Nachtrag zu „Über personale Identität“. Drei Literaturhinweise

harari, Runciman & Macfarlane

Über personale Identität: Widerstandsromane auf deutschsprachigen Bühnen

Analysen der schwindenden Fähigkeit der Menschen, sich heute als eine einheitliche, mit sich selbst gleich bleibende Person zu verstehen, gibt es zuhauf. Hier drei Beispiele:

Zunächst David Runcimans politische Diagnose in der Auseinandersetzung mit Derek Parfit:

„Derek Parfit hat argumentiert [Derek Parfit, Reasons and Persons. Oxford 1984], dass unser Festhalten an der Illusion einer einzigen persönlichen Identität im Verlaufe unserer Lebenszeit etwas ist, das unsere moralische und politische Vorstellungskraft lähmt. Wir glauben instinktiv, dass wir mehr gemeinsam haben mit der Person, die wir in zwanzig Jahren sein werden, als mit der Person, die gerade jetzt neben uns sitzt. Parfit meint, das sei falsch: wir sind mit unseren zukünftigen Ichs genauso wenig verbunden, als wenn physischer Raum zwischen uns läge. Ich bin nicht das Ich, das ich in der Zukunft sein werde. Wir sind zwei wesentlich getrennte Personen.
Wenn wir das nur einsehen würden, könnten wir anfangen unsere moralischen Prioritäten neu zu ordnen. Erstens würden wir uns mehr um unsere Nachbarn sorgen und um Menschen in größerer Entfernung von uns, wenn man bedenkt, wieviel Zeit wir dafür aufwenden, uns nur um uns selbst zu sorgen. Zweitens würden wir mehr Vorsorge dafür treffen, dass wir nicht Menschen, die noch nicht existieren, Schaden zufügen (zum Beispiel indem wir natürliche Ressourcen verschwenden). Wenn es falsch ist, die Person zu verletzten, die neben mir sitzt, ist es ebenso falsch, mein oder dein zukünftiges Ich zu verletzen. Eine nicht integrierte Persönlichkeit (disaggragated personhood) würde uns zu besseren und verantwortlicheren Menschen machen, als wir es jetzt sind.
Bisher gibt es keine Anzeichen, dass die Informationstechnologie diese Wirkung hat. Parfit schrieb das in der Mitte der 80er Jahre, bevor die digitale Revolution in Gang kam. Seine Argumente setzten einen Rückhalt in relativer politischer Stabilität voraus: unter Bedingungen ruhiger philosophischer Überlegung sollten wir erkennen, was wir einander und unseren zukünftigen Ichs schuldig sind. In anderen Worten: erst stabilisieren wir uns, dann nehmen wir unsere Identitäten auseinander, dann setzten wir unser moralisches Universum wieder zusammen. Zur Zeit läuft dieser Prozess in umgekehrter Reihenfolge ab: erst nehmen wir unsere Identitäten auseinander, dann destabilisieren wir uns, dann sehen wir, ob noch irgendetwas von dem moralischen Universum, das wir gebaut haben, übrig ist. Unsere Persönlichkeiten werden auf viele kleine Arten fragmentiert, Stück für Stück: Gesundheitsdaten dort, Whatsapp hier, Twitter plappert im Hintergrund daher – ohne dass uns eine gemeinsame Übersicht geben würde, was eigentlich vorgeht. Das passiert nicht in einem philosophischen Seminar. Das ist gelebte menschliche Erfahrung, die ruhige Überlegung fast unmöglich macht. In der Gegenwart zerfasert uns die Technologie mehr, als dass sie uns befreien würde.“ 1

Diese „disaggregated selfs“ sind dann zweitklassige Opfer einer technokratischen Elite. Das ist jedenfalls eine der Gefahren, die nach Runciman nach dem Ende der Demokratie auf uns zukommen werden.

Eine einerseits grundsätzliche, andererseits aktuell verschärfte Kritik an der Vorstellung eines einheitlichen Subjekts, das sich selbst seine eigene Geschichte erzählen kann, liefert Yuval Noah Harari:

„Wollen wir uns selbst verstehen, so müssen wir vor allem anerkennen, dass das ‚Ich‘ eine fiktionale Geschichte ist, welche die verzweigten Mechanismen unseres Geistes fortwährend herstellen, aktualisieren und umschreiben. In meinem Kopf steckt ein Geschichtenerzähler, der erklärt, wer ich bin, woher ich komme, wohin ich will und was jetzt gerade geschieht. Wie die Imageberater der Regierung, die die neuesten politischen Wendungen erklären, versteht auch der innere Erzähler Dinge wiederholt falsch, gibt das aber, wenn überhaupt, nur selten zu. Und so wie die Regierung einen nationalen Mythos mitsamt Flaggen, Ikonen und Paraden schafft, so erzeugt meine innere Propagandamaschine einen persönlichen Mythos mit verklärten Erinnerungen und verbrämten Traumata, die oftmals wenig Ähnlichkeit mit der Wahrheit haben. (S.394f)
Wenn Sie sich also wirklich selbst verstehen wollen, sollten Sie sich nicht mit ihrem Facebook-Account oder mit der inneren Erzählung des Ichs identifizieren. Stattdessen sollten Sie den tatsächlichen Fluss von Körper und Geist wahrnehmen. Sie werden sehen, wie Gedanken, Emotionen und Sehnsüchte auftauchen und wieder verschwinden, ohne wirklichen Grund und ohne Befehl von Ihrer Seite, so wie unterschiedliche Winde aus dieser oder jener Richtung wehen und Ihre Haare durcheinanderbringen. Und so wie Sie nicht die Winde sind, so sind Sie auch nicht das Gewirr aus Gedanken, Emotionen und Wünschen, die Sie erleben, und Sie sind mit Sicherheit nicht die bereinigte Geschichte, die Sie darüber rückblickend erzählen. Sie erleben alle diese Dinge, aber Sie kontrollieren sie nicht. Sie besitzen sie nicht und Sie sind sie nicht. Die Menschen fragen: ‚Wer bin ich?‘ und erwarten, dass sie eine Geschichte zu hören bekommen. Das Erste, was Sie über sich selbst wissen müssen, ist: Sie sind keine Geschichte.“2

