Gibt es eine Philosophie des Theaters? Teil 3

Rezension von: Tom Stern (ed.), The Philosophy of Theatre, Drama and Acting. London/New York: Rowman & Littlefield, 2017. 209 pages

Tom Stern PTDA Titelbild

Teil 3 von 5: Das Theater und das Leben (an sich)

Wenn die Aufsätze über das Verhältnis von Philosophie und Theater vielleicht für diejenigen, die sich nicht als professionelle Philosophen verstehen, etwas unergiebig bleiben, so finden sich aber auch Aufsätze, die auch dem Nicht-Philosophen weiterhelfen können.

Lior Levy von der Universität Haifa untersucht Jean-Paul Sartres Konzeption des Theaters1. Dessen Vortrag „Episches und dramatisches Theater“ von 1960 wird sonst vor allem als Versuch, einen Mittelweg zwischen Brechts epischem Theater und dem „bourgeoisen Theater“ zu finden, also als eine Rechtfertigung von Sartres eigener Dramenproduktion verstanden. Levy aber stellt diesen scheinbar etwas geschwätzigen Vortrag in den systematischen Zusammenhang von Sartres Philosophie. Er geht aus von der Unterscheidung von Bild („image) und Analogon („analogue“), die Sartre in seiner frühen Arbeit „L’imaginaire“ (1940) macht. Repräsentierende Analoga sind die Kunstwerke als materielle Objekte, Bilder (images) sind dagegen Vorstellungen, die keine materielle Realität haben. Levy wendet diese Unterscheidung auf die Schauspieler an: „Actors, as analogues, are present. Characters remain absent as images.“2Im Theater gibt es aber zwei Analoga: den Dramentext oder das Bühnengeschehen und den Schauspieler. Die Schauspieler erschaffen für sich Bilder der Charaktere, die sie darstellen. Und sie sind selbst Analoga für die Zuschauer, die daraus für sich Bilder erschaffen. Das Theater entsteht aus dieser Überlagerung von Bildern3. 4

Für Sartre ist Handlung das Wesen des Theaters5, nicht in dem Sinne, dass ein „plot“ erzählt werden muss, sondern, dass das Kunstwerk, das auf der Bühne entsteht, durch handelnde Menschen entsteht. Um handeln zu können, braucht der Mensch einen „Entwurf“ („projet“) von sich selbst6. Dieser Entwurf ist nicht ein bestimmtes Ziel, das sich ein Mensch bewusst setzt, sondern eine dem Handelnden selbst nicht direkt zugängliche ursprüngliche Wahl, die die Voraussetzung für alle seine einzelnen Wahlen ist. Auch der Schauspieler macht einen solchen Entwurf seiner Figur, ohne sagen zu können, worin er besteht, wenn er sich ein Bild („image“) des Charakters macht7. Er tut also etwas, das wir im Leben auch tun. Er ermöglicht uns also zu erkennen, wie wir leben8. Theater ist ein Mittel zur Selbsterkenntnis9. Wir sehen, dass der Entwurf gelebt wird durch Handeln, dass wir nicht erst etwas oder irgendwer sind und danach handeln, sondern dass wir erst handeln und deshalb etwas oder irgendwer sind. Wir sind nämlich frei in unseren Handlungen. Daran, meint Levy, erinnert uns das Theater.

Etwas anderes über unser Leben erfahren wir aus Tzachi Zamirs Reflexionen darüber, was ein Schauspieler tut10. Er geht aus von dem, was er „giving focus“ nennt, Aufmerksamkeit für einen anderen Schauspieler herstellen, Aufmerksamkeit ablenken, das Sich-Selbst-Herunterspielen. Das muss jeder Schauspieler irgendwann lernen. Und für Zamir ist es ein Grundzug aller Schauspielerei, nicht nur weil auf der Bühne mehrere Schauspieler zusammenarbeiten, sondern weil jeder einzelne Schauspieler etwas zeigt, eine Figur, einen Vorgang – nicht sich. Im Gegensatz zu allem, was man sonst über Schauspieler sagt – eitle Durchwehgeschöpfe – und ganz im Gegensatz zum Wandel des Schauspielers zum Performer, der alle Mittel der Aufmerksamkeitssteigerung für sich selbst nutzt,11sieht Zamir als eine Grundtugend der Schauspielerei deshalb die Großzügigkeit an, das freigiebige Verschenken12. Nicht, dass alle diese Tugend wirklich besäßen. Aber sie ergebe sich als Ziel notwendig aus der Analyse dessen, was Schauspielerei ist.

