Über personale Identität: Widerstandsromane auf deutschsprachigen Bühnen

IMG_4019-474510596-1534838360281.jpg

Im deutschen Theater gibt es zur Zeit eine Welle von Romandramatisierungen, die den Widerstand gegen eine totalitäre Gesellschaft thematisieren: Bühnenbearbeitungen von Hans Falladas „Jeder stirbt für sich allein“1, Anna Seghers’ „Das siebte Kreuz“2 Christoph Heins „Trutz“3, George Orwells „1984“4 werden an vielen Bühnen zwischen Hamburg, Stuttgart und Wien gespielt. Im Zentrum steht jeweils eine Figur, die Widerstand leistet, d.h. ihre Auffassungen vom Leben, vom Zusammenleben in der Gesellschaft, von der Freiheit des Individuums, gegen widerstreitende Bedingungen, gegen schlimmste Folter durchhält. Nicht zufällig sind es ursprünglich Romane. Die Form des Romans eignet sich für die Darstellung einer Zentralfigur, die über längere Zeiträume sich unter wechselnden Umständen verändert oder aber an ihren fundamentalen Überzeugungen festhält. Und letzterer Romantypus wiederum eignet sich besonders für die Dramatisierung. Auf der Bühne lässt sich der Widerstreit von statischer Figur und veränderlichem Umfeld besser komprimieren als die schrittweise Entfaltung eines Charakters. Die zur Zeit auf den Bühnen erfolgreichen Romane sind keine Entwicklungsromane, sondern Durchhalteromane5.

Flexibilität oder Stabilität?

Man kann diese Tendenz als Eskapismus kritisieren, schließlich spielen diese Stücke alle in der Vergangenheit (außer Orwell, dessen Roman in einer heute vergangenen Zukunft spielt). Man kann sie als Rückfall in narratives Theater verurteilen, das ein selbstzufriedenes Publikum mit rührenden Geschichten einlullt. Aber wenn man das Bedürfnis der Theatermacher und des Publikums nach solchen Stoffen ernst nimmt, muss man zu einem anderen Schluss kommen. Ganz abgesehen von der Aktualität der politischen Umgebungen, in denen diese Romane spielen (Nationalsozialismus, Stalinismus, Überwachungsstaat), scheint es um ein anderes Thema zu gehen: Flexibilität oder Stabilität des Charakters, Dissoziation oder Konstitution des Ichs. Dieses Thema beschäftigt die Menschen, ob bewusst oder unbewusst, weil die Gesellschaft es ihnen aufdrängt.

Auch wenn der Glaube daran, dass ein Mensch im Laufe seines Lebens dieselbe Person bleibt, im Alltag unverzichtbar ist, dass also ein Begriff von personaler Identität irgendwie praktisch notwendig ist6, so wird diese Vorstellung schon immer angezweifelt, sogar im Recht. Obwohl die Zurechenbarkeit von vergangenen Handlungen zu einem identischen Handlungssubjekt eine Grundvoraussetzung des Rechts ist, gibt es auch hier Aufweichungen des Konzepts durch Abstufungen der Zurechnungsfähigkeit und Verjährungsfristen.

Zweifel an der Identität der Person

Eines der ältesten Dokumente des Zweifels an der Identität der Person stammt vom sizilianischen Komödienschreiber Epicharmos aus dem 5. Jahrhundert v. Ch.:

„Du und ich sind gestern andere und heute andere und wieder andere in Zukunft und niemals dieselben nach demselben Gesetz.“

Als Begründung dient die Veränderlichkeit und Beweglichkeit des Menschen. 7
Zweitausend Jahre später greift Montaigne diese Skepsis auf. 8. Aber Montaigne konstatiert nicht nur, dass wir alle nur aus „buntscheckigen Fetzen“ bestehen“, sondern sieht auch die Aufgabe, die personale Identität herzustellen.