Harari bietet auch eine, zumindest vorläufige Lösung an: Meditation sei der Weg, sich der Arbeitsweise des eigenen Geistes zu versichern, bevor die Algorithmen uns besser verstehen als wir uns selbst.

Eine andere Lösung bietet Robert Macfarlane: den Kontakt mit der ungezähmten Natur. Das ist allerdings eher ein Sehnsuchtszenario als ein praktizierbares sozialpsychologisches Rezept:

„Wir finden es als Gattung zunehmend als schwierig, uns vorzustellen, dass wir Teil von etwas sind, das größer ist als unsere Fähigkeiten. Wir haben einen häretischen Hochmut akzeptiert, einen humanistischen Glauben an den menschlichen Unterschied, und wir unterdrücken die Kontrollmechanismen, denen wir unterworfen sind, wo wir können – die Erinnerungen daran, dass die Welt größer ist als wir oder dass wir in ihr enthalten sind. An fast jeder Front haben wir begonnen uns abzuwenden von einer gefühlten Beziehung zur natürlichen Welt.
Die Blendung der Sterne ist nur ein Aspekt dieses Rückzugs vom Wirklichen. Auf so viele Weise gab es einen Aufbruch des Lebens weg vom Ort, eine Abstraktion der Erfahrung zu verschiedenen Arten von Fühllosigkeit. Wir erfahren wie keine Generation zuvor Entkörperung und Entmaterialisierung. Die fast unendliche Verknüpftheit der technologischen Welt, trotz aller Vorteile, die sie gebracht hat, hat einen Zoll gefordert in der Währung des Kontakts. Wir haben auf vielfache Weise vergessen, wie die Welt sich anfühlt. Und so sind neue Krankheiten der Seele entstanden, Unglücklichkeiten, die die komplizierten Produkte der Distanz, die wir zwischen uns und die Welt gelegt haben, sind. Wir haben zunehmend vergessen, dass unsere Gedanken von der körperlichen Erfahrung, in der Welt zu sein, geformt werden – von ihren Räumen, Oberflächen, Klängen, Gerüchen und Gewohnheiten – genauso wie von den genetischen Eigenschaften, die wir erben, und den Ideologie, die wir aufnehmen. Ein ständiger und entscheidend uns bestimmender Austausch findet statt zwischen den physikalischen Formen der Welt um uns und der Formung unserer inneren Vorstellungswelt. Das Gefühl eines heißen trockenen Windes im Gesicht, der Geruch von entferntem Regen, der als ein Duftstrom in der Luft zu uns getragen wird, die Berührung durch den scharfen Fuß eines Vogels auf unserer ausgestreckten Hand: solche Begegnungen formen unser Wesen und unsere Phantasien in Weisen, die man nicht weiter analysieren, aber auch nicht bezweifeln kann. Es gibt etwas unkompliziert Wahres in dem Gefühl, das man hat, wenn man die Hand auf einen sonnengewärmten Felsen legt, oder in der Beobachtung eines dichten, sich verändernden Vogelschwarms oder zuzusehen wie Schnee unwiderlegbar auf unsere nach oben gewandte Handfläche fällt.“ 3

Auch wenn die Analysen sehr unterschiedlich sind – Zerstreuung durch digitale Medien, Unkenntnis der Arbeitsweise des eigenen Geistes, Verlust des Kontakts zum Körper und zur Natur – gemeinsam ist der Modus der Klage über die verlorene Stabilität des Selbstverständnisses. Auf das vage Gefühl eines Verlustes antwortet die Präsentation stabiler fiktiver oder historischer Identitäten. Je brutaler das Gesellschaftssystem, desto gestählter muss die Identität der Widerständler sein. Widerstand leisten wollen heute Wenige, aber dem allgemeinen Unbehagen an der Identitätsdiffusion entkommen, möchten Viele. So erklärt sich vielleicht die Konjunktur von dramatisierten Widerstandsromanen auf den deutschen Theatern.

  1. David Runciman, How Democracy Ends. London: Profile Books, 2018 (Übers. G.P.)
  2. Yuval Noah Harari, 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. München: C.H.Beck, 2018 (zuerst engl.: 21 Lessons for the 21st Century. 2018), S.395f
  3. Robert Macfarlane, The Wild Places. London: Granta, 2017, p. 203 (Übers. G.P.)