Gibt es eine Philosophie des Theaters? Teil 4

Rezension von: Tom Stern (ed.), The Philosophy of Theatre, Drama and Acting. London/New York: Rowman & Littlefield, 2017. 209 pages

Tom Stern PTDA Titelbild

Teil 4 von 5: Theater als Kunst

Die Autonomie des Theaters als eigene Kunst ist in allen Beiträgen des Sammelbandes unumstritten. Auch James R. Hamilton geht von ihr aus1. Aber er untersucht das Verhältnis von beobachtetem und partizipativem Theater. Zunächst beschäftigt er sich mit der genauen Analyse der geistigen Tätigkeiten, die ein Zuschauer im „beobachteten“ Theater ausführt2. Dabei spielen die Gliederung von Ereignissen („event segmentation“) und die ständige Anpassung von Erwartungen im zeitlichen Ablauf der Vorstellung („belief-revision in time“) eine wesentliche Rolle. Hamilton sieht keinen entscheidenden begrifflichen Unterschied zwischen Performance („performance“) und Schauspiel („acting“)3. Dies gilt sowohl für narrativ strukturierte Aufführungen wie für nicht-narrative. Hamilton liefert also mit Rückgriff auf die empirische Zuschauerforschung den differenzierten begrifflichen Unterbau zu Jacques Rancières Behauptung: „Le spectateur aussi agit.“4.

Hamilton setzt sich ausführlich auseinander mit den Theorien des partizipatorischen Theaters. Es gibt das moralische Problem: Teilnahme bedeutet Kooperation. Kann man von Kooperation sprechen, wenn die Zuschauer und die Darsteller kein gemeinsames Ziel verfolgen? Ist Kooperation möglich ohne Zustimmung der mitwirkenden Zuschauer zu einem gemeinsamen Ziel, oder wenn sie dieses Ziel gar nicht kennen? Viele Projekte des „partizipatorischen Theaters“ beanspruchen gegen diese sonst allgemein akzeptierten moralischen Anforderungen verstoßen zu dürfen.

Außerdem untersucht Hamilton den Begriff der Interaktivität und kommt zu dem Ergebnis, dass er skalierbar sein müsse. „All theatre is interactive“. 5 Das beobachtete Theater und das partizipatorische Theater unterscheiden sich nur im Grade ihrer Interaktivität. Es geht nur um die Frage, wie hoch das Niveau der Interaktivität sein muss, um ein Theaterprojekt sinnvoll partizipatorisch zu nennen. Eine Rechtfertigung dieser Art von Theater ist oft, es biete Aufmerksamkeitstraining („attention-training exercises“)6. Die Frage ist nur, ob dieses Training auch Auswirkungen auf die Zuschauer/Teilnehmer außerhalb des Theaters hat. Hamilton greift dabei auf Untersuchungen über die Wirkung von Videospielen auf die Aufmerksamkeitsstruktur der Spieler zurück. Er kommt zu dem Ergebnis, interaktives Aufmerksamkeitstraining sei tatsächlich übertragbar auf andere Lebenssituationen. Die geringe Chance, dass im Training erworbene Fähigkeiten in andere Lebensbereich übertragen werden, wird durch Interaktivität erhöht. Dies ist aber nicht abhängig vom Grad der Interaktivität. Auch bei einem niedrigen Niveau von Interaktivität wie beim beobachteten Theater ist die Übertragung der Aufmerksamkeitsstruktur auf andere Bereiche eine empirisch belegte Wirkung. Der so oft behauptete kategoriale Unterschied zwischen passiven Zuschauern und aktivierten Teilnehmern einer Performance in der „Feedback-Schleife“ wird verwischt zu einem graduellen, bei dem der höhere Grad von Interaktivität keineswegs eine Voraussetzung für bessere Wirkung ist7.

So deutlich Hamilton Rancières auch in Deutschland viel beachtete Rehabilitierung der Aktivität des Zuschauers untermauert, so geht er doch nicht auf die kritische Diskussion der Auffassung Rancières in der deutschen Theatertheorie ein. Aufmerksamkeitstraining ist ein bescheidenes Ziel im Vergleich zur „Wiederverzauberung der Welt“, die Fischer-Lichte sich von der Ästhetik des Performativen verspricht8. Juliane Rebentisch z.B. kritisiert Rancière dafür, dass er den Doppelcharakter der Partizipation an Kunst nicht berücksichtige. Sie sei kein aktives Lernen. In den performativen Arbeiten der Gegenwartskunst werde „Partizipation durch künstlerische Intervention reflexiv thematisch.“ Das Zuschauen werde als eine „Form der Partizipation neben anderen ins Bewusstsein“ gehoben. 9. Diese hehren Ziele der performativen Theaterästhetik entziehen sich aber, anders als Hamiltons Aufmerksamkeitstraining, der empirischen Überprüfung. Und das, meint die deutsche Kunsttheorie, sei auch gut so: „Ob solche Reflexionen tatsächlich zu einer Bewusstseinsänderung führen, die in praktische Aktion übergeht, ist dann jedoch eine Frage, die nicht von der Kunst selbst entschieden wird.“10