„Dem, der sein Leben nicht im Ganzen auf ein bestimmtes Ziel auszurichten weiß, ist es unmöglich, im einzelnen sinnvoll zu handeln. (…) Man sollte es für etwas wahrhaft Großes ansehen, wenn einer stets als ein und derselbe auftritt.“

Montaigne sieht beides, die Unmöglichkeit, einen „festen Lebensplan“ durchzuführen, weil wir uns den Lebensweg immer nur „stückweise“ überlegen, und die Notwendigkeit, sich selbst treu zu bleiben. 9

David Hume gilt als der Kronzeuge der Kritik an der Vorstellung von persönlicher Identität. In seinem Kapitel „On personal identity“ in seinem „Treatise of human nature“ von 1738, das er in seinen späteren Fassungen seiner Philosophie nicht wieder aufgegriffen hat, zerpflückt er diese Vorstellung:

„[Wir sind] nichts sind als ein Bündel oder ein Zusammen verschiedener Perzeptionen die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluß und Bewegung sind.“10.

Meist wird übersehen, dass diese gut gelaunte Zerschlagung der Ich-Identität sich aus Humes skeptisch-empiristischen Grundannahmen ergibt. Hume formuliert – wie auch später Kant in seiner Antwort auf Hume, der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe11, eine erkenntnistheoretische Position, keine psychologische.

Im Theater findet man diese Diskussion wieder bei Henrik Ibsen. Sein Peer Gynt findet keinen Kern seiner Person, wie bei einer Zwiebel nur Schale nach Schale, Schicht auf Schicht. Am Lebensende fragt er sich, worin denn seine unverwechselbare Identität bestehe. Er selbst findet keine Antwort, nur seine Geliebte Solveig kann ihn trösten: Seine Unverwechselbarkeit liege in ihrer Treue, ihrem Hoffen, ihrer Liebe. Es gibt also keinen Kern der Persönlichkeit, nur – wenn man Glück hat – die Zuschreiben von Identität durch andere. 12

Entsprechend argumentiert Julian Pörksen, der Dramaturg von Stefan Bachmanns Kölner „Peer Gynt“-Inszenierung von 2017, in einem Aufsatz des Programmheftes gegen das „essentialistische Modell“ der personalen Identität und zieht dazu die neuere Philosophie des Geistes heran: „Ein Selbst, eine Seele gibt es nicht.“13 Für Thomas Metzinger sei das „Selbst-Modell“ eine Fiktion. Dabei vermischt Pörksen aber die Frage der Existenz einer Seele mit der Frage, wie stabil unser Selbstbild sein kann. Die Widerlegung von Platons Beweis der Existenz einer Seele ist nach 2500 Jahren Philosophiegeschichte ein leichtes Spiel. Peers Frage zu beantworten, wie er denn nach all den wechselvollen Handlungen, Ereignisse, und Rollen in seinem Leben eine Einheit finden soll, ist sehr viel schwerer. Zwar hält Thomas Metzinger auch die Homogenität des Bewusstseins für eine Illusion, zugleich sieht er aber auch, dass die Stabilität eines (illusionären) Selbstmodells Voraussetzung für Selbstbewusstsein ist. 14

Figuren mit einer gradlinigen Biographie sind auf der Bühne eigentlich selten. Die gebrochenen Charaktere sind interessanter. Eine von vielen Nachfolgern und Nachfolgerinnen Peers auf den Bühnen ist z.B. Mary Page Marlowe, die Protagonistin in Tracy Letts’ gleichnamigem Theaterstück, die er nach dem Vorbild seiner Mutter gestaltet hat. Ihre Lebensgeschichte wird auch dramaturgisch durcheinandergewirbelt, mit wilden Sprüngen in der Chronologie erzählt. Auch sie kommt zu dem Schluss, dass sie nicht sie selbst ist, dass sie nicht weiß, worin der Kern ihrer eigenen Persönlichkeit besteht:

„I am not the person I am.“ 15

Am Schluss des Stückes steht ein Symbol: keine Zwiebel diesmal, sondern ein „family quilt“, ein von Generation zu Generation ergänzter Flickenteppich. So versteht diese Frau ihr Leben: fast auseinanderfallend, beschmutzt, fleckig, aus heterogenen Bestandteilen zusammengesetzt, aber immer noch eine prekäre Einheit. 16
Tocotronic brachte 2007 dieses moderne Selbstverständnis auf eine griffige Formel:

