Friendly Fire – Das Berliner Theatertreffen unter Beschuss Teil 2

Anmerkungen zu Interviews zum Berliner Theatertreffen

Im Juli 2022 gaben die Berliner Festspiele bekannt, dass die neue Leitung des Berliner Theatertreffens aus dem Vierer-Team Olena Apchel, Marta Hewelt, Carolin Hochleichter und Joanna Nuckowska bestehen wird. Intendant Matthias Pees erklärte dazu, dass durch dieses Team das Theatertreffen „stärker mit dem mittel- und osteuropäischen Raum vernetzt werden“ solle
Es folgte ein kleiner Wirbel in den öffentlichen Diskussion, viele Kommentare äußerten ihr Unverständnis oder Skepsis für diese Entscheidung, z.B. Christian Rakow. Daraufhin blickte man zurück auf ein Interview, das Matthias Lilienthal und Amelie Deuflhard schon im Mai auf der Web-Site des Theatertreffens veröffentlich hatten. Und schließlich gab Matthias Pees selbst zwei Interviews, eines auf Nachtkritik, das andere im „Spiegel“, in denen er seine Absichten erklärte.

Im Folgenden werden – wie in „Friendly Fire – Teil 1“ – einige Sätze aus diesen drei Interviews kommentiert, weil sie eine allgemeine Bedeutung haben. Dabei steht (ML) für Matthias Lilienthal, (AD) für Amelie Deuflhard, (Pees) für Matthias Pees.

Kritik am bestehenden Juryverfahren

„Das „Best of“ ist kein zukunftsweisendes Prinzip.“ (AD)

Die umsichgreifende Expansion von Ranking-Listen auch im Theaterbereich spricht dafür, dass „best of“ zumindest ein aktuelles Prinzip ist. Andreas Reckwitz erklärt, warum gerade auf Singularitätsmärkten (wie dem Theaterbetrieb) Rankings („quantitative Techniken zur Repräsentation von Besonderheiten“) nötig sind1 Im endlosen Aufmerksamkeitswettebwerb der einzigartigen Inszenierungen muss Sichtbarkeit erzeugt werden. Dazu dienen Rankings. Das Theatertreffen-Prinzip der Auswahl von zehn gleichberechtigten Inszenierungen ist da vorsichtiger. Die Jury hat sich immer gegen eine Rangfolge unter den 10 gewehrt. Das wahrt einigermaßen die Singularität, die Unvergleichbarkeit, des Kunstwerks. Jede Auswahl nach dem „best of“-Prinzip steht aber unter dem Zwang, ihren Auswahlbereich zu definieren und tatsächlich vollständig zu erfassen. Daher die Beschränkung auf das deutschsprachige Gebiet und die intensive Reisetätigkeit der Juroren.

„Mittlere und kleinere Theater werden in einem viel höheren Maße von der Jury besucht als es sich dann in der Endauswahl niederschlägt“. (Pees)

Dies ist ein Grundproblem des Theatertreffens. Aber es hat auch seinen Stellenwert im System. Man kann das deutsche, Schweizer und österreichische Stadt- und Staatstheatersystem als autopoietisches System verstehen, das in sich stabil ist und sich selbst regenerieren kann. Es ist auch resonanzfähig, kann auf seine Umwelt (andere gesellschaftliche Subsysteme, andere Theatersysteme) reagieren. Ein solches System braucht Elemente zur Selbstbeobachtung, selbstabbildende Subsysteme. Das Theatertreffen war immer ein solches Subsystem zur Selbstbeobachtung des deutschsprachigen Theatersystems. Der deutsche Bühnenverein ist ein anderes, mit anderen Leitunterscheidungen. Die spezifische Differenz des Subsystems Theatertreffen ist „ästhetisch bemerkenswert/ nicht bemerkenswert“. Die Theater als Subsysteme des großen Theatersystems interagieren vielfältig miteinander. Schauspieler wechseln, Dramaturgen diskutieren, Intendanten fahren Karussell, Autoren bekommen Preise usw. Aber wie nimmt das Gesamtsystem sich selbst wahr? Ohne Selbstbeobachtung ist keine Nachjustierung der Interaktionen, keine Veränderung von Strukturen möglich.

