreuten Listen mit Badious Lieblingsregisseuren beziehen sich auf die 80er Jahre: Vitez, Grüber, Stein usw.. Badiou nennt das die Phase der „defensiven Didaktik“ im Theater. Theatertheorie der 80er Jahre also. Was könnte daran heute noch interessant sein?

 

Dazu drei Interpretationsansätze:

  1. Theater produziert Wahrheit. Wahrheit ist für Badiou kein Verhältnis zwischen Gedanke und Wirklichkeit – alle Wahrheitstheorie von Aristoteles bis Tarski lehnt er als unmodern ab -, sondern ein Prozess. In einem Ereignis entsteht eine Wahrheit. Was er mit dem Begriff Ereignis meint, erklärt er meist mit dem Beispiel der Konzeption der mathematisierten Physik bei Galilei, der französischen Revolution von 1792 oder – und das ist sein Lieblingsbeispiel – mit dem Pariser Mai 68. Interessant ist nun, dass Badiou dieses Konzept der Wahrheit nicht nur auf die Wissenschaft, die Politik und die Liebe anwendet, sondern auch auf die Kunst und dabei auch auf das Theater. Jede Theateraufführung, die es verdient, nicht in Anführungszeichen geschrieben zu werden, produziert eine Theater-Wahrheit, die nur auf der Bühne entsteht kann. Sie ist „völlig singulär, dem Bühnengeschehen völlig immanent, ein quasi-politisches Ereignis, das unsere Situation in der Geschichte erhellt.“
  2. Das Theater denkt. Badiou schreibt: Theater trifft „eine Aussage über sich selbst und die Welt“ und führt „durch die Verknüpfung dieser doppelten Untersuchung den Zuschauer in eine Sackgasse des Denkens“.

Das heißt also: Theater muss immer eine Aussage über sich selbst treffen, d.h. reflexiv, d.h. sich seiner Form bewusst sein und dies auch erkennbar machen. Es muss, indem es seine Form erfüllt, diese untersuchen.

Theater muss ebenfalls immer eine Aussage über die Welt treffen, darf sich nicht in der Selbstreflexion erschöpfen. Es muss etwas über die Welt behaupten. Diese Aussage darf aber nicht dogmatisch sein (so ist es), sondern muss eine Untersuchung sein (wie ist es denn?).

Diese beiden Aussagen müssen in der Inszenierung verbunden sein: keine Aussage über die Welt ohne Selbstreflexion des Theaters und umgekehrt.

Durch die Verknüpfung und gegenseitige Abhängigkeit dieser beiden Aussagetypen gerät der Zuschauer in einen Zwiespalt: Ist die Aussage über die Welt wahr oder ist sie nur Ergebnis der gewählten Form? Die Aussage über die Welt darf nie ohne  Berücksichtigung ihrer künstlerischen Form verstanden werden. Diese Ambivalenz oder Mehrdeutigkeit bewegt das Denken des Zuschauers. Das Vergnügen des Zuschauers im Theater ist „das unsichere Produkt geistiger Konzentration“.

  1. Theater ist politisch. Badiou meint damit nicht seine Inhalte oder Themen, sondern seine Struktur. Er sieht eine Isomorphie von Theater und Politik. Dabei versteht der dem Ereignis von 1968 treu bleibende Wahrheitssucher Badiou unter Politik nicht die Interessenausgleichsprozesse der parlamentarischen Demokratie, sondern eine aus einem Ereignis hervorgehende Massenbewegung mit Programm. Diese drei Elemente dessen, was er Politik nennt, – Ereignisse, die durch sich zusammenfindende Menschenmassen entstehen, von Akteuren verkörperte Standpunkte und ein diskursiver gedanklicher Bezugspunkt – entsprechen den drei elementaren Bedingungen des Theaters – Publikum, Schauspieler, textlicher Referent. Das Theater ist für ihn immer „figurative Wiederanknüpfung an die Politik“.