„Wir sind viele / jeder einzelne von uns … wer ich sagt hat noch nichts gesagt … nichts als Quatsch und Wucherung / in uns um uns um uns herum / wir sind die Welt die dumpf entsteht / der Wind der sich beständig dreht.“ 17

Stabilität des Selbstmodells

Die Gegenseite, die Verteidiger der Stabilität des Ichs, haben es schwerer, in der Philosophie wie auf dem Theater. Ibsen war es, der mit „Brand“, 1865 noch vor „Peer Gynt“ geschrieben, das Drama des Dogmatikers auf die Bühne brachte. Ibsens Frühwerk wird selten gespielt. Eine Biographie, deren Bewegung in dem Rückzug in die dunkle Kälte Nord-Norwegens besteht, ist weniger bühnenwirksam als Peer Gynts bunte Weltreise durch alle touristisch reizvollen Schauplätze.18. Brand ist ein norwegischer Pastor, der einen kompromisslosen Kampf gegen die Lauheit und Inkonsequenz seiner christlichen Gemeinde führt. Ibsen lässt ihn eigentlich durch Gottes Gnade gerettet werden. Die einzige deutsche Inszenierung der letzten Jahrzehnte (Frank-Patrick Steckel in Bochum 1993) schickte den unbelehrbaren Starrkopf gleich in die Hölle19.

In der antiken Tugendphilosophie spielt die Fähigkeit, sich selbst durchzuhalten, die Einheit des Selbstbildes aufrechtzuerhalten, eine geringe Rolle. Im Vordergrund der epikureischen und stoischen Ethik steht die Fähigkeit, Schicksalsschläge („existenzielle Unverfügbarkeiten“) auszuhalten, die Ataraxie, das Unerschütterlichsein. Auch in der Renaissance geht es unter dem Titel der Constantia um diese Fähigkeit20. Festigkeit gegenüber zerstörerischen, unkontrollierbaren Eingriffen in das eigene Leben von außen ist etwas anderes als die Fähigkeit, an eigenen Überzeugungen festzuhalten auch gegen Anpassungsdruck und Verführungen. Erst wenn die Konzeption des autonomen Individuums zur gesellschaftlichen Norm geworden ist, stellt sich dieses Problem. Erst wenn die Angriffe von außen minimiert sind, erst wenn Orientierungslosigkeit und Anreize, sich an andere anzugleichen, die eigene Identität in Frage stellen, wird die Treue zu sich selbst in der Existenzphilosophie zum emphatisch proklamierten Grundthema: „eine Identifizierung im Dasein mit sich selbst.“21. Die aktuellen Versuche der Wiederbelebung der Tugendethik dagegen fassen das Thema der Treue zu sich selbst nur vorsichtig an. Es ist immer Verbunden mit der Warnung vor Unbelehrbarkeit, Starrsinn und seelischer Trägheit22. Flexibilität, Offenheit, Mobilität und Kreativität sind heute die vom modernen Selbst geforderten Eigenschaften, nicht Beständigkeit23.

Dagegen liest sich der Schluss von Anna Seghers‘ Roman „Das siebte Kreuz“ heute wie ein Relikt aus der Zeit der existenzialistischen Emphase der Treue zu sich selbst:

„Wir fühlten alle, wie tief und furchtbar die äußeren Mächte in den Menschen hineingreifen können, bis in sein Innerstes, aber wir fühlten auch, dass es im Innersten etwas gab, was unangreifbar war und unverletzbar.“24

Anna Seghers hat diesen Glauben immer wieder formuliert, auch in einer ihrer letzten Erzählungen:

„Es muss aber im Innern des Menschen einen unverwüstlichen, zwar manchmal im Dunst, sogar im Schlamm verborgenen, dann aber wieder in seinem ursprünglichen Glanz aufleuchtenden Kern geben. Es muss ihn geben.“ 25

Ihre Biographie beglaubigt diese Überzeugung und zeigt ihre Gefahren. Auch als einige ihrer engsten Freunde in der Endphase des Stalinismus unter absurden Beschuldigungen verhaftet wurden (Walter Janka, Franz Dahlem), ließ sie nicht ab von der Solidarität mit der Kommunistischen Partei.
Christoph Hein dagegen, erfahren in der DDR-Opposition, gibt seinem Helden in seinem Roman „Trutz“ die für ein stabiles Selbstmodell entscheidende Fähigkeit gleich im Übermaß mit: das Gedächtnis. Treue zu sich selbst setzt Erinnerungsfähigkeit voraus. Maykl Trutz, der Gedächtniskünstler und Archivar, bleibt ein Außenseiter in einer vergesslichen Gesellschaft.

