Mit Hegel im Theater – Hegels Antikritik zu Raupachs Komödie „Die Bekehrten“

Hegel war ein eifriger Theaterbesucher und ein Kenner der dramatischen Literatur. Aber in seiner Ästhetik erhält das Drama ein herausragende Stellung, nicht das Theater. Für Hegel ist die schöne Kunst das „sinnliche Scheinen der Idee“1, aber das sinnliche Scheinen des Dramas, die Theateraufführung, ist für ihn zweitrangig. Das Drama ist die „höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt“2, aber die Schauspielkunst ist zweitrangig und alle Elemente der Theateraufführung „Gebärde, Aktion, Deklamation, Musik, Tanz und Szenerie3 sind der Rede untergeordnet. Das Drama hat für Hegel die höchste Stellung in der Poesie, weil es als dialogische Wortkunst Subjektivität und Objektivität vereint, und so der Philosophie am nächsten steht4. Die Aufführung des Dramas dagegen ist nur notwendiges Beiwerk5. Aus dem inszenatorischen Drumherum, Bewegung, Musik, Bühnenbild, hebt sich das „poetische Wort“ als „hervorstechender Mittelpunkt … in freier Herrschaft“ heraus6.

So Hegels Theorie. Das heißt nicht, dass Hegel unfähig war, eine Theateraufführung zu würdigen und zu genießen. Es gibt von Hegel das kuriose Dokument eines seitenlangen Verrisses7 – nicht einer Theateraufführung, sondern einer Theaterkritik, erschienen 1826 in einer Zeitschrift genannt „Schnellpost“, herausgegeben von Hegels Freund Moritz Gottlieb Saphir8. Gegenstand der kritisierten Kritik war die Uraufführung der Komödie „Die Bekehrten“ von Ernst Raupach. Raupach ist heute völlig vergessen, war aber zwischen 1820 und 1850 ein vielgespielter, hochdekorierter, hochbezahlter Theaterautor 9.

In seiner Komödie „Die Bekehrten“ streitet sich ein Liebespaar, trennt sich. Der Onkel des Geliebten heiratet die junge Frau dann zum Schein, um sie für seinen Neffen in Verwahrung zu nehmen und vor anderen Bewerbern zu schützen, fingiert seinen Tod, erreicht die Annullierung seiner Ehe und führt die beiden ehemals zerstrittenen Liebenden wieder zusammen. Die Handlung des Stückes beginnt aber damit, dass der angeblich gestorbene, scheinverheiratete Onkel in der Verkleidung als Mönch seiner ehemaligen Gattin-zur-Verwahrung Ratschläge und somit die Gelegenheit zur Erzählung der Vorgeschichte gibt. Später erscheint er noch als Geist und stiftet Verwirrung. 10

Das war für den Kritiker der „Schnellpost“ zu viel der unwahrscheinlichen Konstruktion. Die Kritik des „Schnellpost“-Autors warf Raupach vor, mit zu „außerwesentlichen Zufällen“ und einer „überschraubten Gewaltaufgabe“ die Handlung unglaubwürdig gemacht zu haben.11 Das empörte Hegel, zumal auch das Publikum nur lau reagiert hatte. Hegel aber war begeistert. Also schrieb er eine ausführliche Darlegung der notwendigen Rolle des Zufalls in Komödien. Das ist eine Ehrenrettung für das Drama, für Raupachs Text.

Für Hegel hat der Theaterautor die „Aufgabe in der Hauptsache“ zu erfüllen, damit die Schauspieler „ihr Vermögen entfalten und geltend machen“ können. 12. Hegel bringt als Kenner hierfür eine Reihe von Beispielen aus Aufführungen, die er gesehen hat, und von Schauspielern, deren „Vermögen“ er beurteilen kann. 13


Aber zumindest in einem Satz wird deutlich, dass Hegels Faszination für diese schlichte Komödie ihren Grund in der Aufführung hatte. Hegel schwärmt zunächst von der Hauptdarstellerin in „Alanghu“, einem anderen, völlig erfolglosen Drama Raupachs 14:

Das Stück habe „die Schauspielerin in den Stand gesetzt, alle Seiten ihres Talents, Gemüts und Geistes zu entfalten und uns das anziehende Gemälde feuriger, unruhiger, tätiger Leidenschaftlichkeit mit naiver, liebenswürdiger Jugendlichkeit, der lebhaftesten, entschlossensten Energie, mit empfindungsvoller, geistreicher Sanftmut und Anmut verschmolzen, vor die Seele zu bringen“15.

 

Hegel schildert dann, wie eine Schauspielerin (er meint Auguste Stich), die er schon als Julia in „Romeo und Julia“ bewundert hatte, die „reizende Verlegenheit“ der Figur namens Klothilde in “Die Bekehrten“ bei der Wiederbegegnung mit ihrem Geliebten Torquato spielt (II. Akt, 5. Szene).

„Stellung und Arme bleiben, das Auge, das man sonst in lebhafter Bewegung zu sehen gewohnt ist, wagt es zuerst nicht aufzusehen, seine Stummheit unterbricht hier und da ein nicht zum Seufzen werdendes Heben der Brust, es wagt einige verstohlene Blicke, die denen Torquatos zu begegnen fürchten, es drängt sich aber auf ihn, wenn die seinigen sich anderwärts hinwenden. Der Dichter ist für glücklich zu achten, dessen Konzeption von einer Künstlerin ausgeführt wird, die es für die Erzählung des Inhalts, der durch die Sprache ausgedrückt ist, überflüssig macht, mehr als die Züge der seelenvollen Beredsamkeit ihrer Gebärde anzugeben.“ 16

Hier macht also für Hegel das stumme Spiel der Schauspielerin, die „Beredsamkeit der Gebärde“, die Sprache überflüssig. Hegel weiß, was in einer Theateraufführung „reizt“ und „anzieht“. Es ist nicht das Wort.

In seiner ästhetischen Theorie ließ sich diese selbstständige Funktion des Theaters gegenüber dem Drama nicht unterbringen, in seiner Theatererfahrung musste er sie anerkennen.

