Rezension von: Tom Stern (ed.), The Philosophy of Theatre, Drama and Acting. London/New York: Rowman & Littlefield, 2017. 209 pages
Teil 5 von 5: Philosophie und Theaterkritik
In keinem der Aufsätze des Bandes wird die Theaterkritik, außer in ein paar missgünstigen Seitenhieben, zum Gegenstand der Untersuchung. Aber zwei der zehn Essays lassen sich dennoch als Abhandlungen über Theaterkritik (gegen den Strich) lesen.
Kristin Gjesdal1 von der Temple University in Philadelphia untersucht die in der Dramentheorie wenig beachteten „Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur“, die August Wilhelm Schlegel 1808 in Wien hielt. Diese Vorlesungen sind in der Philosophie völlig unbeachtet geblieben, weil sie vor allem als eine nacherzählende Darstellung der europäischen Theaterliteratur verstanden wurden. Schlegel aber wollte „die Theorie der dramatischen Kunst mit ihrer Geschichte zu verbinden…“ 2 Gjesdal präpariert nun ihren theoretischen Kern heraus. Und dank der Mehrdeutigkeit der Begriffe „critic“ und „modern“ lässt sich das auch als eine Liste von Anforderungen an die heutige Theaterkritik lesen3.
Gjesdal weist daraufhin, dass Schlegel von einem „Kritiker“ keine festen Kriterien verlangt, sondern eine bestimmte Haltung. Die „innere Vortrefflichkeit“ eines Kunstwerkes sei zu beurteilen. Dazu fordert Schlegel die „Vielseitigkeit oder Universalität des echten Kritikers“4 und die Unabhängigkeit von „persönlicher Vorliebe“5. Gjesdal betont, dass diese Unparteilichkeit des Kritikers nicht vorab behauptet werden kann, sondern durch die Begegnung mit verschiedenen Standpunkten erst erworben wird. Diese Art von romantischer (d.h. moderner) Kritik sei ein Erziehungsprozess, durch den der Leser sowohl sich selbst als auch das Kunstwerk besser verstehe. Der Kritiker müsse das Kunstwerk als Individualität würdigen und zugleich seine allgemeingültige Dimension herausarbeiten6. Das Vorbild für dieses scheinbar paradoxe Verfahren gibt wieder Shakespeare ab. Seine Charaktere hätten eine „konkrete Universalität“7, eine Verbindung von Individualität und Allgemeingültigkeit, die das Vorbild für den Kritiker sein solle8. Das Theater der Gegenwart (Gjesdal meint Schlegels Gegenwart ebenso wie die heutige) solle Kunstformen schaffen, durch die das moderne Publikum sich selbst verstehen lerne9. Der Kritiker solle nicht einer der Lebensweisen, die ein Drama präsentiere, den Vorzug geben, sondern eine Art Synkretismus betreiben, der sich aus der Zusammenschau der Vielfalt der Lebensweisen ergebe10.
Diese Beschreibung der Aufgaben des Kritikers, die bei Schlegel eigentlich den literarischen Dramenkritiker meint, trifft aber ziemlich gut das heutige Selbstverständnis der meisten Theaterkritiker. Es trifft aber nicht das Bild des Kritikers, das in den Köpfen vieler Kunsttheoretiker immer noch vorherrscht. Oft ist der Kritiker ein Feindbild, ein Popanz, den man aufbaut, um eine Gegenposition zu formulieren11. Ihm wird unterstellt, er beanspruche Objektivität für seine Urteile. Schon Alfred Döblins Forderung „Ein Kerl muss eine Meinung haben“12 betont ja die Subjektivität des Urteils des Theaterkritikers. Und fast alle Theaterkritiker seitdem sehen es ähnlich13. Die Unabhängigkeit von „persönlicher Vorliebe“, die Schlegel fordert, bezieht sich auf vorgefasste Urteile, die feststehen vor der Begegnung mit dem Kunstwerk (der Aufführung) und auf die vorgefasste emotionale Bindung an oder wirtschaftliche Abhängigkeit von den Kunstproduzenten. Das Kriterium der „inneren Vortrefflichkeit“, das Schlegel fordert, bedeutet die Ablehnung aller allgemeingültigen Maßstäbe. Vom Kritiker ist die Flexibilität gefordert, sich auf die Eigenheiten des jeweiligen Kunstwerkes einzulassen. Das war schon 1808 klar.