Stabilität, Flexibilität und Narrativität

Dass solche Figuren, die so genau wissen, wer sie sind und sich von ihrem Selbstbild nicht abbringen lassen, in letzter Zeit so häufig den Weg auf die Bühne finden, dürfte seine Ursache in einem unterschwelligen Bedürfnis des Publikums und der Theatermacher nach solcher Stabilität des Selbstbildes haben26, gerade weil die Gesellschaft Flexibilität verlangt.

Richard Sennet war einer der ersten, die diesen Widerspruch zwischen den Bedürfnissen der Menschen nach Stabilität und der Anforderung der Gesellschaft nach Flexibilität analysiert hat:

„Instability is meant to be normal.“27

„How do we decide what is lasting value in ourselves in a society which is impatient, which focuses on the immediate moment?“28

Sennet deutet aber auch an, auf welchem Weg dieser Widerspruch für die Einzelnen gelöst werden könnte:

„What is missing between the polar opposites of drifting experience and static assertion is a narrative which could organize his conduct.“29

Die Fähigkeit, sich selbst zu erzählen, selbst Zusammenhänge finden oder konstruieren zwischen den durch Anforderung der Flexibilität unzusammenhängend, divers und zufällig erscheinenden eigenen Handlungen und Lebensabschnitten, ist die Voraussetzung für die Versöhnung von Flexibilitätsanforderungen und Stabilitätsbedürfnissen. Matthew B. Crawford hat gezeigt, dass diese Fähigkeit, autobiographische Zusammenhänge zu finden, davon abhängt, wieweit man in der Lage ist, die Aufmerksamkeit von Umwelteinflüssen abzuziehen30. Der kommerzielle Wettbewerb um die Approprierung unserer Aufmerksamkeit durch Medien, Werbung, Kommunikationskanäle usw. gefährdet diese Fähigkeit31.

Der Erfolg der Durchhalte- und Widerstandsromane auf den deutschen Bühnen könnte also genau aus diesem Bedürfnis zu erklären sein: Konstruktion eines stabilen Selbstbildes in einer flexiblen Gesellschaft durch Narrativität.32 Oder in Andreas Reckwitz’ Terminologie: Diese Widerstandshelden sind zwar authentische Subjekte, aber nicht an der „performativen Selbstverwirklichung“33 interessiert, die in der neuen Mittelklasse verlangt wird. Sie führen kein „kuratiertes Leben“34. Sie sind keine kuratierten Selbste. Sie sind narrative Selbste.

Auf der Bühne werden uns Geschichten erzählt, wie man sich selbst treu bleibt. Und das geht nur durch Geschichten, nicht durch Fragmente, oder nur durch Fragmente, die sich zu Geschichten zusammenfügen lassen. Wie unser Leben.

  1. z.B. Thalia Theater Hamburg 2012, Schauspiel Bonn 2018
  2. z.B. Schauspiel Frankfurt ), Theater Oberhausen 2018
  3. z.B: Ruhrfestspiele Recklinghausen/ Schauspiel Hannover 2018
  4. z.B. Düsseldorfer Schauspielhaus/ Schauspiel Stuttgart 2018 ), Volkstheater Wien 2017
  5. Das andere Romangenre, das die Theater gerne umsetzen, ist das der Coming-of-Age-Romane. Dank dem Düsseldorfer Dramaturgen Robert Koall erreichen sie oft schon nach einem Jahr die Bühnenreife: vgl. Wolfgang Herrndorf, Tschick; Fatma Aydemir, Ellbogen; Bov Bjerg, Auerhaus
  6. Die klassische Definition von personaler Identität findet sich bei John Locke: „To find wherein personal identity consists, we must consider what person stands for, which, I think, is a thinking intelligent being, that has reason and reflection, and can consider it self as it self, the same thinking thing in different times and places; which it does only by that consciousness, which is inseparable from thinking, and as it seems to me essential to it: It being impossible for any one to perceive, without perceiving, that he does perceive.“
    John Locke, An Essay concerning Human Understanding. ed. by Peter H. Nidditch. Oxford: Clarendon Press, 1985. (1689) Chap. XXVII Identity and Diversity, §9 p. 335
  7. “ὧδὲ νῦν. ὄρη καὶ τός ἀνθρώπους. ὁ μὲν γὰρ αὔξεθ᾽ ὁ δέ γα μὰν φθίνει, ἐν μεταλλαγᾶ δὲ πάντες ἐντὶ πάντα χρόνον. ὁ δὲ μεταλλάσσει κατὰ φύσιν κωὔποκ᾽ἐν τωὐτῶ μένει, ἅτερον εἴη κα τοδὴ τοῦ τοι παρεξεστακότος. καὶ τὺ δὴ κἠγὼ χθὲς ἄλλοι καὶ νὺν ἄλλοι τελέθομες, καὐθις ἄλλο κιοὔτι αὔτοὶ τελεθομες κατ τὸν λύγον.“
    „Nun so sieh dir die Menschen an: der eine wächst, der andere nimmt halt ab, im Wechsel sind sie alle allezeit. Doch was von Natur wechselt und nimmer auf demselben Flecke bleibt, das wäre ja dann wohl etwas von dem Veränderten Verschiedenes. Auch du und ich sind gestern andere und heute andere und wieder andere in Zukunft und niemals dieselben nach demselben Gesetz.“
    Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Nach der von Walther Kranz herausgegebenen achten Auflage. Mit Einführungen und Bibliographien von Gert Plamböck. Hamburg: Rowohlt, 1957. S.33
  8. „Es ist doch unwahrscheinlich, dass wir fort und fort neue Gefühlseindrücke aufnehmen könnten, wenn keine Veränderung in uns vorginge; was aber Veränderungen unterliegt, bleibt nicht ein und dasselbe; und was nicht ein und dasselbe bleibt, *ist* auch nicht, denn mit dem Ein-und-dasselbe-Sein gibt es, ständig aus einem anderen zu einem anderen werdend, zugleich sein Sein an sich auf.“
    „Apologie für Raymond Sebond“, in: Michel de Montaigne, Essays. übers. v. Hans Stilett. Frankfurt/M: Eichborn, 1998. S.300
  9. „Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns“, in: Michel de Montaigne, Essays. a.aO., S.167-168.
    André Comte-Sponville zitiert in diesem Sinne M. Conches Zusammenfassung der Haltung Montaigne: „‚Die Grundlage meines Wesens und meiner Identität ist rein moralisch: sie liegt in der Treue zum Eid, den ich mir selbst geleistet habe. Ich bin nicht wirklich derselbe wie gestern; ich bin nur derselben weil ich mir dasselbe schwöre, weil ich eine bestimmte Vergangenheit als die meine anerkenne, und weil ich vorhabe, auch künftig meine gegenwärtige Verpflichtung als die meine anzuerkennen.’“
    André Comte-Sponville, Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben. Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte. Reinbek: Rowohlt, 1996 (zuerst frz. *Petit traité des grandes vertues*, 1995), S. 34.