Das Theater ist eine Kunst unter und mit anderen Künsten. Naheliegend ist es, das Verhältnis zwischen Theater und Film zu untersuchen. Der Film ist seit seinem Entstehen sowohl Konkurrent als auch Vorbild, Geschichtenlieferant oder integrierbares Material für das Theater. David Z. Saltz11 sieht den Unterschied vor allem auf der Ebene des Wirklichkeitsbezugs („on a representational level“ p.168). Für ihn ist das Filmbild eine visuell „volle“ Darstellung einer fiktiven Welt.12 „Voll“ heißt hier, alles was im Filmbild sichtbar ist, gehört zur fiktiven Welt. Auch die Küchenschabe, die hinter dem Hauptdarsteller von allen in der fiktiven Welt unbemerkt die Wand hoch kriecht. Sie wird nicht als Fehler oder Zufall verstanden. Das gilt nicht für das Theater. Man glaubt in der Regel nicht, dass die Theatermotten, die die Scheinwerfer umflirren, zu Hamlets dänischer Königsburg gehören.

Außerdem unterscheidet Saltz hineinwirkende Fiktion („infiction“) und herauswirkende Fiktion („outfiction“). Meist wird die Tätigkeit des Zuschauers so verstanden, dass er aus den real stattfindenden Bühnenvorgängen eine fiktionale Erzählung herausliest. Aber auch der umgekehrte Vorgang findet statt. Der Zuschauer liest durch seine Kenntnis der fiktionalen Erzählung in die real stattfindenden Bühnenvorgänge eine bestimmte Bedeutung hinein. Dies ist aber nur im Theater so. Im Film decken sich die beiden Richtungen der Bedeutungskonstitution beim Zuschauer. Der Filmzuschauer muss nicht erst durch seine Vorkenntnis der fiktionalen Geschichte die Bedeutung bestimmter visueller Vorgänge entschlüsseln, weil der Film visuell „voll“ ist. Saltz erklärt die Rolle der „einwirkenden Fiktion“ mit dem Begriff der konstitutiven Regel („constitutive rule)13. Solche Regeln sind nicht sichtbar, aber ohne sie würde die sichtbare Aktivität, die sie regeln, gar nicht existieren. Es sind also erfundene Spielregeln. Solche Regeln spielen im Theater eine entscheidende Rolle. Jede Handlung kann für eine andere stehen. Der Tenor singt eine Arie, dass er seinen Gegner mit einem Messer ersticht, dabei hat er eine Pistole in der Hand. Man muss diese Regeln kennen, um Theater zu verstehen. Und die konstitutiven Regeln unterscheiden sich von Inszenierung zu Inszenierung. Man muss sie aus der Aufführung selbst herauslesen. Saltz nennt den Repräsentationsmodus des Theaters spielerisch („ludic representation“) und die des Films bildlich („pictorial representation“).

So weit sind Theater und Film begrifflich schön sauber getrennt. Aber Saltz kennt durchaus die Mischformen. Es gibt (oder gab) ein Theater, das versucht bildlich so „voll“ zu sein wie der Film (z.B. Alvis Hermanis’ Inszenierung des „Oblomow“ in der Halle Kalk des Schauspiels Köln 2011.14 Es gibt Filme, die versuchen so „leer“ zu sein wie das Theater (z.B. Lars von Trier „Dogville“ von 2003). Und es gibt das Musical, das eigentlich zum spielerischen Repräsentationsmodus gehört, aber im Musicalfilm dann dem bildlich „vollen“ Repräsentationsmodus des Films unterworfen wird. So kommt Saltz zu dem Schluss, dass Film und Theater sich zwar typischerweise ihrer beiden unterschiedlichen Strategien bedienen, dass diese Zuordnung aber kulturell bedingt und veränderlich sei15.

Und gerade weil diese Strategien des Wirklichkeitsbezugs flexibel gehandhabt werden können und weil ihre Verwendung so historisch und kulturell bedingt ist, ist es schade, dass Saltz’ Beispiele so begrenzt sind. Er bezieht sich auf Thornton Wilders „Happy Journey“ von 1931 und Peter Shaffers „Equus“ von 1973 (bzw. dessen Verfilmung von 1977) als Beispiele für den visuellen Minimalismus des Theaters. Inzwischen werden die deutschen Bühnen von einer Welle von filmischen Darstellungsmitteln erfasst: Projektionswände, Filmeinspielungen, live projizierte Filmbilder, interaktive computergenerierte bewegte Bilder, – alle Mischformen werden ausprobiert16. Es würde sich lohnen nachzuforschen, wie sich diese Repräsentationsmodi, die die jeweiligen Sehgewohnheiten von Film und Theater prägen,  in dieser heute so häufigen Theaterart zu einander verhalten.

 


  1. James R. Hamilton „What is the relationship between ‚observed‘ and ‚participatory‘ performance“ PTDA, pp.137-164 ↩︎
  2. Hamilton greift dazu auf eine biologische Theorie der Kognitionswissenschaft zurück, was zu amüsanten Formulierungen führt: „performers, similarly to other animals, (…) display features“ PTDA, p.138 ↩︎
  3. p.145↩︎
  4. Jacques Rancière, Le spectateur émancipé. Paris: La fabrique éditions, 2008; zit. in Englisch bei Hamilton PTDA, p.148 ↩︎
  5. PTDA, p.154 ↩︎
  6. PTDA, p.150 ↩︎
  7. “… thinking of so-called participatory and observed theatre as merely marking different degrees of interactivity is important.“ PTDA, p.156 ↩︎
  8. Fischer-Lichte, ibid., S.360 ↩︎
  9. Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung. Hamburg: Junius, 2013, S.89. Dies trifft auf Produktionen zu wie z.B. Milo Raus „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“, Schaubühne Berlin 2016. Vgl. die Kritik in der Tageszeitung (taz) vom 19.1.2016 oder im Freitag↩︎
  10. Rebentisch ibid. S.79 ↩︎
  11. David Z. Saltz, „Plays are games, movies are pictures: Ludic vs. pictorial representation“ PTDA, pp.165-182↩︎
  12. „The film image is a visually replete representation of the fictional world.“ PTDA p. 169. Saltz übernimmt den Begriff „replete“ von dem Symboltheoretiker Nelson Goodman. Dieser vergleicht ein Elektrokardiogramm mit einer Zeichnung des Berges Fujiyama des japanischen Malers Hokusai: „Einige Aspekte, die im bildlichen Schema [Zeichnung von Hokusai] konstitutiv sind [Dicke oder Farbe der Linie usw.], [werden] im diagrammatischen Schema [Elektrokardiogramm] zu kontingenten Aspekten abgewertet; die Symbole im bildlichen Schema sind relativ voll (replete).“ Nelson Goodman, Die Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1973, S. 231. ↩︎
  13. Saltz greift hier auf einen Begriff John R. Searles zurück. „Constitutive rules constitute (and also regulate) an activity the existence of which is logically dependent on the rules.“ John R. Searle, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language. London: Cambridge University Press, 1969, p. 34 ↩︎
  14. Vgl. die Kritik von Peter Michalzik vom 13.02.2011. ↩︎
  15. “The difference between the two mediums (…) is ontologically grounded in the sense that theatre and film are highly compatible with their characteristic modes of representation. Nonetheless, it remains historically and culturally contingent and mutable, not baked into the ontology of the two mediums“ PTDA, p.179 ↩︎
  16. Kay Voges, der Intendant des Schauspiels Dortmund, nutzt gerne die technischen Möglichkeiten, um diese Repräsentationsmodi neu zusammenzubauen. So sah man z.B. in seiner Inszenierung von Wolfram Lotz’ „Einige Nachrichten aus dem All“ eine Stunde lang im Theater nur einen Film, bis am Ende plötzlich ein echtes Auto von hinten durch die Projektionswand  brach. Vgl. die Nachtkritik vom 14.09.2012. Und in dem Projekt „hell.ein augenblick“ wurden Schauspieler fotografiert und aus den real auf der Bühne agierenden Darstellern wurden statische, groß projizierte Bilder: zwei völlig unterschiedliche Repräsentationsmodi kombiniert und gegenübergestellt. vgl. die Nachtkritik vom 11.02.2017↩︎

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