  1. „Das Schöne bestimmt sich dadurch als das sinnliche Scheinen der Idee.“ G.W.F.Hegel, Werke in zwanzig Bänden. Theorie Werkausgabe Bd. 13 Ästhetik I. Frankfurt/ M: Suhrkamp, 1970, S.151
  2. „Das Drama muss, weil es seinem Inhalte wie seiner Form nach sich zur vollendeten Totalität ausbildet, als die höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt angesehen werden.“ Hegel, Bd. 15 Ästhetik III S. 474
  3. Bd. 15 Ästhetik III, S. 510
  4. „Denn die Rede allein (ist) das der Exposition des Geistes würdige Element … die dramatische Poesie (ist) diejenige, welche die Objektivität des Epos mit dem subjektiven Prinzip der Lyrik in sich vereinigt.“ Bd. 15 Ästhetik III, S. 474
  5. „fordert deshalb (…) die vollständige szenische Aufführung.“ S. 474
  6. Bd. 15 Ästhetik III, S. 505
  7. G.W.F. Hegel „Über die Bekehrten“. in: G.W.F.Hegel, Werke in zwanzig Bänden. Theorie Werkausgabe, Bd.11 Berliner Schriften 1818-1831, S.72-82
  8. in drei Teilen Berliner Schnellpost, 18. Jan. 1826 Nr. 8, 21. Jan. 1826, Nr.9, https://digitale-sammlungen.ulb.uni-bonn.de/periodical/pageview/1723191, https://digitale-sammlungen.ulb.uni-bonn.de/periodical/pageview/1723193 und Beiwagen zur Berliner Schnellpost, 23. Jan. 1826, Nr. 4 https://digitale-sammlungen.ulb.uni-bonn.de/periodical/pageview/1723203
  9. vgl: Artikel „Raupach, Ernst Benjamin Salomo“ von Max Bendiner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 430–445, Wikisource https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Raupach,_Ernst_Benjamin_Salomo&oldid=-
  10. Solche Handlungen waren typisch für Raupachs Lustspiele: „Diese Art und Weise, Personen, Charaktere und dadurch die Handlung gleichsam als Drahtpuppen von einem Menschen, der inmitten des Stückes steht und Alles überschaut, Alles voraussieht, leiten zu lassen, ist eine Lieblingsidee Raupach’s, die er in seinen Lustspielen besonders herausbildet; ja diese Idee wird zum Princip, auf dem er seine Lustspiele aufbaut.“ Max Bendiner, „Raupach, Ernst Benjamin Salomo“, in: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 27 (1988) S.442f https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Raupach,_Ernst_Benjamin_Salomo&oldid=-
  11. „Clotilde ist eine Pleureuse und Torquato ein Bleumourant….Das Talent des geschätzten Herrn Verfassers … gefällt sich zu sehr mit Außerweltlichem, mit Zufälligkeiten zu spielen. Sein Lustspiel fließt nicht aus der Quelle der heiteren Lebensverwirrungen … sondern aus der Disharmonie eines Gemütes in sich selbst, aus einer überschraubten Gewaltaufgabe eines blinden Zufalls“. Moritz Gottlieb Saphir, Berliner Schnellpost für Literatur, Theater und Geselligkeit 1826 No.3, S.11, https://digitale-sammlungen.ulb.uni-bonn.de/periodical/pageview/1723165
  12. Bd. 11 Berliner Schriften, S. 73
  13. Auch Eduard Devrient schätzt aus seiner eigenen Erfahrung als Schauspieler Raupachs Verdienst in der Förderung der Schauspielkunst: es sei „ganz bestimmt nachzuweisen, dass er die Talente {der Schauspielerinnen und Schauspieler} nicht nur benutzt und sich ihnen accomodirt, sondern durch seine Aufgaben ihre Entwicklung und Erweiterung entschieden gefördert hat.“ Eduard Devrient, Geschichte der deutsche Schauspielkunst. Neu-Ausgabe in zwei Bänden, Bd. II Berlin: Otto Elsner, 1905 {zuerst 1848-1874} S.281
  14. Devrient: „Seine dramatische Erzählung ‚Alanghu‘ wirkte nicht.“ S.190
  15. Bd.11, S. 77
  16. Bd. 11, S. 79

Aufmerksamkeit II – Erfahrungen bei Online-Theaterpremieren

Das Theaterstreaming in der Corona-Pandemie erreicht mehr Zuschauer, 10.000 statt 600 z.B. bei dem live-stream der Premiere von „Zauberberg“ des Deutschen Theaters Berlin am 20.11.2020, 1. Aber was ist die Qualität dieses Zuschauens?

Das gesellschaftliche Drumherum des Präsenz-Theaters ist auch ein Aufmerksamkeitssteigerungsmotor. Um zwei oder gar drei Stunden stumm in eine Richtung zu sehen, mit minimalen Blick- und Aufmerksamkeitsverschiebungen, braucht man Vorbereitung. Es braucht Kollektivität. Die gegenseitige Unterstellung der Erwartung im Foyer bringt den Aufmerksamkeitsmotor auf Betriebstemperatur. Alleine tut man so etwas nicht.

Aufmerksamkeit als Zahlungsmittel

Die Theater begeben sich mit dem Streaming von Aufführungen auf den großen Aufmerksamkeitsmarkt des Internets, in dem Aufmerksamkeit als Zahlungsmittel verrechnet wird 2. Die Knappheit des Guts der Aufmerksamkeit der Nutzer führt zum Wettbewerb um dieses knappe Gut. Aber nicht die Ware, der Content der Medienanbieter, wird entwertet, sondern das Zahlungsmittel, die Aufmerksamkeit 3. Sie wird vorgetäuscht, verdünnt, geteilt, zerstreut. Was kann man nicht alles nebenbei tun bei einem Videostreaming einer Theateraufführung: essen, Bier trinken, schlafen, Gymnastik treiben, telefonieren, Messages schreiben, in anderen Programmen stöbern, das Streaming-Bild als kleines Bildchen mitlaufen lassen.

Aufmerksamkeit als Geschenk

Ein Theaterbesuch ist kollektives Aufmerksamkeitschenken. Man erhält keine Aufmerksamkeit zurück. Es ist kein Tausch von Gleichem und keineswegs immer ein Tausch von Äquivalenten. Der Gedanken- und Sinneskitzel, den eine Theateraufführung bei den Zuschauern bewirkt, ist eine Gegengabe anderer Art. Das ist auch bei der gestreamten Aufführung so, aber wir schenken weniger. Irgendwie ist das Aufmerksamkeitsgeschenk an die leibliche Gegenwart eines Menschen gebunden. Im Internet sind wir Kunden, wir geben nur soviel, wie wir erhalten. Im Theaterraum sind wir Schenkende, wir verschwenden unsere Aufmerksamkeit. (Jedenfalls zeitweise, danach kommt der Theaterschlaf, für den der Theaterkritiker Henning Rischbieter berühmt war).

Der Zwang, in engen Reihen neben stinkenden Nachbarn, hinter turmhohen Ballerinaknoten oder breitgefächerten Lockenköpfen eingezwängt und zur Bewegungsstarre verurteilt stundenlang zu sitzen, – eine Einkerkerung, die so viele junge Menschen nicht aushalten, – ergibt einen minimalen Freiheitsgewinn: man kann seine Aufmerksamkeit fokussieren wie man will, linke Bühnenecke oder rechte, dieser Schauspieler oder jene Schauspielerin, jener gutaussehende Rücken in Reihe 5 oder jenes rätselhafte Detail des Bühnenbilds. Bei der gestreamten Aufführung wird mein Blick gelenkt. Mein Körper ist freier, aber meine Aufmerksamkeit ist eingezwängt auf einen Bildschirm, gelenkt durch Kameraführung, Schnitte und Bildbearbeitung.

Verteilte Aufmerksamkeit

Eine Theateraufführung erfordert vom Publikum eigentlich das, was man verteilte Aufmerksamkeit nennt4. Am besten ist, alles im Blick haben, alles wahrzunehmen, Bewegung, Licht, Sprache, Musik. Die ausschließliche Konzentration auf einen Bildschirm dagegen erfordert eine „vertiefte Konzentration“, die im 19. Jh. als Wurzel als der Geisteskrankheit, der Paranoia, verstanden wurde. Dem entziehen wir uns natürlich. Wir sind trainiert in zerteilter Aufmerksamkeit. Die wenden wir auch auf den Bildschirm an, kultivieren und steigern die Fähigkeit zur zerstreuten Wahrnehmung von Gleichzeitigem, die der Großstadtmensch sich angewöhnt hat 5. Aber die Intensität und Dauerhaftigkeit der Aufmerksamkeit nimmt ab. Es ist also nur konsequent wenn Pınar Karabulut ihre Online-Inszenierung von Marlowe/Palmetshofers „Edward II“ für das Schauspiel Köln6 in eine sechsteilige Serie zerstückelt. 20 bis 30 Minuten vor dem Bildschirm sind genug 7. Die kollektive, leibliche Gegenwart von Publikum und Schauspielern dagegen ermöglicht eine Steigerung der Aufmerksamkeitsdauer und -intensität, die in anderen Rezeptionssettings nicht zu erreichen ist.