    (Als Beleg für die Wankelmütigkeit des Menschen führt Montaigne allerdings auch eine Vergewaltigungsgeschichte an, die man heute ganz anders verstehen würde. Eine Frau hatte aus Angst vor Vergewaltigung durch Soldaten versucht sich umzubringen, obwohl sie zuvor nach Aussagen der Soldaten sich freiwillig hingegeben habe.)
  10. „But setting aside some metaphysicians of this kind, I may venture to affirm of the rest of mankind, that they are nothing but a bundle or collection of different perceptions, which succeed each other with an inconceivable rapidity, and are in perpetual flux and movement.“.
    David Hume, A Treatise of Human Nature. ed. L.A. Selby-Bigge. Second edition by P.H. Nidditch. Oxford: Clarendon, 1978, p. 252.
    „Wenn ich aber von einigen Metaphysikern, die sich eines solchen Ich zu erfreuen meinen, absehe, so kann ich wagen, von allen Menschen zu behaupten, daß sie nichts sind als ein Bündel oder ein Zusammen verschiedener Perzeptionen die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluß und Bewegung sind.“
    David, Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur. Buch I Über den Verstand übers.v. Theodor Lipps. Hamburg: Meiner, 1978, S. 327
  11. „Das stehende und bleibende Ich (der reinen Apperzeption) macht das Correlatum aller unserer Vorstellungen aus, so fern es bloß möglich ist, sich ihrer bewusst zu werden.“
    Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Hg.v. W. Weischedel. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1974, S. 178
  12. PEER: „Det var en ustyrtelig Mængde Lag!/ Kommer ikke Kjærnen snart for en Dag? / Nej-Gud om den gjør! Till det inderste indre / er altsammen Lag, – bare mindre og mindre.“ (…)
    PEER: „Hvor var jeg, som mig selv, som den hele, den sande?/ Hvor var jeg, med Guds Stempel paa min Pande?
    SOLVEJG: I min Tro, i mit Haab og i min Kjærlighed.“
    Ibsen, Peer Gynt
    PEER: „Schicht liegt auf Schicht./ Kommt denn nicht einmal ein Kern ans Licht?/ Und ob er das tut! Bis ins Innre/ Nichts als Schichten – immer Dünnre und Dünnre.“ (…)
    PEER: „Wo war ich ich selbst, keinem sonst zu vergleichen?/ Wo war ich, auf der Stirn meines Gottes Zeichen?
    SOLVEIG: In meinem Glauben, Hoffen und Lieben warst du.“
    Henrik Ibsen, Peer Gynt. Ein dramatisches Gedicht. Aus dem Norwegischen Übertragen von Hermann Stock. Stuttgart: Reclam, 1982 (zuerst 1953). S. 127, 149
  13. Julian Pörksen, „Selbst-Bilder“, in: Schauspiel Köln, Peer Gynt von Henrik Ibsen. Programmheft zur Inszenierung von Stefan Bachmann 2017 S.29
  14. „Die Homogenität des phänomenalen Bewußtseins ist eine Illusion, die durch einen niedrigen Auflösungsgrad derjenigen Funktion bedingt ist, die mentale Repräsentate zu bewußten macht.“ S. 149; „Die Erzeugung eines stabilen Selbstmodells ist die Grundlage von Selbstbewußtsein und der zusammen mit ihm entstehenden psychologischen Eigenschaften.“ S. 169.
    Thomas Metzinger, Subjekt und Selbstmodell. Die Perspektivität phänomenalen Bewußtseins vor dem Hintergrund einer naturalistischen Theorie mentaler Repräsentation. 2. Aufl., Paderborn: mentis, 1999
  15. Tracy Letts, Mary Page Marlowe. New York: Theatre Communications Group, 2016, p.36.
    „Ich bin nicht die, die ich bin.“ Tracy Letts, Mary Page Marlowe. Deutsch von Anna Opel, Frankfurt: S. Fischer Theater & Medien, 2016, S. 38
  16. “it’s pretty fragile“, (nearly) „disintegrating“, „threadbare“, „brown stains“, „intact“, „different panels“, „not that fragile“, „not falling apart“, ibid. p.67f
  17. Tocotronic, Wir sind viele
  18. Käte Hamburger sieht den Grund für die Bevorzug von „Peer Gynt vor „Brand“ darin „dass ein noch dazu liebenswürdiger Immoralismus ein reizvolleres Sujet abgibt als ein strenger Moralismus“.
    Käte Hamburger, Ibsens Drama in seiner Zeit. Stuttgart: Klett-Cotta, 1989 S.59
  19.  Die entscheidende Stelle kurz vor Ende des Drama, Brands Dialog mit einer Geistererscheinung, lautet im norwegischen Original:
    „SKIKKELSEN: Alle Lys i Natten slukke, /Dagens Solskjær udelukke, /aldrig Livets Frugter plukke, /aldrig løftes lindt af Sange? /O, jeg mindes dog saa mange!
    BRAND: Jeg det maa. Spild ej din Bøn.
    SKIKKELSEN: Glemmer du din Offerløn?/ Alt dit Løftningshaab bedrog dig; /alle sveg dig, alle slog dig!
    BRAND: Ej for egen Løn jeg lider; /Ej for egen Sejr jeg strider.“ (wörtlich: „Nicht für meinen eigenen Lohn leide ich;/ Nicht für meinen eigenen Sieg streite ich.“)
    Ibsen, Brand (norwegisch)
    Die Übersetzung der Verse ins Deutsche ist heikel. Die Standardübersetzung Christian Morgensterns kürzt und macht daraus:
    „DIE ERSCHEINUNG: Alles Licht mit Nacht zerdrücken, /Nie Dein Herz an Tag beglücken,/ Nie des Lebens Früchte pflücken, /Nie Dein Leid im Lied ertränken? / Ach, ich muss so vieler denken!
    BRAND: Wär ich ich, wenn ich mich schonte?“
    Henrik Ibsen, Sämtliche Werke. Zweiter Band. Hg.v. Julius Elias und Paul Schlechter. Berlin: S. Fischer, 1913.
    Frank-Patrik Steckel aktualisiert forsch:
    „DIE ERSCHEINUNG: Wirf es ab, das Unbedingte / Tödlich Idealbeschwingte! / Lebe, wie es dir gefällt!
    BRAND: Tät ich das, wenn ich mich schonte?“
    Henrik Ibsen, Brand. Ein dramatisches Gedicht. Nach der Übertragung von Christian Morgenstern bearbeitet von Frank-Patrick Steckel. Schauspielhaus Bochum Programmbuch 88, Spielzeit 1993/94, S.136
  20. „Constantiam hic appello, rectum et immotum animi robur, non elati externis aut fortuitis, non depressi. Robur dixi; & intellego firmitudinem insitam animo, non ab opinione, sed a iudicio & recta ratione.“ S.26,28.
    Dt: „Die Standhaftigkeit nenne ich also eine rechtmäßige und unbewegliche Stärke des Gemüts, die von nichts Äußerlichem oder Zufälligem hinweggehoben oder unterdrückt wird. – Eine Stärke, habe ich gesagt, und verstehe darunter eine innere Festigkeit des Gemüts, die nicht von einem Wahn herkommt, sondern aus einem begründeten Urteil und der rechten Vernunft.“ S.29.
    Justus Lipsius, De Constantia. Von der Standhaftigkeit. Lateinisch – Deutsch. Übersetzt, kommentiert von Florian Neumann. Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, 1998
  21. „Der Kern der Treue liegt in dem Entschluss absoluten Bewusstseins, durch den ein Grund gelegt wurde: eine Identifizierung im Dasein mit sich selbst. Ich ließ mich als ich selbst ein und jetzt ist Treue die Bewahrung meines Selbstseins mit dem Anderen. Sie wird objektiv in Forderungen, die im Ursprung Forderungen meiner selbst an mich sind.“
    Karl Jaspers, Philosophie II. Existenzerhellung. München/Zürich: Piper, 1994 (zuerst 1932) S, 137
  22. „Seelische Trägheit hält einen von einer Revision der eigenen Visionen ab. (…) Treuepunkte werden von Ladenketten vergeben; das Leben vergibt dergleichen Prämien nicht.“
    Martin Seel, 111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue. Frankfurt: S. Fischer, 2011, S.193.
    Oder: „Die Treue ist die ‚Tugend des Selben‘, sagte Jankélévitch auch; doch in einer Welt, in der sich alles verändert – und das ist die Welt -, gibt es ein Selbes nur durch Erinnern und Wollen.“
    André Comte-Sponville, Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben. Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte. Reinbek: Rowohlt, 1996 (zuerst frz. Petit traité des grandes vertues, 1995), S.33
  23. „Insbesondere das unbewegliche, im weitesten Sinne immobile Subjekt, verstanden als ein Selbst, dem es in seiner Persönlichkeitsstruktur an ‚Offenheit‘ mangelt, bildet hier eine negativ bewertete Gegenfigur zum kreativen Subjekt.“
    Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin, Suhrkamp, 2017, S. 344
  24. Anna Seghers, Das siebte Kreuz. Berlin und Weimar: Aufbau, 1975 (zuerst Mexiko 1942) S. 423.
    Lars-Ole Walburgs Bühnenfassung für das Theater Oberhausen 2017 hat diesen Schluss erstaunlicherweise weggelassen.
  25. Anna Seghers, Überfahrt. Eine Liebesgeschichte. Berlin und Weimar: Aufbau Verlag 1971, S.66. Ähnlich ibid. S.175: „In dieser sich ständig verändernden, weiterstrebenden Welt, in der wir jetzt leben, ist es gut, wenn etwas Festes in einem immer erhalten bleibt, auch wenn das Feste ein unvergessliches Leid ist.“
  26. In der Psychologie wird dieses Bedürfnis unter den Stichworten Resilience, Hardiness und Sense of Coherence verhandelt. Vgl. den Bestseller der Ratgeberliteratur Christina Berndt, Resilienz: Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft. Was uns stark macht gegen Stress, Depressionen und Burn-out. München: dtv, 2015 und die pädagogisch orientierte Darstellung in: Klaus Fröhlich-Gildhoff & Maike Rönnau-Böse, Resilienz. München: Ernst Reinhardt, 2015 (=UTB 3290). Christian Geyer mokiert sich in einem Kommentar in der FAZ 28.01.2019 über die modische Verwendung des Begriffs der Resilienz und empfiehlt stattdessen Wilhelm Plessners Begriff der Rolle.
  27. Richard Sennett, The Corrosion of Character. The Personal Consequences of Work in the New Capitalism. New York: W.W.Norton, 1998, p.31
  28. ibid. p.10
  29. ibid. p. 30
  30. „Autobiographical memory arises from suppressing the environment.“ p. 20.
    „This activity of narrative self-articulation gets under way, developmentally, with the capacity to ignore things.“ p.21.
    Matthew B. Crawford, The world beyond your head. On becoming an individual in an age of distraction. New York: Farrar, Straus and Giroux, 2015
  31. „If we are currently facing a culturally and technologically induced trauma to our ability to suppress environmental input, that raises a big question: Is this distinctly human activity of coherence-finding at risk?“ ibid. p.21
  32. Wolfgang Engler denkt ähnlich über das Interesse an den „stillen Helden“ nach, die während des 2. Weltkriegs bei Gefahr für das eigene Leben anderen das Leben gerettet haben. Ihr Verhalten wirke heute „irgendwie vermessen, beinahe anstößig“. Engler versteht ihre Handlungen als Wirkung eines „ozeanischen Gefühls“: „Sie fassen die Menschheit als einen Organismus auf, dessen Glieder unauflösbar zusammenhängen, sodass die Verletzung eines einzigen das gesamte Wesen in Mitleidenschaft zieht.“ Engler gibt auch den Theatern die Aufgabe, als „Inseln“ im Meer der Gegenwart, in der nur noch von der Gesellschaft zum Individuum gedacht wird, die Unabhängigkeit des Handelns einzelner zu zeigen. „Dem Handeln seine Würde als Menschenwerk zurückzugeben, im Guten wie im Bösen, ist dem Theater zumutbar.“ Auch das kann ein Motiv und vielleicht auch eine Wirkung solcher Inszenierungen von Widerstandsromanen sein: die Unabhängigkeit des Handelns einzelner zu bestaunen.
    Wolfang Engler, „6. Die Wiederkehr der Helden“, in: W.E., Authentizität!. Von Exzentrikern, Dealern und Spielverderbern. Berlin: Theater der Zeit, 2017, S.69, 80
  33. Andreas Reckwitz, a.a.O., S. 305
  34.  ibid. S.295

Kommentar verfassen