Paul Woodruff14 von der University of Texas Austin untersucht die für den professionellen Kritiker lebenswichtige Frage, ob er seine Aufmerksamkeit auf die technische Seite des Theaters, die Schauspieltechnik, Bühnentechnik usw. richten soll oder nicht. Woodruff definiert Theater zweifach: als Kunst, menschliches Handeln anschauenswert zu machen (Darsteller), und als die Kunst, menschliches Handeln anschauenswert zu finden (Zuschauer). Für ihn gehören zum Theater viele verschiedene Arten von menschlichen Handlungen: Konzerte, Tanz, Improvisation, Aufführungen von Dramen, Rituale, religiöse Zeremonien, Unterricht und Zuschauersport. Fiktion und Mimesis sind für ihn unterschiedliche Begriffe, die beide nicht notwendigerweise zum Theater gehören. Die Aufmerksamkeit für die Technik kann allerdings mimetische Effekte des Theaters stören. Nur in der Pädagogik sei die Konzentration auf das Wie der Vorstellung wünschenswert. Das Theaterpublikum muss mit seiner Phantasie mitspielen. Das gilt aber nicht für den Kritiker. Woodruff kommt zu dem traurigen Schluss: „Die Aufgabe des Kritikers ist nicht nur zuzuschauen, sonder auch die Technik der Herstellung der Wirkung zu beobachten, auch um den Preis, weniger Vergnügen an der Theatererfahrung zu haben.“15. Woodruffs Beispiele stammen, entsprechend seinem weiten Theaterbegriff, sowohl aus Konzerten klassischer Musik16 als auch aus Shakespeares „Sommernachtstraum“17. Zum Schluss kommt er zu einem etwas milderen Urteil über das Vergnügen des Kritikers bei der Aufführung oder beim Konzert: Je besser man die technische Seite der jeweiligen Vorführung kenne, desto weniger brauche man auf sie zu achten. Und dann entwickelt er ein handfestes Kriterium für künstlerische Größe im Theater: Kann eine Aufführung die Aufmerksamkeit des gebildeten, erfahrenen Zuschauers von der technischen Seite ablenken?18 Wenn eine Aufführung auch im abgebrühten Kritiker eine zweite Naivität der emotionalen Reaktion hervorruft, dann ist sie groß.
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Dass alle Autoren dieses Bandes in irgendeiner Weise die Schule der analytischen Philosophie im Hintergrund haben, führt zu einer Genauigkeit in der Explikation von Begriffen, die in Deutschland vielleicht pedantisch erscheint. Aber sie ist fast immer rückgebunden an tatsächlichen Sprachgebrauch und künstlerische Praxis. Das führt zu vielfältigen, erhellenden Einsichten. Nur wenige Aufsätze verbleiben im reinen Theoriedschungel. Gerade die konkrete Rückbindung an künstlerische Praxis in einigen Aufsätzen (Levy, Zamir, Hamilton, Saltz) macht auffällig, wie schmal die empirische Basis dieser Arbeiten ist. Shakespeare ist immer das Paradebeispiel (in den historisch arbeitenden Essays ist es sogar die deutsche Shakespeare-Rezeption, die den Ausgangspunkt für die Überlegungen bildet). Die vielfältige experimentelle Praxis amerikanischer und britischer Theatergruppen wird allenfalls abstrakt zur Kenntnis genommen. Carol Churchills „Love and Information“ von 2012 ist das avancierteste Beispiel19. Die klassische deutsche Philosophie des 19. Jahrhunderts wird in drei Beiträgen mit ehrfurchterregender Textkenntnis und Genauigkeit auf ihre Aussagen über das Theater abgeklopft. Die gegenwärtige deutsche Theaterwissenschaft aber wird kaum erwähnt (ebensowenig die französische Philosophie20). Ganz zu schweigen von der aktuellen deutschen Theaterpraxis. Nicht nur der räumliche Abstand der Autoren aus USA, Israel, Australien und Großbritannien dürfte die Ursache dafür sein, sondern auch die sprachliche Hürde. Vorläufig ist die Internationalisierung des Schauspieltheaters eine Einbahnstraße und solange es unterschiedliche Sprachen gibt, wird sie unvollkommen bleiben.