Das Theatersystem wird aber auch finanziell gesteuert. Häuser in großen Städten haben größere Etats als in kleinen Städten. So entsteht auch ein Markt für Schauspieler, Regisseure, Intendanten, Bühnenbildner, Produktionsleiter usw. Es ist daher nicht überraschend, dass der ästhetische Singularitätenmarkt mit dem finanziellen Markt korreliert. Die besten Regisseure gegen dort hin, wo sie am meisten verdienen oder zumindest die besten Arbeitsbedingungen haben. Diese Korrelation ist nie perfekt. Das Theatertreffen verdankt seine Entstehung der Tatsache, dass diese Korrelation von Kunst und Geld nach 1945 sehr undeutlich war. Das ästhetische Zentrum der Theaterkultur in der Bundesrepublik wanderte zwischen 1945 und 1989 von Darmstadt (Sellner, Hering) nach Bremen (Hübner, Zadek) nach Bochum (Zadek, Peymann) nach Berlin (Stein, Grüber). Da brauchte man ein künstliches Zentrum zum Abgleich der Wahrnehmungen. Nach 1989, durch die Einbeziehung der ehemaligen DDR und der Entwicklung Berlins zur tatsächlichen Hauptstadt, gab es ein natürliches Zentrum, die Korrelation von Kunst und Geld wurde perfektioniert. Aber dennoch braucht das System ein Element zur Selbstbeobachtung als ganzes System. Ohne Provinz keine Hauptstadt. Die vielfältigen Interaktionen, die Aufstiegsmöglichkeiten und internen Differenzen der Subsysteme machen die Stabilität des Gesamtsystems aus. Die permanente Selbstbeobachtung ist notwendig zur Durchlässigkeit des Gesamtsystems. Die Bedeutung des Theatertreffens für die kleinen Theaterstädte liegt nicht nur in den Einladungen (die selten sind), sondern in der Permanenz der Beobachtung.

Kritik der Theaterkritik

„Theaterkritiker:innen sind genauso wenig neutral oder objektiv wie wir.“ (AD)
„Als Dramaturg verstehe ich mich auch noch immer als eine Art Kritiker.“ (Pees)

Natürlich urteilen Theaterkritiker nicht objektiv. Christine Wahl formuliert das Credo der Theaterkritike:rinnen: „Es gibt aber eine Überzeugung, die uns alle verbindet: Das ewig Plurale zieht uns hinan.“  2. Ästhetische Urteile sind nie objektiv. Ein ästhetisches Urteil sinnt jedem Zustimmung nur an3, d.h. es muss argumentieren, um Überzeugungskraft zu gewinnen. Diese subjektive Allgemeinheit des Kritikers oder der Kritikerin ist aber eine andere als die des Dramaturgen. Ein Dramaturg mag intern ein genauso scharfer Kritiker einer Inszenierung sein wie ein Zeitungsschreiber. Aber nach außen, gegenüber den Zuschauern und der Öffentlichkeit, muss er vorsichtig sein. Er hat ein Interesse an einem positiven Urteil. Seine Vertragsverlängerung hängt auch davon ab, wie weit es ihm oder ihr gelingt, zur Zuschauergewinnung, zur positiven Reaktion in der Öffentlichkeit oder zum kreativen Klima im Haus beizutragen.

Wenn mehrere Medien eine Inszenierung beurteilen, wird die Subjektivität der Urteile ja deutlich. Dass es Kritiker gab, die die Subjektivität hinter kategorischen Lobeshymnen und Verrissen versteckten, im Ton des autoritativen ex-cathedra-Urteils schrieben, lag ja am Selbstbehauptungswillen der Zeitungsschreiber in einer differenzierten Medienlandschaft. Aber die Großkritiker sind  verschwunden, auch weil die Medienlandschaft ausgedünnt wurde und sich fast keine Zeitung mehr einen hauptamtlichen Theaterkritiker leistet. Im Gegenteil, seit den 70er Jahren ist die Betonung der Subjektivität des Theatererlebnisses zum Qualitätsmerkmal einer Theaterkritik geworden (auch wenn das „ich“ in den Formulierungen weiterhin verpönt ist). Wie weit es dem Kritiker gelingt, sowohl das subjektive Erlebnis sprachlich zu vermitteln als auch die eigene emotionale Reaktion argumentativ abzusichern, ist entscheidend für die Wirkung einer Theaterkritik auf den Leser. Till Briegleb hat dieses Verständnis von Kritik auf den Punkt gebracht: „Ein Kritiker darf hassen, gerührt sein, belehren, resignieren, persönlich werden oder jubeln, solange er seine Gefühle in eine verständliche Relation zu dem Gegenstand bringt.“ 4

„Anschreiben gegen den Verfall“. (ML)
„Die Angst der Theaterkritikerinnen und -kritiker vor dem Bedeutungsverlust.“ (Pees)

Ich kann keine Angst von Kritikerinnen oder Kritikern vor dem Verlust ihrer eigenen Bedeutung erkennen. Wer heute Theaterkritiken schreibt, weiß um die marginale Bedeutung seiner Tätigkeit. Wenn es eine Angst der Kritikerinnen und Kritiker gibt, dann die vor dem Bedeutungsverlust des Theaters. Und die gibt es unter den Theaterintendanten, Schauspielern und Kuratoren genauso.

„Ob es überhaupt noch ausreichend Kritiker:innen gibt, wer dazu noch Lust hat – oder es sich überhaupt leisten kann.“ (Pees)

Diese Frage ist berechtigt. Es kann sich (fast) niemand leisten, von Theaterkritik zu leben. Die Honorare sind erbärmlich oder nicht vorhanden. Das Gezeter über die mangelhafte Qualifikation von Theaterkritikern ist uralt:

„Ja, die Theaterkritik ist nicht selten die letzte Zuflucht eines verkommen Talentes, eines geistig und sittlich zerfahrenen Menschen, der sich alle andern literarischen Thätigkeiten, zu denen die Erwerbung und Bewältigung eines reichen Stoffes gehört, verschlossen sieht.“

Das schrieb H.Th. Rötscher, selbst Theaterkritiker, schon 18645. Michael Billington, der Theaterkritiker des britischen „Guardian“, lieferte eine freundlichere Selbstbeschreibung des Typus des Theaterkritikers:

„Critics are born, not made: possibly because of some temperamental deficiency or innate shyness, many of us discover at an early age that we prefer to be among the watchers than the watched … We find our emotional energies released by appraising the work of others.“6

Aber die Qualifikation der heutigen Kritiker ist hoch. Die meisten haben ein theaterwissenschaftliches Studium hinter sich. Nur, lange bleibt niemand in diesem Geschäft, es sei denn, man hat ausreichende andere Einkünfte. Manche werden Dramaturgen, einige wenige ergattern Redakteursposten im vermischten Feuilleton, einige werden Dozenten an Hochschulen. Theaterkritik ist zur Nebentätigkeit oder zur Übergangsbeschäftigung geworden 7

„Ich bezweifle, dass der Journalismus wirklich noch so unabhängig ist, wie er vielleicht oder angeblich einmal war.“ (Pees)
„Eine Sicht auf Journalismus, die nicht mehr zeitgemäß ist.“ (AD)

Die frugale Honorierung von Theaterkritik fördert natürlich die Anfälligkeit für subtile Korumpierungsversuche der Theater. Till Brieglebs eiserne Regel “Ein aufrichtiger Kritiker fraternisiert nicht mit dem Theater.“8 wird aufgeweicht. Dies betrifft vor allem die lokale Kritik. Sofern die Zeitungsredaktionen noch Interesse an Theaterberichterstattung haben, wollen sie Vorberichte, Interviews, Portraits. Die erfordern einen engeren Kontakt zu dem Theater. Die lokale Theaterkritik tendiert sowieso zu einer milden Beurteilung der Produktionen des Theaters ihrer Stadt9.

„In Zeiten von Social Media, kann man über ganz viele Kanäle selbst kommunizieren. Dadurch entsteht die Möglichkeit der Kritik der Kritik.“ (AD)

Nachtkritik.de ist das Medium, dem es am besten gelungen ist, diese Möglichkeiten der interaktiven Kommunikation im Internet für die Theaterkritik zu nutzen.10 Aber die sozialen Internetmedien zersplittern durch die im Hintergrund wirkenden Algorithmen der Aufmerksamkeitslenkung die Öffentlichkeit. Öffentlichkeit ist ein Wettbewerb der Meinungen. Die Medien waren schon immer segmentiert, Zeitungen hatten eine politische Grundrichtung. Dennoch waren sie öffentlich zugänglich. Wer in der „Welt“ eine konservative Kritik einer Theateraufführung las, konnte sich in seiner Auffassung durch die Lektüre einer liberaleren Kritik in der „Frankfurter Rundschau“ bestätigen lassen. Damals, lange ist es her.  Was die Segmentierung der Öffentlichkeit durch Aufmerksamkeitslenkung und Wahlarchitektur im Internet bewirkt, kann man an der politischen Entwicklung der amerikanischen Demokratie sehen. Aus der Reduktion der Bedeutung von Printmedien auf das Absterben der Theaterkritik zu schließen, ist aber kurzschlüssig.

Christine Wahl sieht die fatale Tendenz, die Aufgabe der Theaterkritik als Einladung zum „Mitmachen in einer Wertegemeinschaft“ zu verstehen11. Deuflhard und Lilienthal scheinen sich eher am Modell der Marktwirtschaft zu orientieren. Jeder Produzent wirbt für sein Produkt. Die Theater können sich selbst kritisieren, schließlich ist jeder Dramaturg auch ein Kritiker, wie Matthias Pees meint. Schließlich hat jedes Gutachten der auf Theaterberatung spezialisierten Unternehmensberatung Actori12 für irgendein Theater ergeben, dass die Marketingabteilung stärker besetzt werden muss, trotz oder gerade wegen aller Sparbemühungen der Theater. Also simulieren die Marketingabteilungen der Theater Journalismus im eigenen Interesse.

Eine Funktion von Theaterkritik (neben der Orientierung über mögliche Vorstellungsbesuch, der Berichterstattung) ist es aber, das Theater in den Bereich der öffentlichen Debatte zu ziehen. Eine Theatervorstellung ist ein Ereignis in der gleichzeitigen körperlichen Gegenwart von vielen. Dieses Ereignis debattierbar zu machen, ist auch eine Funktion von Kritik. Dazu gehört die Wertung, die ein Für-und-Wider ermöglicht. Diese Debatte ist nicht nur die große öffentliche, sondern auch die private zwischen Zuschauern derselben Inszenierung und zwischen tatsächlichen und  potentiellen Zuschauern. Eine Theaterkritik ist nicht nur Teil einer öffentlichen Debatte, sondern kann auch Gegenstand einer privaten Debatte sein. Solche Mikrodiskussionen bilden das Wurzelgeflecht einer pluralistischen Demokratie. Theaterkritik ist nicht Marketing. Eine Theaterinszenierung ist mehr als nur eine Ware, die verkauft werden muss. Theaterkritik ist Debattenkultur. Und die ästhetische Debatte über die Wertung gemeinsam erlebter Darstellung menschlicher Verhältnisse ist die vergnügliche Vorübung für die Debatten über die politische Regelung gesellschaftlicher Verhältnisse.

Internationalisierung

„Beispielgebend wirken dafür, wie wir auf diesem Kontinent in Zukunft überhaupt mit unseren Nachbarn zusammenzuleben und zu kommunizieren gedenken.“ (Pees)

Das ist der beste Vorsatz an dem ganzen Unternehmen der Umstrukturierung des Berliner Theatertreffens. Nur, dafür, wie er  verwirklicht werden soll, scheint es noch kein schlüssiges Konzept zu geben.

 

  1. Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin: Suhrkamp, 2017. S.175. Siehe auch meinen Beitrag „Theater und Theaterkritik in der Gesellschaft der Singularitaeten“
  2. Christine Wahl: Zum Stand der Theaterkritik. nachtkritik.de 4. Mai 2022
  3. „Das Geschmacksurteil selber postuliert nicht jedermanns Einstimmung {…}; es sinnet nur jedermann diese Einstimmung an.“ Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. Analytik des Schönen, §8
  4. Till Briegleb, „Kritiker und Theater. 10 Thesen“ in: Dramaturgie. Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft. Resümée des Symposions ‚Radikal Sozial‘. Berlin 2006
  5. Heinrich Theodor Röscher, Die Kunst der dramatischen Darstellung in ihrem organischen Zusammenhang wissenschaftlich entwickelt. Erster Band. Leipzig: Otto Wiegand, 2. Auflage 1864, S.50
  6. Michael Billington, One Night Stands. A Critic`s View of modern British theatre. London: Nick Hern, 1993, p. IXf
  7. Ich habe meine Berufung in die Jury des Theatertreffens 2000 immer als Beginn des Niedergangs des Berufs des Theaterkritikers verstanden. Ich war wohl der erste in dieser Funktion, der seinen Lebensunterhalt nicht als Journalist verdiente.
  8. Regel Nr.1, Till Briegleb a.a.O.
  9. Zu den Unterschieden zwischen regionaler und überregionaler Theaterkritik vgl: Vasco Bönisch, „Die Aufgaben der Theaterkritik“, in: V.B., Krise der Kritik? Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten. Berlin: Theater der Zeit, 2008 S. 103-150
  10. siehe Christiane Wahls Essay „Zum Zustand der Theaterkritik“ nachtkritik.de 4.Mai 2022
  11. in: „Zum Stand der Theaterkritik“  nachtkritik.de 4.5.2022 
  12. https://www.actori.de/ueber-uns/news/news-detail/actori-gutachten-zeigt-zukunftsszenarien-auf

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