Zum anderen geht er auf die Rolle ein, die Künstler als Vorbild für die Lebensführung haben. Seit Nietzsche ist das Verhältnis des Subjekts zu seinem Leben analog dem des Künstlers zu seinem Werk13. Das eigene Leben wird nach ästhetischen Kriterien gestaltet und beurteilt. Schön soll es sein und nicht langweilig. Auch Zamir hält diese Analogie zwischen künstlerischer Gestaltung und authentischer Lebensführung aufrecht14. Durch seine Analyse der Schauspielkunst aber sieht er andere Möglichkeiten der kreativen Selbstgestaltung. Die Unterordnung der eigenen Entscheidungen unter die nur gemeinsam mit anderen zu erreichende Wirkung sei auch authentisch. Zamir kommt so zu Aussagen, die konträr zum Zeitgeist stehen : „Ich kann mich zum Beispiel entscheiden, eine Nebenrolle in der Lebensgeschichte eines anderen Menschen zu spielen, und diese Entscheidung kann ein wertvoller Teil von dem werden, was einige Aspekte meines eigenen Lebens für mich bedeutungsvoll und einzigartig macht.“15

Ein weiteres Ergebnis der Untersuchung der Aufmerksamkeitssteuerung durch Nebenrollen ist, dass Empathie im Theater in zwei Richtungen wirkt. Nicht nur das Publikum fühlt sich in die Charaktere ein, sondern auch die Darsteller fühlen sich in das Publikum ein. Die Schauspieler, die die Aufmerksamkeit des Publikums auf einen anderen lenken, tun dies meist in Vorwegnahme von Reaktionen des Publikums oder in der Sichtbarmachung von unterdrückten oder halbbewussten Reaktionen des Publikums. So rückwärtsgewandt den Verfechtern der „Ästhetik des Performativen“ eine solche Analyse vielleicht erscheint, sie ist nicht naiv, sondern ergibt sich aus der genauen Beobachtung der Tätigkeiten von Schauspielern.16

Versprochen war, wir könnten etwas daraus für das Leben lernen. Also: „Die Selbstlosigkeit des Schauspielers kann die Ästhetik der Selbsterschaffung bereichern.“17Vom Theater lernen heißt, schöne Bescheidenheit zu lernen. Das ist wirklich etwas Neues.18