 

Auch seine drei mit ironischem Augenaufschlag vorgetragenen praktischen Reformvorschläge beruhen auf diesem Konzept:

  • Die Pause soll im Theater wieder eingeführt werden, weil nur in ihr das Publikum sich als zufälliges Kollektiv selbst wahrnimmt, ganz in Analogie zum politischen Kollektiv. Im Theater, diesem „paradoxalen Staat“, müssen die Zuschauer sich „in einer dichten und greifbaren Menge verlieren können“.
  • Der Beifall für Schauspieler soll abgeschafft werden, nur Autor und Regisseur dürfen beklatscht werden (tote Autoren werden durch Schauspieler-Dummies ersetzt). Denn nur durch den Text als überdauerndem Referenten und seine Ausdeutung durch den Regisseur kann das Theater seine Bestimmung „der Aufhellung des Moments durch eine Begegnung mit dem Ewigen“ erfüllen.
  • Der Theaterbesuch soll gesetzliche Pflicht sein. Nachgewiesener Theaterbesuch im vorgeschriebenen Umfang soll zur Steuerreduktion führen. Denn das Theater ist eine „so grundsätzliche und wertvolle Erfahrung für uns“, dass es nicht nur wenigen vorbehalten sein darf: „Elitär für alle“.

 

Bei der Einschätzung der aktuellen Tendenzen des europäischen Theaters führt dieses Denken des 78jährigen zu einer scheinbar konservativen Tendenz. Im Vorwort von 2014 wendet sich Badiou gegen die zwei gängigen Formen der gesellschaftliche Desorientierung, „die demokratische Selbstzufriedenheit und den passiven Nihilismus“. Im Theater diagnostiziert er eine „hyperkritische Position“, die er der „eitlen Negation“, d.h. dem „passiven Nihilismus“ zuordnet. Auch in einem Schaubühnen-Interview mit Florian Borchmeyer nennt er ein Theater, „das seine eigene […] Unmöglichkeit [der Repräsentation] in einer Welt darstellt, die es nicht mehr erlaubt, dargestellt zu werden“, ein nihilistische Theater. In einem seiner vielen im Druck veröffentlichten Gespräche jedoch schätzte er 2007 die gegenwärtigen Theaterexperimente differenzierter, aber nicht weniger kritisch ein: Sie müssten als künstlerische Projektion der herrschenden Ideologie „nach dem Tod Gottes und unter der abstrakten Herrschaft des Marktes“ verstanden werden, sie seien nur eine „ideologische Zeiterscheinung“. Er spricht ihnen aber ab, subversiv zu sein. Performance sei ein mögliches Milieu für die Erfindung neuer Formen und Bedeutungen, aber noch nicht diese Erfindung selbst.

Das deutsche Theater sucht heute seine Rechtfertigung, sucht seine gesellschaftliche Funktionsbestimmung zwischen Konsensbildung und Konsenszersetzung. Etwas Badiou-Lektüre könnte da helfen.


 

  • Alain Badiou, Rhapsodie für das Theater. Kurze philosophische Abhandlung. Aus dem Französischen von Corinna Popp. Wien: Passagen Verlag, 2015 (zuerst frz. Paris 2014, Neuauflage der ersten Ausgabe von 1990 mit neuem Vorwort)
  • Alain Badiou, „Theatre and Philosophy“ in: Alain Badiou, Rhapsody for the theatre. Edited and Introduced by Bruno Bosteels. London/New York: Verso, 2013 p. 93-109 [zuerst „Théâtre et philosophy“, talk May 1998 Comédie de Reims, Reims: Noria, Cahier 13, also in: Frictions: théâtres-écritures 2 (Spring Summer 2000) pp.133-41]
  • Alain Badiou, „Thesen zum Theater“, in: A.B., Kleines Handbuch zur Inästhetik, 2. Auflage. Aus dem Französischen von Karin Schreiner. Wien: Turin + Kant, 2012 [frz. Petit Manuel d’Inesthétique. Paris: Editions du Seuil, 1998, zuerst: „Dix thèses nur le theatre“, in: Les Cahiers de la Comédie-Française. Paris 1995]
  • Alain Badiou, „A Theatre of A Discussion between  Alain Badiou and Elie During“ Meseu d’Art Contemporani Barcelona, Exhibition „Theatre with out theatre“ 2007
  • Alain Badiou, „Event and Truth“, Vortrag bei dem Symposium „Event in Artistic and Political Practices“ (26.-28.03.2013) in Amsterdam,
  • Alain Badiou, „Es gibt keine Welt. Alain Badiou im Gespräch mit Florian Borchmeyer“, in: Schaubühne Berlin, 2. Spielzeitheft 2014/15
  • Siehe auch Andreas Toblers Rezension: Andreas Toblers Rezension von Badious „Rhapsodie für das Theater“ auf Nachtkritik.