Es ist also falsch, dem Theater eine altmodische, vertiefte Aufmerksamkeit zuzusprechen und dem gestreamten Internetereignis eine moderne, zerteilte Aufmerksamkeit. Das Präsenztheater trifft auf dieselben Menschen mit denselben Wahrnehmungsgewohnheiten wie das Distanzvideo. Doch die körperliche Ko-Präsenz und Kollektivität bringt eine Aufmerksamkeitssteigerung, die auf keinem anderen Weg zu erreichen ist. Körpern schenken wir Aufmerksamkeit, Pixeln schenken wir nichts. Körper erhalten unsere Aufmerksamkeit gratis, weil wir unterstellen, dass auch sie uns Aufmerksamkeit schenken können. Das tun wir auch dann, wenn wie im Theater der vierten Wand die Verabredung ist, dass sie uns keine Aufmerksamkeit zurückschenken, sondern in anderer Währung zurückzahlen, in der Währung gedanklich-sinnlicher Stimulation.

Wir-Intentionalität

Geteilte Aufmerksamkeit („shared intentionality“), die Fähigkeit, die Perspektive eines anderen auf etwas Drittes zu übernehmen, ist nach Michael Tomasello eine entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung der Gattung Mensch gegenüber den Primaten 8. Diese Wir-Intentionalität, die gemeinsam gerichtete Aufmerksamkeit auf die Bühne, diese grundlegende menschliche Disposition, ist der Grund des Vergnügens am kollektiven Theatererlebnis. Neben anderen in einem gemeinsamen Raum zu sitzen und mit derselben Intention auf dasselbe zu blicken, ist eine archetypische Situation der Menschlichkeit. Das kann die Bewegungsfreiheit vor dem heimischen Bildschirm nicht ersetzen.

  1. nach: Sophie Diesselhorst, „Gekommen um zu bleiben“. in: Theater heute 5/2021 S. 27
  2. „Die Reduktion der Aufmerksamkeit auf eine Währung erzeugt eine Art Seelenblindheit.“ Georg Franck, „Warum der Begründer der ‚Ökonomie der Aufmerksamkeit` immer noch goldrichtig liegt“. Interview mit Klaus Janke, Horizont 24.10.2017. https://www.horizont.net/medien/nachrichten/Georg-Franck-Warum-der-Begruender-der-oekonomie-der-Aufmerksamkeit-immer-noch-goldrichtig-liegt-162087
  3. vgl. Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit. München: Hanser, 1998
  4. Petra Löffler, Verteilte Aufmerksamkeit. Eine Mediengeschichte der Zerstreuung. Zürich-Berlin: Diaphanes, 2014, z. B. S 92-93
  5. „Zerstreuung als notwendige Aufmerksamkeitstechnik“ beim „Navigieren durch die moderne Signalwelt“ Löffler, S. 332
  6. https://www.schauspiel.koeln/spielplan/a-z/edward-die-liebe-bin-ich/
  7. vgl. G.P. „Im Irrgarten der Referenzen“, in: Theater heute 5/2021, S. 54-56
  8. „Human cooperative communication is more complex than ape intentional communication because its underlying social-cognitive infrastructure comprises not only skills for understanding individual intentionality but also skills and motivations for shared intentionality.“ Michael Tomasello, Origins of Human Communication. Cambridge, Mass: MIT Press, 2008, p.321

Theater und politische Theologie – Die zwei Körper des Königs

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Rezension der Einleitung von  Peter W. Marx, Macht |Spiele. Politisches Theater seit 1919. Alexander Verlag Berlin 2020, 223 S. 1

Peter W. Marx will mit seinem neuen Buch „Macht|Spiele. Politisches Theater seit 1919“ exemplarisch nachvollziehen, wie die verschiedenen „Denkfiguren“ sich entwickelt haben, mit denen die sich wandelnden staatlichen Machtverhältnisse in Deutschland seit dem Ende des ersten Weltkrieges auf den Theatern „bedacht“, in sinnlich anschaulicher Form betrachtet und untersucht werden. Dabei ist das Verhältnis von Theater(spiel) und Macht ein wechselseitiges: die Macht inszeniert sich in der Politik, stellt sich zur Schau und das Theater inszeniert Macht (und deren Selbstinszenierung) in der Fiktion auf der Bühne. Die „Spannung zwischen den Inszenierungen von Macht und Politik und den theatral-fiktiven Reflexionen“ 2 nennt Marx die „Grundachse“ seiner Darstellung. Die Konzentration der Darstellung der Geschichte des politischen Theaters in Deutschland auf diese Denkfiguren und ihre Konkretisation auf exemplarische Inszenierungen ist der große Vorzug diese Buches gegenüber anderen theatergeschichtlichen Darstellungen. 3. Peter W. Marx‘ Verständnis von Theatergeschichte als Sozialgeschichte wird durch diese konzentrierte Darstellungsweise bestätigt. Und da sie über faktenhuberische Nacherzählung von Vergangenem hinausgeht zur Darstellung intellektueller und politischer Strömungen, regt sie an und reizt zur Auseinandersetzung.

In seiner „Einleitung“ stellt Marx den theoretischen Ausgangspunkt seiner Untersuchungen dar. Dazu einige Anmerkungen:

Body politic – Staatskörper oder Politikerkörper?

Um die „Formen politischer Kommunikation“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu verstehen, beruft sich Marx auf Ernst H. Kantorowiczs historische Analyse der Theorie der zwei Körper des Königs 4. Marx findet bei Kantorowicz die Beschreibung einer „Praxis der sinnlichen Verdopplung des Herrscherkörpers“. Kantorowicz zeigt diese Praxis tatsächlich an vielen Beispielen von Herrscherbildern, Münzen, Gemälden, Trauerzügen 5, Grabplatten. Aber die Grundlage dafür bietet eine juristische Argumentation mittelalterlicher Rechtsexperten, die Kantorowicz in vielen Details nachzeichnet. Es geht in dieser Theorie, die vor allem bei den Juristen des elisabethanischen Englands eine Rolle spielte, um die juristische Sicherung der Kontinuität des Staates. Die imaginäre Verdopplung des Herrscherkörpers war ein notwendiges Stadium in der Herausbildung des Bewusstseins, was ein Staat ist, dass ein Staat besteht und nicht nur ein Herrscher herrscht.6