  1. Lior Levy, „The image and the act – Sartre on dramatic theatre“, PTDA, pp. 89-108 ↩︎
  2. PTDA p.95↩︎
  3. „The interaction between actors’ and spectators’ imaginations, their joint participation in the constitution of images, makes theatre an inherently democratic art.“ PTDA p.97. ↩︎
  4. Exkurs: Durch eine Anmerkung Levys wird das distanzierte Verhältnis von englischsprachiger Theaterphilosophie und deutscher Theaterwissenschaft deutlich: Levy zitiert aus der englischen Übersetzung von Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen zwei Modelle der Beziehung zwischen Aufführung und Zuschauern: das traditionelle, mit „staging strategies to stir the audience into guided and controlled responses“ und andererseits das seit den 60er Jahren entstandene Modell mit Aufführungen „generated and determined by a self-referential feedback-loop.“ (PTDA p.106 Annotation 29) Levy ordnet Sartre dem zweiten Modell zu, obwohl er zugibt, dass für Sartre Schauspieler und Zuschauer weiterhin unterschieden werden. An Levys Kommentar wird das Interesse deutlich, die traditionelle Theaterpraxis mit vorgegebenem Dramentext und klarer Trennung von Bühne und Publikum zu verteidigen, aber auch die Unkenntnis oder Verharmlosung des Fischer-Lichteschen Konzepts. Die Wechselwirkung von Zuschauer und Darsteller im traditionellen Theater ist etwas anderes als die Fischer-Lichtesche Feedback-Schlaufe, in der Schauspieler und Zuschauer Ko-Subjekte eines Ereignisses sind. Und mit dem, was Levy das traditionelle Modell nennt, meint Fischer Lichte auch nicht das Ende des 19. Jahrhunderts entstandene bürgerliche Theater, sondern die Ansätze eines aktivierenden politischen Theaters im frühen 20. Jh. bei Eisenstein und Piscator. (Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen. Frankfurt/M: Suhrkamp, 2004, S.60) ↩︎
  5. „Il n’y a pas d’autre image au théâtre que l’image de l’acte, et si l’on veut savoir ce que c’est que le théâtre, it faut se de- mander ce que c’est qu’un acte, parce que le théâtre représents l’acte et it ne peut rien repré-senter d’autre.“ –  „Es gibt kein anderes Bild im Theater als das Bild der Tat, und wenn man wissen will, was Theater ist, muss man sich fragen, was eine Tat ist, weil das Theater die Tat darstellt und nichts anderes darstellen kann.“   Jean-Paul Sartre, „Episches und dramatisches Theater“ (1960), in: J-P.S., Mythos und Realität des Theaters. Schriften zu Theater und Film 1931-1970. Reinbek: Rowohlt, 1991,S. 96↩︎
  6. Heideggers ethymologisch aufgeladene Begriffsbildung („Der Entwurf ist die existenzielle Seinsverfassung des Spielraums des faktischen Seinkönnens. Und als geworfenes ist das Dasein in die Seinsart des Entwerfens geworfen.“ Martin Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer, 15. Aufl. 1979, S.145) wird im Französischen bei Sartre zum schlichten „projet“ („Toutes ces menues attentes passives du réel, toutes ces valeurs banales et quotidiennes tirent leur sens, à vrai dire, d’un premier projet de moi-même, qui est comme mon choix de mois-même dans le monde. Mai précisément, ce projet de moi vers une possibilité première, qui fait qu’il ya des valeurs, des appels, des attentes et en général un monde, ne m’apparait qu’au delà du monde comme le sens et la signification abstraits et logiques de mes enterprises.“ Jean-Paul Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique. Paris: Gallimard, 1943, p.75 ↩︎
  7. In Schauspiellehrbüchern wird versucht, dieses Verfahren zu schematisieren. Z.B. bei Susan Batson, wo es heißt: „Every scripted character has three basic dimensions – Public Persona, Need and Basic Flaw. Every person has the same three dimensions. In order really to act – to breathe life into a script – you must identify and explore these three dimensions in yourself.“ (Susan Batson, Truth: personas, needs and flaws in building actors and creating characters. New York: Webster\Stone, 2013 p.8) . Und dann werden alle Theaterfiguren auf diese drei Wesenszüge festgenagelt. Das ist natürlich nicht das, was Sartre meint. Sartre sagt: „Totales Objekt sein könnte man entweder für die Ameisen oder für die Engel, aber als Mensch kann man es nicht für die Menschen sein.“ (Jean-Paul Sartre, „Episches und dramatisches Theater“ (1960), in: J-P.S., Mythos und Realität des Theaters. Schriften zu Theater und Film 1931-1970. Reinbek: Rowohlt, 1991, S.94.) Aber es zeigt die Richtung, in die die Arbeit des Schauspielers geht. ↩︎
  8. “The theatre is the place where we confront both the impossibility of knowing the project and the necessity of living it, of acting it out.“ PTDA, p.102 ↩︎
  9. “Und folglich ist das, was wir wiedergewinnen wollen, wenn wir ins Theater gehen, natürlich wir selbst, aber wir selbst nicht insofern wir mehr oder weniger sentimental oder mehr oder weniger stolz auf unsere Jugend oder unsere Schönheit sind, sondern insofern wir handeln und arbeiten und auf Schwierigkeiten stoßen und Menschen sind, die Regeln haben, das heißt Regeln für diese Handlungen“. Jean-Paul Sartre, „Episches und dramatisches Theater“ a.a.O., S. 96. Levy fasst das zusammen: „Theatre is a means for self-discovery, a place where we can‚ rediscover (…) ourselves as we act‘“ PTDA, p.103 ↩︎
  10. Tzachi Zamir, „Giving focus“ PTDA, pp. 123-134 ↩︎
  11. vgl. Wolfgang Engler/Frank M. Raddatz, „Entfremdung verboten! Die Fallstricke des Authenitizitätsdikurses und die Freiheit des Spiels.“ Lettre InternationalNo. 114 Herbst 2016, S. 52-74; oder: Bernd Stegemann, „Achtung, echte Menschen“, Süddeutsche Zeitung, 2.1.2017 und die Gegenposition: Christian Holtzhauer, „Die Regeln des Spiels“, Süddeutsche Zeitung, 19.1.2017 und Eva Behrendt, „Echte Tränen. Theaterkolumne“Merkur, 2.1.2017 ↩︎
  12. “generosity“ PTDA, p.129 ↩︎
  13. “Die Künstler allein (…) enthüllen das Geheimnis, das böse Gewissen von jedermann, den Satz, daß jeder Mensch ein einmaliges Wunder ist; sie wagen es, uns den Menschen zu zeigen, wie er bis in jede Muskelbewegung er selbst, er allein ist, noch mehr, daß er in dieser strengen Konsequenz seiner Einzigkeit schön und betrachtenswert ist, neu und unglaublich wie jedes Werk der Natur und durchaus nicht langweilig.“ Friedrich Nietzsche, „Schopenhauer als Erzieher, in: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV etc. Kritische Studienausgabe Bd. 1, hg. G. Colli u. M. Montinari. München: dtv/de Gruyter, 1988, S.337f, zit. engl. bei Zamir PTDA, p. 124 ↩︎
  14. “Nietzsche was right to aestheticize authenticity.“ PTDA, p.128 ↩︎
  15. Übers. G.P. „I can choose to be a minor character in another’s life story, for example, and this decision can become a treasured part of what makes some aspects of my own life story meaningful and unique to me.“ PTDA, p.127↩︎
  16. Zamir geht aus von einer Szene aus Charlie Chaplins Film Goldrausch, in der Chaplin seinen Schuh isst und dabei von einem anderen Schauspieler beobachtet wird. Zamir ist Dozent an der Hebräischen Universität Jerusalem, dürfte also Yael Ronens Arbeiten kennen und hat eine umfassende Studie vorgelegt, in der auch die außertheatralischen Formen von „performance“ untersucht werden. Tzachi Zamir, Acts. Theater, Philosophy and the performing self. Ann Arbor: University of Michigan Press, 2014. ↩︎
  17. Übers. G.P., orig.: “… the actor’s selflessness can enrich the aesthetics of self-creation“ PTDA, p.128
  18. Ein Beleg dafür, dass Tzachi Zamir Recht hat, ist die wunderbare Dankesrede der Schauspielerin Wiebke Puls bei der Verleihung des 3sat-Preises beim Berliner Theatertreffen 2018, in der sie sich bei ihren Mitspielerinnen und Mitspielern bedankt für die Aufmerksamkeit, die sie von ihnen erhalten hat. Die Gegenposition formuliert der Schauspieler Fabian Hinrichs in seiner Rede als Juror des Alfred-Kerr-Preises bei dem Theatertreffen Berlin 2018.

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