Kot auf Kritiker – Zur Attacke des Choreografen Marco Goecke auf die Tanzkritikerin Wiebke Hüster

Am 11.2.2023 hat Marco Goecke, der Ballettdirektor der Staatsoper Hannover, in der Pause der Premiere des Tanzabends „Glaube, Liebe, Hoffnung“ Wiebke Hüster, die Tanzkritikerin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, tätlich angegriffen. Im Verlaufe einer Auseinandersetzung um abwertenden Kritiken Wiebke Hüsters über Goeckes Choreographien, zog Goecke einen Beutel mit Hundekot seines Dackels Gustav aus der Tasche und schmierte den Inhalt Hüster in Gesicht. Die Staatsoper Hannover hat Goecke daraufhin suspendiert und ihm Hausverbot erteilt. Kurz darauf wurde er fristlos entlassen.

Marco Goeckes Aktion war eine Performance. Alle Merkmale treffen zu: vor Publikum, existenzielles Risiko des Künstlers, Grenzüberschreitung, Entfiktionalisierung der Kunst. „Sie hat mich auch jahrelang mit Scheiße beworfen“, sagt Marco Goecke. Es ist also nicht nur eine Aktion, die Gleiches mit Gleichem vergelten will, sondern auch die Umsetzung einer sprachlichen Metapher in körperliche Aktion. Und das, genau, ist Marco Goeckes berufliche Tätigkeit als Choreograph. Hier hat also jemand den Unterschied zwischen Kunst und Wirklichkeit vergessen. Und diesen Unterschied vergessen zu machen, ist eine der gängigen Strategien der gegenwärtigen Kunst. Es ist ein Fall von Realitätsverlust. Was in der Kunst ein Effekt ist, ist in der Wirklichkeit eine Straftat.

Tobi Müller hat in seinem Kommentar darauf hingewiesen, dass die Verschärfung des Klimas zwischen Theaterkritik und Theaterkunst oder die Verschärfung der traditionellen Abneigung der Theatermacher gegen die Kritiker auch aus den Existenzängsten beider Seiten kommt. Beide Seiten haben einen erhöhten Bedarf an öffentlicher Aufmerksamkeit, weil die Bedeutung und Beachtung ihrer Tätigkeiten in der Öffentlichkeit abnimmt. Invektiven erhöhen die Aufmerksamkeit. Beschimpfungen bringen mehr Klicks als Komplimente.

Karin Beiers mittlerweile häufig zitiertes Bonmot von der „Scheiße am Ärmel“ 1 ist dagegen nur eine verbale Entgleisung, mit der sie begründet, warum sie keine Kritiken liest. Sie beschreibt damit die Wirkung nicht nur negativer, sondern auch uninformierter Kritiken. Und da muss sich die Theaterkritik auch an die eigene Nase packen. Durch die prekäre finanzielle Stellung der Theaterkritik sinkt auch ihr durchschnittliches Niveau. Es gibt heute weder den Raum (eine verfügbare Zeichenanzahl in einem öffentlichen Medium) noch die Gründlichkeit der Beschreibung und Analyse, die Theaterkritiken von Rolf Michaelis oder Hellmuth Karasek hatten (um bei den Hamburger Beispielen zu bleiben). Wer heute Theaterkritiken schreiben will, kann nicht davon leben. Wer heute Theaterkritiken schreiben will, muss die Kunst des schnellen prägnanten, kurzen Schreibens beherrschen. Und damit wird man kaum ein ernstzunehmender Gesprächspartner für die Theatermacher.

Marco Goecke hat Karin Beiers beiläufigen Vulgarismus in die Tat umgesetzt, als Racheakt. Wiebke Hüsters unmittelbar vorausgegangene Kritik an Goeckes Den Haager Tanzabend „In the Dutch Mountains“ ist ein Beispiel für das gängige Stilmittel der Übertreibung: „Man wird beim Zuschauen abwechselnd irre und von Langeweile umgebracht. Dazwischen kommen ab und an zwei genialische, stimmige Minuten.  … Es ist eine Blamage und eine Frechheit, und beides muss man dem Choreographen umso mehr anlasten …“ (FAZ 11.2.2023)] Aber auch ein persönlicher Angriff. Bei persönlichen Angriffen auf Theatermacher in Kritiken („blutigen“ Verrissen) muss man mit Gegenreaktionen rechnen. Aber sie müssen verbal bleiben (Die Kommentarfunktion bei nachtkritik.de bietet da ja ein Forum). Dass Wiebke Hüster zwanzig Jahre lang versucht habe, Goecke publizistisch zu vernichten, trifft nicht zu. Zum Beispiel rühmte sie noch vor kurzem Goeckes „großartige Umsetzung von Marguerite Duras‘ Roman „Der Liebhaber“ und verband das mit der ausdrücklichen Werbung für den Theaterbesuch (FAZ 26.10.2022 und 01.03 2021). Und 2012 lobte sie ausführlich Goeckes Stuttgarter Choreografie zu „Dancer in the Dark“ (FAZ 1.12.2012)

Kot auf Kritiker:innen ist auch die Verschärfung des Prinzips Kartoffelbrei auf Kunst. Symbolische Kommunikation nimmt in der Öffentlichkeit einen immer größeren Raum ein. Wer etwas zu sagen hat, sagt es durch die Blume (oder durch Aktion). Demonstrationen werden Theateraufführungen immer ähnlicher (wie schon das Bundesverfassungsgericht 1984 in seiner Entscheidung zum „Anachronistischen Zug“ festgestellt hat). Analoge, auf Ähnlichkeit basierende, Kommunikation ist effektiver, wenn es um affektive Wirkungen geht, als verbale. Goecke hat also mit den Waffen zugeschlagen, die ihm zur Verfügung stehen. Nur hat er sich in der Wirkung verrechnet. Der körperliche Ausdruck seiner emotionalen Befindlichkeit kann nicht wie auf der Bühne mit der Empathie der Zuschauer rechnen. Im Gegenteil, der Ekel trifft ihn, das Mitleid die Kritikerin. Hat wirklich niemand die Szene im Foyer des Hannoveraner Theaters mitgefilmt?

Zusatz:

Marco Goecke hat drei Tage nach dem Vorfall nun ein Schreiben vorgelegt, das er als Entschuldigung versteht. „Ich möchte mich bei allen Beteiligten, an erster Stelle bei Frau Hüster, für meine absolut nicht gutzuheißende Aktion aufrichtig entschuldigen. Im Nachhinein wird mir klar bewusst, dass dies eine schändliche Handlung im Affekt und eine Überreaktion war.“

Der Sprachgebrauch des Übeltäters „ich entschuldige mich“ ist heute allgemein üblich, aber natürlich muss es es heißen, „ich bitte um Entschuldigung“. Die Schuld vergeben kann nur derjenige, dem Übles angetan wurde, nicht der Übeltäter. So wird die Redewendung „Entschuldigung …“ zur Rechtfertigung für Dreistigkeit. Man kennt das, wenn sich einer mit einem gemurmelten „Entschuldigung“ vordrängelt.

Außerdem schreibt er, dass es für alle Medien angebracht sei, „eine gewisse Form der destruktiven, verletzenden und den gesamten Kulturbetrieb schädigenden Berichterstattung zu überdenken“. Die Kulturkritik müsse sich fragen, wo sie „die Grenze zur Beleidigung, Verunglimpfung der Werke, zum Mobbing, zum Versuch negativer Meinungsmache und zur Geschäftsschädigung verletzt“. (SZ 14.02.23). Er rechtfertigt seine Attacke also auch wieder, zeigt kein Verständnis dafür, dass die Kunst nur im Meinungsstreit eine gesellschaftliche Bedeutung gewinnt.

Wenn man in Wiebke Hüsters kompetenter und ausgewogener Kritik von „In the Dutch Mountains“ „verletzende Berichterstattung“ finden will, kommt nur das Wort „Frechheit“ in Frage. Das ist eine moralische Wertung, die ausdrücklich auf die Person des Choreographen bezogen ist. Es ist keine Verbalinjurie, keine Beleidigung und moralische Wertungen sind in der Öffentlichkeit erlaubt, sogar nötig (Politiker wissen ein Lied davon zu singen). Moral ist auch Achtungskommunikation und die muss öffentlich sein. Es ist aber eine Frage der Selbstkontrolle der Kritikerin oder des Kritikers, ob man sich zu solchen Ausfällen gegen eine Person hinreißen lässt. Jedenfalls muss man (oder will man) mit Reaktionen rechnen. Allerdings nicht mit Hundekot.

Die deutlichste Abwertung Goeckes durch Hüster findet sich bezeichnenderweise in ihrem Blog Aufforderung zum Tanz von 2012: „Marco Goecke, dessen nichtssagende Nullitätentänze kein Mensch braucht.“  Dieses Zitat steht im Zusammenhang einer wertenden tour d’horizon durch die deutsche Ballettszene, die kein gutes Haar an den deutschen Ballettdramaturgien lässt, mit Ausnahme von Düsseldorf und München. Dass sich dieses Zitat in einem Internet-Blog findet, zeigt vielleicht eine der Ursachen der Verschärfung des Tons zwischen (manchen) Kritikern und (einigen) Theaterleuten. Das Internet ist eine „Affektmaschine“ (Andreas Reckwitz), die Hemmschwelle zur ungezügelten Emotionalität wird kleiner im Vergleich zu einer auf Papier gedruckten Zeitung. Kriterien für einen guten Blog sind schließlich Reaktionsgeschwindigkeit, Aktualität, Direktheit und Subjektivität. In der Eindämmung solcher kunstkritischer Tiefschläge ist nachtkritik.de mit ihrem Kommentarkodex vorbildlich.

  1. Hier der entscheidende Abschnitt des Interviews transkribiert: „Und da denke ich, wir begegnen uns auch nicht auf ein Niveau, dass mir das wirklich interessant ist. Und dann das im Verhältnis zu, was dann leider kleben bleibt. Also wirklich, wie schön Deutsch gesagt, wie Scheiße am Ärmel, denke ich, ne, mache ich nicht.“

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