Für das abstrakte Gebilde des Staates, der aus einem Gefüge verschiedener Institutionen, Rechtsvorstellungen und Personen besteht, verwendete man seit den Römern 7 die Metapher des Körpers 8. Kantorowicz weist nach, wie christliche Theologie die Übertragung dieser Vorstellung auf die Monarchen Europas möglich machte. Kantorowicz zeigt aber auch, dass die Fortführung dieser mittelalterlichen Theorie in der Renaissance vor allem auf England beschränkt blieb und betont, dass dieses Theorie in Deutschland keine Rolle spielte. 9 Der englische Historiker Quentin Skinner bedauert, dass Kantorowicz seine Untersuchungen nicht über den Beginn des 17. Jh. hinaus fortgesetzt hat, denn dann hätte er die Ersetzung der Theorie der zwei Körper durch andere Begründungen der Staatlichkeit festgestellt 10 Marx aber überträgt die Theorie der zwei Körper des Herrschers auf Wilhelm II. Ihm sei es um die „Erzeugung eines virtuellen body politic“ gegangen, um die „mediale Verdopplung des Kaiserkörpers“. Marx interessiert also die mediale, bildliche Repräsentanz des Herrschers. Der „body politic“ im Sinne der englischsprachigen Staatstheorie ist aber das gesamte Staatswesen, nicht nur die medial vermittelte Präsentation eines Herrschers. Kantorowicz eindringliches Bild der zwei Körper eignet sich nicht, um die modernen Mechanismen der Darstellung von Macht zu analysieren. Die mittelalterliche Zwei-Körper-Lehre kann nicht gleichgesetzt werden mit der modernen Unterscheidung zwischen dem realen Körper von Regierenden und dessen Abbildung in den Medien. 11.

Deutschland war zur Zeit Wilhelms II. eine sich rasend schnell entwickelnde Nation mit vielfältigen, starken politischen Strömungen, einem hochentwickelten bürokratischen Apparat, dessen Modernität nur durch die glitzernde feudale Oberfläche verdeckt wurde – eine zutiefst heuchlerische staatliche Struktur 12, aber kein mittelalterliches Kaisertum und keine absolutistische Monarchie. Die Theorie, dass der Staat eine juristische Person ist, die „sich in und nicht über das Recht stellt“, also ein Rechtsstaat, in dem das Volk die letzte Quelle des Rechts ist und der Monarch nur ein Organ dieser Gesamtpersönlichkeit, war in der deutschen Rechtswissenschaft von Otto Gierke längst entwickelt worden, kam aber in der politischen Wirklichkeit nicht zum Zuge. 13.

Marx illustriert seine Auffassung mit dem bekannten, 1919 veröffentlichten Titelbild einer Illustrierten, das Reichspräsident Ebert und Innenminister Noske in Badehosen zeigt, und resümiert „Die Nacktheit des body natural disqualifiziert den neuen body politic.“ 14 Es geht also darum, wie das Bild der Körper der Repräsentanten des Staates von ihren Gegnern in der öffentlichen Auseinandersetzung durch die Medien eingesetzt wird. Die Körper-Metapher für den „unsterblichen“ Staat als Ganzes, der mit body politic in der Theorie der zwei Körper des Königs gemeint ist, spielt dabei eigentlich keine Rolle.

Vom Körper zum Staat und zurück

Peter W. Marx beruft sich auf Hans Beltings Rezeption der von Kantorowicz dargestellten Theorie der zwei Körper des Königs.15 Belting zeigt zu Recht, dass jeder menschliche Körper selbst ein Bild ist, noch bevor er in einem Bild nachgebildet wird 16. In Beltings Zusammenfassung von Kantorowicz’ Kapitel über „Effigies“ zeigt sich aber auch die terminologische Verwirrung. Eine „Effigies“ war eine Puppe, die bei der Beerdigung des Königs an Stelle des toten Herrschers die Insignien der Macht trug und zusätzlich zum Sarg beim Leichenzug mitgeführt wurde Diese Praxis war zunächst in England bei Edward II, dann im 16. und 17. Jahrhundert in Frankreich üblich. Belting schreibt, es gebe dabei „zwei Körper, die man in einer Amtsperson trennte, einmal um den natürlichen Körper, der sterblich war, und dann um den Amtskörper, der von einem lebenden Träger auf den nächsten übertragen wurde und dadurch Unsterblichkeit erlangte“ 17. Kantorowicz legte ausführlich dar, welche verschiedenen Begriffe für das, was Belting „Amtskörper“ nennt, im Umlauf waren: „corpus mysticum“, „universitas“, „corona“, „body politic“. Im Zusammenhang mit den effigies wird der Begriff dignitas verwendet. 18 Es ist die „Amtswürde“ (d.h. dignitas), wie Belting zwei Sätze später schreibt, die vom Körper des verstorbenen Königs auf die Puppe, die effigies, übertragen wird. Kantorowicz selbst greift auf die Metapher des „body politic“ zurück, wenn er anschließend schreibt „Die im lebenden Körper vereinten zwei Körper wurden nach seinem[des Königs] Ableben sichtbar getrennt.“ 19 Das immer vielfältiger sich ausbildende Gemeinwesen mit seinen Institutionen war immer noch an die Person des Herrschers gebunden. Das Abstraktum des Staates musste in einem menschlichen Körper sichtbar gemacht werden, so wurde „Körper“ (body) der anthropomorphe Begriff für dieses abstrakte Gemeinschaftsgebilde . Belting zeigt an vielen historischen und aktuellen Beispielen die Krise des Körperbildes und ihre Reflexion in der Kunst. Die Theorie der zwei Körper des Königs aber ist eine lange überwundener Phase der Entwicklungsgeschichte des Begriffs des Staates. Der moderne Staat wird nicht mehr verkörpert in einer Person. Er hat nur Repräsentanten, gewählte Personen, deren Körperbilder in der visuellen Kommunikation den allgemeinen Mechanismen des Bildermarktes unterliegen.

In seinem Kapitel über weibliche Machtfiguren auf dem Theater („Die Provokation des Female Body Politic“)20 wendet Marx den Begriff „body politic“ auf die äußere Erscheinung einer Person der Macht an: es geht um die Frisuren des Bundeskanzlers Schröder und der Bundeskanzlerin Merkel. Dass die Darstellung des Körpers von Politikern in den Medien einer demokratischen Gesellschaft eine Rolle spielt, ist offensichtlich. Dass die Darstellung des Körpers von Politikerinnen (und ihrer Selbstdarstellung) den Mechanismen einer patriarchalischen Tradition ausgesetzt ist, ist auch erkennbar und bedauerlich. Aber Politiker sind keine Könige und Politikerinnen keine Königinnen.

Die Karriere eines mittelalterlichen theologischen Begriffes, der in der Renaissance von den Juristen zur Unterscheidung zwischen dem Herrscher und dem Staatswesen ausgebaut wurde, auf dem Theater ist erstaunlich 21. Die Bemühungen der Juristen, aus undeutlichen Metaphern saubere Rechtsbegriffe zu bilden, werden zurückgeführt auf ihren bildlichen Ursprung. Das ist ein Beispiel für die krummen Wege der Visualisierung gesellschaftlicher Kommunikation.

Wer antwortet auf Carl Schmitt?

Peter Marx stellt Max Weber und Carl Schmitt als die beiden Repräsentanten des politischen Staatsverständnisses der Weimarer Republik gegenüber. 22 Peter Marx findet diesen Gegensatz aber auch noch in der Bonner Republik und führt dafür das bekannte Böckenförde-Diktum an, dass der Staat auf Voraussetzungen beruhe, die er nicht garantieren könne. Böckenförde hat wirklich das Kunststück vollbracht, Carl Schmitts Theorie des Politischen und seine Staatstheorie liberal zu interpretieren und als Verfassungsrichter in eine liberale Entscheidungspraxis umzusetzen.23 Das berühmte Böckenförde-Diktum war von ihm vor allem als Appell an die Christen gedacht, die Erhaltung der Freiheit durch den Staat auch als ihre Aufgabe zu betrachten 24. Böckenförde war schließlich auch ein SPD-Politiker. Er war der seltene Fall eines liberalen katholischen Staatsrechtlers, der auch bereit war, sich gegen die Kirchenhierarchie zu stellen.

Aber Böckenfördes Diktum ist weniger eine „Antwort auf Carl Schmitt“ 25 als dessen Fortsetzung unter den Bedingungen der Bonner Republik. Böckenförde verstand sich als Schüler Schmitts. Er berief sich dabei natürlich nur auf dessen Arbeiten in der frühen Weimarer Republik, nicht auf seine NS-Traktate in den ersten Jahren des Dritten Reiches. Aus Schmitts schroffer Ablehnung jeder Art von Pluralismus wird dabei bei Böckenförde der vorsichtige Hinweis auf eine „relative Homogenität“ als Voraussetzung des Staates 26. Als Antwort auf Carl Schmitt kann man eher die Theorie Chantal Mouffes verstehen, die Schmitt zustimmt in der Anerkennung der Notwendigkeit einer Homogenität in einer Demokratie (die sie dann um der Abgrenzung von Schmitt willen „commonality“ nennt). Aber für sie ist diese Homogenität das Ergebnis eines Prozesses in einem Konfliktfeld widerstreitender Kräfte. 27. Diese Theorie wird auch des Öfteren zur Rechtfertigung die Konflikte zuspitzenden Konzepte des aktuellen politischen Theaters verwendet 28.

 

 

  1. Der Begriff der „politischen Theologie“ wird hier in Anlehnung an Carl Schmitts Aufsatz, Politische Theologie.Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. zuerst 1922 (2021. 11., korr. Aufl. 72 S.) verwendet. Er bezieht sich nicht auf die in der protestantischen Theologie debattierte Zwei-Reiche-Lehre. Vgl. Martin Luther, Von weltlicher Obrigkeit (1523). https://www.projekt-gutenberg.org/luther/weltobri/weltobri.html
  2. Marx, S.8
  3. Siegfried Melchinger, Geschichte des politischen Theaters. Velber: Friedrich Verlag, 1971 oder Manfred Brauneck, Die Deutschen und ihr Theater. Kleine Geschichte der „moralischen Anstalt“ oder ist das Theater überfordert? Bielefeld. transcript Verlag, 2018
  4. Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München: dtv, 1990. zuerst engl. Princeton 1957
  5. vgl. das Kapitel „Le Roy est mort“ bei Kantorowicz S. 405-432, das die Begräbnisriten der französischen Könige beschreibt
  6. So versteht auch Ernst Vollrath Kantorowiczs Formel der zwei Körper des Königs, als eine Zwischenstufe in der Herausbildung des modernen Begriffs des Staates. Vollrath nennt den überindividuellen Körper des Königs, die „Anstaltsperson“, die im Prozess der Herausbildung des Staates den Personencharakter verliert und zur reinen „Anstalt“ wird. Zur Herausbildung des Staates als eines modernen politischen Verbandes gehört die Auflösung der „Doppelpersonalität“.  „Person und Institution beginnen sich zu unterscheiden, zuerst noch personal, aber das wird zur Voraussetzung, dass sie sich auch institutionell voneinander trennen, was allerdings bei Kantorowicz nicht vollzogen wird.“ S. 210. Ernst Vollrath, Was ist das Politische? Eine Theorie des Politischen und seiner  Wahrnehmung. Würzburg: Königshauses & Neumann, 2003, S.100f, 210
  7. Livius berichtet von der Fabel des Menenius Agrippa: „tempore quo in homine non ut nunc omnia in unum consentiant, sed singulis membris suum cuique consilium, suus sermo fuerit, indignatas reliquas partes sua cura, suo labore ac ministerio ventri omnia quaeri, ventrem in medio quietum nihil aliud quam datis voluptatibus frui; conspirasse inde ne manus ad os cibum ferrent, nec os acciperet datum, nec dentes quae acciperent conficerent. Hac ira, dum ventrem fame domare vellent, ipsa una membra totumque corpus ad extremam tabem venisse. Inde apparuisse ventris quoque haud segne ministerium esse, nec magis ali quam alere eum, reddentem in omnes corporis partes hunc quo vivimus vigemusque, divisum pariter in venas maturum confecto cibo sanguinem. Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres, flexisse mentes hominum.“ Livius, Ab urbe condita2, 32. https://www.thelatinlibrary.com/livy/liv.2.shtml
  8. A. Koschorke, S. Lüdemann, T. Frank, E. Matala de Mazza, Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas. Frankfurt/M: Fischer, 2007. zeichnen diese Entwicklung der politischen Metaphorik detailliert nach.
  9. „Doch scheint es, dass der Begriff der ‚zwei Körper’ des Königs nicht von der frühen Entwicklung und der dauernden Triebkraft des Parlaments im englischen Verfassungsdenken und seiner Praxis zu trennen ist.“ und „Ein deutscher Fürst hatte sich in einem abstrakten Staat einzurichten. Jedenfalls fehlte die Theorie der ‚zwei Körper’ des Königs in all ihrer Kompliziertheit und manchmal skurrilen Konsequenz auf dem europäischen Kontinent so gut wie völlig.“ Kantorowicz S.440. Nur in einer einzigen Fußnote verweist Kantorowicz auf das Deutschland des 20. Jahrhunderts. Dabei geht es um die Eidesformel „pro rege et patria“, die feudale (rege) und staatliche (patria) Pflichten verbindet. Kantorowicz schreibt: „Die Formel pro rege et patria (Für König und Vaterland), die sich in der preußischen Armee bis in die jüngste Vergangenheit erhalten hat, brachte 1918 sich widersprechende Pflichten mit sich, als die Offiziere sich erst nach der Flucht Wilhelms II. nach Holland frei fühlten, der res publica zu dienen, nachdem ihre ‚feudalen‘ Treueide obsolet geworden waren. Eine ähnliche Situation entstand 1945, als der persönliche Eid sie der patria verpflichtete.“ S. 267 Anm. 204
  10. „Kantorowicz trieb seine Erforschung der englischen Quellen nicht weiter als bis zu den letzten Jahrzehnten des ausgehenden 16. Jahrhundert. Angesichts seines im Vorwort angekündigten umfassenden Vorhabens, zu einem Verständnis der Ursprünge und der Mythologie des modernen säkularen Staates beizutragen, überrascht es allerdings, dass er gerade an diesem Punkt damit aufhörte. Hätte er seine Forschungen englischer Quellen noch über eine Generation weiter vorangetrieben, würde er in den englischsprachigen Diskussionen über das Verhältnis zwischen dem politischen Körper von Königen und dem corpus Politikum ihrer Untertanen auf einen epochemachenden Augenblick gestoßen sein. Er wäre an den Punkt gelangt, an dem man vielerorts damit begann, den Körper, von dem es hieß, dass Könige über ihn herrschen, erstmals als den Körper des Staates zu beschreiben.“ Quentin Skinner, Die drei Körper des Staates. Frankfurt: Wallstein, 2012, S.14. Dem Essay Skinners liegt seine Kantorowicz Lecture vom Mai 2011 an der Goethe-Universität Frankfurt zugrunde.
  11. Susanne Lüdemann macht deutlich, dass diese Herrschaftstechnik schon bei Machiavelli angelegt ist und im 17. Jahrhundert bedeutsam wurde, und zeigt die Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser beiden Zwei-Körper-Theorien: „In gewisser Weise ist auch diese Dichotomie zwischen (zu verbergender) Wirklichkeit und (verbergendem) Schein eine politische Zwei-Körper-Lehre: nur dass an die Stelle des unsterblichen und symbolischen Körpers des Königs sein medialer und imaginärer Leib getreten ist.“ A. Koschorke e.a. S. 156
  12. vgl. Fritz Stern „Geld, Moral und die Stützen der Gesellschaft“, in: Das Scheitern illiberaler Politik. Studien zur politischen Kultur Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin: Ullstein-Propyläen, 1974, zuerst engl. 1970
  13. Thomas Frank, „Der Staat als juristische Person“, in: Koschorke e.a. Teil V, S. 374
  14. Marx, S. 14
  15. Marx, S. 12
  16. „Der Körper ist selbst ein Bild, noch bevor er in Bildern nachgebildet wird. Die Abbildung ist nicht das, was sie zusein behauptet, nämlich Reproduktion des Körpers. Sie ist in Wahrheit Produktion eines Körperbildes, das schon in der Selbstdarstellung des Körpers vorgegeben ist.“ Hans Belting, „Das Körperbild als Menschenbild. Eine Repräsentation in der Krise“, in: H.B., Bild-Anthropologie. Paderborn: Fink, 2001, S.89
  17. Belting S.96f
  18. Kantorowicz zitiert den französischen Legisten Pierre Grégoire: „Nam ipse non est dignitas: sed agit personam dignitatis.“ Kantorowicz S. 417
  19. Kantorowicz, S.418
  20. Marx, S.119-203
  21. vgl. z.B. Luise Vogts Inszenierung von Shakespeares „König Lear“ im Schauspiel Bonn 2019, https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=17734:koenig-lear-theater-bonn-luise-voigt-verdoppelt-den-koerper-des-koenigs-und-uebersetzt-shakespeares-pessimistischste-tragoedie-in-eine-abfolge-stilisierter-vorgaenge&catid=38&Itemid=40. Ursächlich für die extensive Rezeption des Buches von Kantorowicz in den Theatern ist wahrscheinlich auch, dass er die Theorie der zwei Körper der Königs zunächst an einem Drama, Shakespeares „Richard II.“, demonstriert.
  22. Max Weber war als Soziologe aber gar nicht Carl Schmitts Gegner, das war eher der Staatsrechtler Hans Kelsen, gegen den Schmitt in seiner Schrift „Politische Theologie“ von 1922 polemisiert. Carl Schmitts Begründung des politischen als „transzendental“ zu bezeichnen, trifft aber seine Theorie nicht genau. Mit Kants Begriff von Transzendentalität, der die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis meint, hat Schmitts Theorie des Politischen jedenfalls nichts zu tun. Eher könnte man sie als eine anthropologische durch den Freund-Feind-Gegensatz begründete Theorie nennen.
  23. vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts“ (zuerst 1988), in: E.-W.B., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1991 , S.344-366.
  24. Böckenförde, a.a.O S.114
  25. Marx S.16
  26. Böckenförde, S.346, 366
  27. Chantal Mouffe, „Schmitt and the Paradox of Liberal Democracy“ (zu erst 1997) in: The Democratic Paradox. London: Verso 2005, p.56
  28. vgl. Florian Malzacher, Gesellschaftsspiele. Politisches Theater heute. Berlin: Alexander Verlag, 2020, S.12-14

Hegel und das Theater

Die Herausgeber des Sonderhefts „Drama, Theatre, and Philosophy“ der Zeitschrift Anglia1 nennen Hegels Ästhetik einen passenden Ausgangspunkt für ihr Heft. Dazu zitieren sie Hegels Formel vom Drama als der „höchste[n] Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt“ 2. Diese Formel wird gelegentlich umstandslos verfälscht und auf das Theater bezogen 3. Die Herausgeber zitieren natürlich richtig und ergänzen Hegels Hinweis, dass das Drama, „damit das ganze Kunstwerk zu wahrhaftiger Lebendigkeit komme, die vollständige szenische Aufführung desselben“ fordere.4. Sie gehen jedoch nicht darauf ein, dass Hegel die Unterordnung aller Elemente der szenischen Aufführung unter das Wort fordert. So schreibt er über die Schauspielerkunst:

„Ihr Prinzip besteht darin, daß sie zwar Gebärde, Aktion, Deklamation, Musik, Tanz und Szenerie herbeiruft, die Rede aber und deren poetischen Ausdruck als die überwiegende Macht bestehen lässt.“ 5

Von der „von der Poesie unabhängigeren theatralischen Kunst“ 6 hat er keine gute Meinung. Entweder macht sich der Schauspieler unabhängig vom Dichter, dazu geben ihm aber nur die „unbedeutenden, ja ganz schlechten Produkte“ der Dramatiker Gelegenheit oder es geht um die Oper, deren „sinnlicher Pomp (…) ein Zeichen von dem bereits eingetretenen Verfall der echten Kunst ist“ 7 oder es geht um Ballett, aus dem gerade das verschwinde, „was dasselbe in das freie Gebiet der Kunst hinüberzuheben allein imstande sein könnte“ 8.
Wenn man Hegel als Ausgangspunkt für eine Diskussion des Verhältnisses von Philosophie und Theater nehmen wollte, müsste man auch Hegels Bestimmung des Zwecks der Kunst akzeptieren:

„Der Zweck der Kunst ist die durch den Geist hervorgebrachte Identität, in welcher das Ewige, Göttliche, an und für sich Wahre in realer Erscheinung und Gestalt unsere äußere Anschauung für Gemüt und Vorstellung geoffenbart wird.“ 9.

Das Theater als eine Form der Kunst ist eine Offenbarung des an und für sich Wahren für unsere äußere Anschauung – das wäre eine hegelianische Bestimmung des Theaters. 10(öffnet in neuem Tab)

  1. David Kornhaber/Martin Middeke, „Drama, Theatre, and Philosophy: An Introduction“. in: Anglia. Journal of English Philology. Zeitschrift für Englische Philologie. Special Issue Drama, Theatre, and Philosophy. Vol.136 (2018), 1, pp.1-10
  2. Hegel, Ästhetik III. =Werke Bd. 15, p. 474
  3. Schauspielschule Athanor (Passau): “Das Theater {sic!} muß, weil es seinem Inhalte wie seiner Form nach sich zur vollendetesten Totalität ausbildet, als die höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt angesehen werden.” https://www.athanor.de
  4. ibid. p. 474
  5. p.510
  6. p. 515
  7. p. 517
  8. p. 518
  9. p. 572f
  10. siehe auch meinen Beitrag: https://theatermarginalien.com/2021/05/10/mit-hegel-im-theater/

Nachtrag zu „Über personale Identität“. Drei Literaturhinweise

harari, Runciman & Macfarlane

Über personale Identität: Widerstandsromane auf deutschsprachigen Bühnen

Analysen der schwindenden Fähigkeit der Menschen, sich heute als eine einheitliche, mit sich selbst gleich bleibende Person zu verstehen, gibt es zuhauf. Hier drei Beispiele:

Zunächst David Runcimans politische Diagnose in der Auseinandersetzung mit Derek Parfit:

„Derek Parfit hat argumentiert [Derek Parfit, Reasons and Persons. Oxford 1984], dass unser Festhalten an der Illusion einer einzigen persönlichen Identität im Verlaufe unserer Lebenszeit etwas ist, das unsere moralische und politische Vorstellungskraft lähmt. Wir glauben instinktiv, dass wir mehr gemeinsam haben mit der Person, die wir in zwanzig Jahren sein werden, als mit der Person, die gerade jetzt neben uns sitzt. Parfit meint, das sei falsch: wir sind mit unseren zukünftigen Ichs genauso wenig verbunden, als wenn physischer Raum zwischen uns läge. Ich bin nicht das Ich, das ich in der Zukunft sein werde. Wir sind zwei wesentlich getrennte Personen.
Wenn wir das nur einsehen würden, könnten wir anfangen unsere moralischen Prioritäten neu zu ordnen. Erstens würden wir uns mehr um unsere Nachbarn sorgen und um Menschen in größerer Entfernung von uns, wenn man bedenkt, wieviel Zeit wir dafür aufwenden, uns nur um uns selbst zu sorgen. Zweitens würden wir mehr Vorsorge dafür treffen, dass wir nicht Menschen, die noch nicht existieren, Schaden zufügen (zum Beispiel indem wir natürliche Ressourcen verschwenden). Wenn es falsch ist, die Person zu verletzten, die neben mir sitzt, ist es ebenso falsch, mein oder dein zukünftiges Ich zu verletzen. Eine nicht integrierte Persönlichkeit (disaggragated personhood) würde uns zu besseren und verantwortlicheren Menschen machen, als wir es jetzt sind.
Bisher gibt es keine Anzeichen, dass die Informationstechnologie diese Wirkung hat. Parfit schrieb das in der Mitte der 80er Jahre, bevor die digitale Revolution in Gang kam. Seine Argumente setzten einen Rückhalt in relativer politischer Stabilität voraus: unter Bedingungen ruhiger philosophischer Überlegung sollten wir erkennen, was wir einander und unseren zukünftigen Ichs schuldig sind. In anderen Worten: erst stabilisieren wir uns, dann nehmen wir unsere Identitäten auseinander, dann setzten wir unser moralisches Universum wieder zusammen. Zur Zeit läuft dieser Prozess in umgekehrter Reihenfolge ab: erst nehmen wir unsere Identitäten auseinander, dann destabilisieren wir uns, dann sehen wir, ob noch irgendetwas von dem moralischen Universum, das wir gebaut haben, übrig ist. Unsere Persönlichkeiten werden auf viele kleine Arten fragmentiert, Stück für Stück: Gesundheitsdaten dort, Whatsapp hier, Twitter plappert im Hintergrund daher – ohne dass uns eine gemeinsame Übersicht geben würde, was eigentlich vorgeht. Das passiert nicht in einem philosophischen Seminar. Das ist gelebte menschliche Erfahrung, die ruhige Überlegung fast unmöglich macht. In der Gegenwart zerfasert uns die Technologie mehr, als dass sie uns befreien würde.“ 1

Diese „disaggregated selfs“ sind dann zweitklassige Opfer einer technokratischen Elite. Das ist jedenfalls eine der Gefahren, die nach Runciman nach dem Ende der Demokratie auf uns zukommen werden.

Eine einerseits grundsätzliche, andererseits aktuell verschärfte Kritik an der Vorstellung eines einheitlichen Subjekts, das sich selbst seine eigene Geschichte erzählen kann, liefert Yuval Noah Harari:

„Wollen wir uns selbst verstehen, so müssen wir vor allem anerkennen, dass das ‚Ich‘ eine fiktionale Geschichte ist, welche die verzweigten Mechanismen unseres Geistes fortwährend herstellen, aktualisieren und umschreiben. In meinem Kopf steckt ein Geschichtenerzähler, der erklärt, wer ich bin, woher ich komme, wohin ich will und was jetzt gerade geschieht. Wie die Imageberater der Regierung, die die neuesten politischen Wendungen erklären, versteht auch der innere Erzähler Dinge wiederholt falsch, gibt das aber, wenn überhaupt, nur selten zu. Und so wie die Regierung einen nationalen Mythos mitsamt Flaggen, Ikonen und Paraden schafft, so erzeugt meine innere Propagandamaschine einen persönlichen Mythos mit verklärten Erinnerungen und verbrämten Traumata, die oftmals wenig Ähnlichkeit mit der Wahrheit haben. (S.394f)
Wenn Sie sich also wirklich selbst verstehen wollen, sollten Sie sich nicht mit ihrem Facebook-Account oder mit der inneren Erzählung des Ichs identifizieren. Stattdessen sollten Sie den tatsächlichen Fluss von Körper und Geist wahrnehmen. Sie werden sehen, wie Gedanken, Emotionen und Sehnsüchte auftauchen und wieder verschwinden, ohne wirklichen Grund und ohne Befehl von Ihrer Seite, so wie unterschiedliche Winde aus dieser oder jener Richtung wehen und Ihre Haare durcheinanderbringen. Und so wie Sie nicht die Winde sind, so sind Sie auch nicht das Gewirr aus Gedanken, Emotionen und Wünschen, die Sie erleben, und Sie sind mit Sicherheit nicht die bereinigte Geschichte, die Sie darüber rückblickend erzählen. Sie erleben alle diese Dinge, aber Sie kontrollieren sie nicht. Sie besitzen sie nicht und Sie sind sie nicht. Die Menschen fragen: ‚Wer bin ich?‘ und erwarten, dass sie eine Geschichte zu hören bekommen. Das Erste, was Sie über sich selbst wissen müssen, ist: Sie sind keine Geschichte.“2

Harari bietet auch eine, zumindest vorläufige Lösung an: Meditation sei der Weg, sich der Arbeitsweise des eigenen Geistes zu versichern, bevor die Algorithmen uns besser verstehen als wir uns selbst.

Eine andere Lösung bietet Robert Macfarlane: den Kontakt mit der ungezähmten Natur. Das ist allerdings eher ein Sehnsuchtszenario als ein praktizierbares sozialpsychologisches Rezept:

„Wir finden es als Gattung zunehmend als schwierig, uns vorzustellen, dass wir Teil von etwas sind, das größer ist als unsere Fähigkeiten. Wir haben einen häretischen Hochmut akzeptiert, einen humanistischen Glauben an den menschlichen Unterschied, und wir unterdrücken die Kontrollmechanismen, denen wir unterworfen sind, wo wir können – die Erinnerungen daran, dass die Welt größer ist als wir oder dass wir in ihr enthalten sind. An fast jeder Front haben wir begonnen uns abzuwenden von einer gefühlten Beziehung zur natürlichen Welt.
Die Blendung der Sterne ist nur ein Aspekt dieses Rückzugs vom Wirklichen. Auf so viele Weise gab es einen Aufbruch des Lebens weg vom Ort, eine Abstraktion der Erfahrung zu verschiedenen Arten von Fühllosigkeit. Wir erfahren wie keine Generation zuvor Entkörperung und Entmaterialisierung. Die fast unendliche Verknüpftheit der technologischen Welt, trotz aller Vorteile, die sie gebracht hat, hat einen Zoll gefordert in der Währung des Kontakts. Wir haben auf vielfache Weise vergessen, wie die Welt sich anfühlt. Und so sind neue Krankheiten der Seele entstanden, Unglücklichkeiten, die die komplizierten Produkte der Distanz, die wir zwischen uns und die Welt gelegt haben, sind. Wir haben zunehmend vergessen, dass unsere Gedanken von der körperlichen Erfahrung, in der Welt zu sein, geformt werden – von ihren Räumen, Oberflächen, Klängen, Gerüchen und Gewohnheiten – genauso wie von den genetischen Eigenschaften, die wir erben, und den Ideologie, die wir aufnehmen. Ein ständiger und entscheidend uns bestimmender Austausch findet statt zwischen den physikalischen Formen der Welt um uns und der Formung unserer inneren Vorstellungswelt. Das Gefühl eines heißen trockenen Windes im Gesicht, der Geruch von entferntem Regen, der als ein Duftstrom in der Luft zu uns getragen wird, die Berührung durch den scharfen Fuß eines Vogels auf unserer ausgestreckten Hand: solche Begegnungen formen unser Wesen und unsere Phantasien in Weisen, die man nicht weiter analysieren, aber auch nicht bezweifeln kann. Es gibt etwas unkompliziert Wahres in dem Gefühl, das man hat, wenn man die Hand auf einen sonnengewärmten Felsen legt, oder in der Beobachtung eines dichten, sich verändernden Vogelschwarms oder zuzusehen wie Schnee unwiderlegbar auf unsere nach oben gewandte Handfläche fällt.“ 3

Auch wenn die Analysen sehr unterschiedlich sind – Zerstreuung durch digitale Medien, Unkenntnis der Arbeitsweise des eigenen Geistes, Verlust des Kontakts zum Körper und zur Natur – gemeinsam ist der Modus der Klage über die verlorene Stabilität des Selbstverständnisses. Auf das vage Gefühl eines Verlustes antwortet die Präsentation stabiler fiktiver oder historischer Identitäten. Je brutaler das Gesellschaftssystem, desto gestählter muss die Identität der Widerständler sein. Widerstand leisten wollen heute Wenige, aber dem allgemeinen Unbehagen an der Identitätsdiffusion entkommen, möchten Viele. So erklärt sich vielleicht die Konjunktur von dramatisierten Widerstandsromanen auf den deutschen Theatern.

  1. David Runciman, How Democracy Ends. London: Profile Books, 2018 (Übers. G.P.)
  2. Yuval Noah Harari, 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. München: C.H.Beck, 2018 (zuerst engl.: 21 Lessons for the 21st Century. 2018), S.395f
  3. Robert Macfarlane, The Wild Places. London: Granta, 2017, p. 203 (Übers. G.P.)

Wem gehört das Theater? Wie Carl Philip von Maldeghem einmal Intendant des Schauspiels Köln werden sollte

Plötzlich ist alles wieder vorbei. Am 1. Februar teilte Carl Phlip von Maldeghem per Pressererklärung mit, dass er die Intendanz des Schauspiels Köln, für die er von der Stadtverwaltung auserwählt worden war, doch nicht antreten werde 1. Was bleibt, ist die Diskreditierung der Kölner Stadtverwaltung, insbesondere der Kulturdezernentin Susanne Laugwitz-Aulbach, die noch am 31. 1. die Wahl von Maldeghems verteidigt hatte mit dem Argument, er stehe „für einen freien und innovativen Kulturbegriff“. 2. Maldeghem fasst die Kritik an seinen Plänen so zusammen: „Ein ‚Theater der Teilhabe‘, das sich ‚ohne ästhetische und künstlerische Scheren im Kopf an ein möglichst breitgefächertes Publikum‘ wende, scheine in Köln nicht gewollt gewesen zu sein.“ 3. Der folgende Kommentar wurde im Wesentlichen vor dem Rückzug Maldeghems geschrieben.


 

So verwunderlich, wie die meisten Kommentatoren meinen, war die Entscheidung für Carl Philip von Maldeghem, bisher Intendant des Landestheaters Salzburg, als neuem Kölner Schauspielintendanten ab der Spielzeit 2021/22 nicht. Sie reiht sich ein in eine Folge von Entscheidungen der Stadt, Schauspielintendanten von kleineren Theatern nach Köln zu holen, so Klaus Pierwoß (1985-1990 kam aus Tübingen) und Marc Günther (2001-2006 kam aus Bozen). Pierwoß hatte ein hervorragendes Dramaturgenteam (u.a. Joachim Lux), ihm gelang es den Publikumszuspruch stabil zu halten, aber er erreichte nur wenig überregionale Aufmerksamkeit. Die Verpflichtung von Frank Castorf für seine erste Inszenierung im Westen wurde ihm erst nachträglich als Verdienst angerechnet. Marc Günther konnte zwar mit einem Bündel von interessanten jungen Regisseuren aufwarten, die aber alle in Köln ihre schlechtesten Arbeiten ablieferten und wieder verschwanden. Und als Regisseur scheiterte Günther katastrophal.

Wahrscheinlich war das Interesse der Stadtverwaltung, die ja immerhin von dem vielerfahrenen Rolf Bolwin beraten wurde, weniger auf den Regisseur als auf den soliden Organisator Maldeghem gerichtet. Die Beispiele seiner Kölner Vorgänger zeigen, dass ein nicht-regieführender Intendant in der Lage sein muss, ein kreatives und kooperatives Klima an seinem Haus zu schaffen und dazu muss er selbst künstlerische Ziele verfolgen. Als Regisseur scheint Maldeghem ja vor allem Erfahrungen im Unterhaltungstheater (Stuttgarter Schauspielbühnen, Musical-Inszenierungen in Salzburg) zu haben. Das hätte ihm in Köln, wo das Schauspiel doch ein anspruchsvolleres Publikum hat, wenig genutzt.

Vielleicht wäre von Maldeghem in Bonn besser aufgehoben, dort versucht die Stadt ja gerade das Theater klein zu sparen, damit man – nach dem Vorbild Salzburgs – ein großes Beethoven-Festival stemmen kann. Von Mozart zu Beethoven, das wäre doch wenigstens eine chronologisch naheliegende Entwicklung.

OB Rekers Begründung der Wahl Maldeghems

Erstaunlich an der Wahl von Maldeghems war vor allem die Begründung der Stadtverwaltung. Oberbürgermeisterin Reker begründete ihre Entscheidung für Maldeghem damit, dass er gesagt habe, „das Theater gehört nicht der Politik, schon gar nicht der Stadtspitze, sondern den Kölnerinnen und Kölnern.“ 4. Was ist das für ein Kriterium für die Wahl eines Intendanten? Heißt das, es gibt Intendanten, die meinen, das Theater gehöre der Politik? Oder eher, dass es Intendanten gibt, die meinen, das Theater gehöre ihnen selbst? Was ist das für ein Verständnis von Politik? Was für ein Verständnis von kommunaler Selbstverwaltung? Wie könnte der Politik etwas gehören? