Immersion II

Die Auflösung der traditionellen Theaterraumstruktur, nicht nur in der freien Szene – seit Ende der 70er Jahre schon sind die Stadttheater in Fabrikhallen gegangen, um offene Raumsituationen herstellen zu können (1) -, ist eine Anpassung an die veränderte Aufmerksamkeitsstruktur (2), daran, dass Aufmerksamkeit „marketable“ geworden ist. Markt bedeutet Freiheit für Verkäufer und Käufer, aber auch die Möglichkeit des Anbieters, den Käufer zu beeinflussen, und die oft vergeblichen Versuche des Konsumenten, sich dieser Beeinflussung zu entziehen.

Alle fiktionalen Texte konstruieren eine eigene Welt, in die sie den Leser hineinziehen wollen. Im Theater war dieses Eintauchen vor allem das Mitfühlen und Mitdenken mit einer fiktionalen Figur. Die dingliche Wirklichkeit war nur in mehr oder minder abstrahierten Zeichen präsent. In den gegenwärtigen Immersionsprojekten geht es aber nicht um Einfühlung in einen Menschen. Es werden Situationen, Umwelten, konstruiert. Die Menschen darin (sofern es sie gibt, die Performer, Schauspieler neuen Typs) sind auch nur Umwelt. Der Rezipient soll eigene Erfahrungen machen, nicht die anderer auf sich beziehen.


  1. Beispiele aus den 70er- Jahren von Stadttheaterinszenierungen in Fabrikhallen, in denen die Zuschauer sich frei bewegen konnten: Peter Stein „Shakespeare’s Memory“ Schaubühne Berlin 1976, Alfred Kirchner, „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ Schauspielhaus Bochum 1979
  2. In der Schuldidaktik wurden deshalb das Laufdiktat und die peripatetische Unterrichtsmethode erfunden.

Produktionshäuser

„In Deutschland haben die freien Produktionshäuser nicht wie in anderen Ländern die staatlich subventionierten Häuser und Strukturen abgelöst.“

Bettina Masuch, Intendantin des Tanzhauses NRW in Düsseldorf: (1)

Daran ist falsch:
Auch die freien Produktionshäuser werden staatlich subventioniert (2), nur nicht in dem Maße wie die Stadt- und Staatstheater. (3)
„Staatliche subventionierte Häuser und Strukturen“ wie in Deutschland, also Theater mit festen Ensemble und Repertoirespielplan, gab es in den westlichen Nachbarländern Deutschlands lange nicht.

  • In Frankreich gibt es allerdings seit 1680 die Comédie Française, das Vorbild für die deutschen Hoftheater mit festem Ensemble und Repertoirespielplan, und vier weitere Nationaltheater. Seit 1946 gibt es den Versuch, das französische Theatersystem nach deutschem Vorbild zu dezentralisieren mit den staatlichen Centres Dramatiques in den Regionen, aber diese haben keine festen Ensembles und keinen Repertoirespielplan.
  • Erst 1963 wurde in England das erste Theater mit Repertoirespielplan gegründet, das National Theatre. In den Niederlanden gab es nie ein solches Theater.
  • Die Stadsschouwburg Amsterdam, die älteste Theaterinstitution der Niederlande, war immer ein Auftrittsort für wechselnde Theaterkompanien, also ein „freies Produktionshaus“.

Die „staatlich subventionierten Häuser“ wurden in diesen Ländern nicht abgelöst, sondern es gibt sie noch oder es gab sie nie oder es gab Versuche, das deutsche Modell nachzuahmen.

Es ist nicht so, dass Deutschland einen Prozess nachholen müsste, der in anderen Ländern bereits stattgefunden hat. Es geht den Verfechtern der Aufwertung der freien Szene um einen Angleichungsprozess an Verhältnisse, wie sie in den westlichen Nachbarländern (jedenfalls außerhalb der Metropolen) schon immer bestanden. Der Unterschied zwischen „Überwindung eines Rückstandes“ und „Angleichung an westeuropäische Verhältnisse“ scheint vielleicht gering, ist aber für die Diskussion über das deutsche Theatersystem von argumentationsstrategischer Bedeutung. Der Topos der „verspäteten Nation“ (4) wird hier ohne sachliche Grundlage bemüht.


  1. Bettina Masuch in: Tobi Müller, Theaterräume. Radiofeature WDR 3 20.05 2017
  2. z.B. durch das Land NRW 2014: 8 Mio.. Der größte Teil der Subventionierung erfolgt in NRW in beiden Bereichen aber durch die Kommunen, z.B. Stadt Köln 1,8 Mio.
  3. z.B. Land NRW 2014: 14 Mio., Kommunen in NRW insgesamt ca 400 Mio., Stadt Köln: ca 50 Mio. Sachstand Bericht Theater Stadt Köln
  4. Helmuth Plessner, Die verspätete Nation: Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche. Zürich 1935

Renovierung oder Restauration

Nicht nur Brücken in NRW müssen erneuert werden, auch die Theatergebäude. Irgendwie ist alles auf den Hund gekommen, nicht an die neue Zeit angepasst. Die architektonischen Entscheidungen in Düsseldorf und Köln sind konservativ: das Kölner Theater, das den Geist der 50er Jahre des voraussetzungslosen Neuanfangs, der dezidierten Traditionslosigkeit in Beton gegossen hat, das Düsseldorfer, das den Geist der 60er, der auftrumpfenden stolzen Modernität, – wir haben es geschafft, wir sind schön und modern, – schwungvoll behauptet, beide sollen konserviert, haltbar gemacht werden. Nur nebenbei werden die Zuschauerräume verkleinert. Die Fassade bleibt repräsentativ, das Innere trägt der reduzierten Bedeutung etwas Rechnung. Nur das Dortmunder Schauspiel ist froh über die Verzögerung der Rückkehr in das restaurierte Schauspielhaus. Der Betonboden der Lagerhalle neben der riesigen Hochofenruine ist zwar hart, aber auf ihm lässt sich die Zukunft besser probieren.