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- Kristin Gjesdal, „The theatre of thought: A.W. Schlegel on modern drama and romantic criticism“. PTDA, pp.43-63 ↩︎
- August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Hg. Edgar Lohner. Erster Teil. Erste Vorlesung. Stuttgart: Kohlhammer, 1966, S.17. Gjesdal: „his bottom up (rather than top-down) approach, to combine a historical and a systematic approach in aesthetics.“ PTDA, p. 44 ↩︎
- Schlegel nennt die „Kritik“ die Mittlerin zwischen Theorie und Geschichte. Im Englischen wird das mit „criticism“ übersetzt, und das ist eigentlich nach deutschen Begriffen die Literaturwissenschaft. Aber der Vertreter dieser Zunft wird von Schlegel mal „Kenner“, mal „Kritiker“ genannt. Im Englischen ist das immer „critic“. Schlegel benutzt zudem die Begriffe „romantisch“ und „modern“ als Synonyme. Entsprechend setzt Gjesdal hinter das Wort „modern“ in Klammern dahinter „romantisch“ z.B. PTDA, p. 44, p.56. ↩︎
- August Wilhelm Schlegel, ibid. S. 19 ↩︎
- „Aber ein echter Kenner kann man nicht sein ohne Universalität des Geistes, d.h. ohne die Biegsamkeit, welche uns in den Stand setzt, mit Verleugnung persönlicher Vorliebe und blinder Gewöhnung, uns in die Eigenheiten anderer Völker und Zeitalter zu versetzen, sie gleichsam aus ihrem Mittelpunkte heraus zu fühlen…“ August Wilhelm Schlegel, ibid., S. 18 zit engl. bei Gjesdal „No man can be a true critic or connoisseur without universality of mind (Universalität des Geistes), without that flexibility which enables him, by renouncing all personal predilections and blind habits, to adapt himself to the peculiarities of other ages and nations – to feel them, as it were, from their proper central point.“ PTDA, p.51 ↩︎
- “The romantic critic should treat the work as an individual and, all the same, explicate its universal dimension, its contribution to our understanding of what human life and expression is and can be.“ PTDA, p.54 ↩︎
- “concrete universality“ PTDA, p.56 ↩︎
- „Shakespeares ausführlich gezeichnete Personen haben unstreitig viele ganz individuelle Bestimmungen, aber zugleich eine nicht bloß für sie gültige Bedeutung: sie geben meistens eine ergründende Theorie ihrer hervorstechenden Eigenschaft an die Hand.“ August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Hg. Edgar Lohner. Zweiter Teil, 26. Vorlesung. Stuttgart: Kohlhammer, 1966, S. 131. ↩︎
- “Schlegel’s hopes for contemporary theatre do not involve the re-awakening of any particular content, but an ability to present a diversity of viewpoints and, by so doing, create artworks through which modern (romantic) audiences can understand themselves.“ PTDA, p. 56 ↩︎
- “In approaching drama, as it presents us with a variety of life choices and modes of action and self-understanding, the critic, according to Schlegel, should not ask which of these life options are preferable, but should engage the kind of syncretism that emerges in their interaction.“ PTDA, p.57 ↩︎
- So leider auch Juliane Rebentisch: „Traditionell wurde der Kritiker als jemand vorgestellt, der seine Autorität durch eine Distanz zum Objekt etabliert, die seine Neutralität garantieren soll – so, als ob die Grenzen dieses Selbst und jenes Objekts stabil wären. Der so verstandene ideale Kritiker ist nicht nur objektiv, also von Vorurteilen möglichst frei, er zeigt auch möglichst wenig affektive Reaktionen vor allem keine heftigen wie beispielsweise Scham, Erregung, Angst oder Ekel. Neutralität ist nach dieser Vorstellung eine Voraussetzung für die kritische Urteilspraxis.“ Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung. Hamburg: Junius, 2013, S. 83
- Alfred Döblin, Ein Kerl muss eine Meinung haben. Berichte und Kritiken 1921-1924. München: dtv, 1981
- Zwei Beispiele: „Der Kritiker ist nur der Sekretär seiner Eindrücke, seiner Empfindungen, seiner Erfahrungen. Hätte der Kritiker Maßstäbe, so wäre alles einfacher.“ Georg Hensel, „Der Hordenkomiker, Alfred Kerr, Karl Valentin und Kollegen. Der Maßstab des Theaterkritikers oder Die Elle des tapferen Schneiderleins“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Mai 1990. Und: „Es gibt keine allgemein gültigen Kriterien, aber man muss trotzdem Urteile fällen. Denn nur am Argument entzünden sich unterschiedliche Betrachtungsweisen, die wiederum die Kreativität des Ganzen befördern. (…) Ein Kritiker darf hassen, gerührt sein, belehren, resignieren, persönlich werden oder jubeln, solange er seine Gefühle in eine verständliche Relation zu dem Gegenstand bringt.“ Till Briegleb, „Kritiker und Theater. 10 Thesen“, in: Dramaturgie, Heft 1/2006, S. 12-13 ↩︎
- Paul Woodruff, „Attention to technique in theatre“, PTDA, pp. 109-121 ↩︎
- “The critic’s job is not only to watch, but also to observe technique. Even at the cost of losing some joy in the experience.“ PTDA, p. 114 ↩︎
- Saint-Saëns, Cellokonzert op. 33; Beethoven, Klaviersonate op. 101 ↩︎
- Theseus’ und Hippolytas Kommentare als Zuschauer bei der Handwerkeraufführung ↩︎
- “Perhaps that is the best test for greatness in theatre: can a performance steal the attention of educated watchers from technique?“ PTDA, p. 120 ↩︎
- vgl. Hamilton PTDA, p. 143
- Mit Ausnahme einer Verbeugung vor Derrida (PTDA p. 31) und einer vor Rancière (PTDA p.148)↩︎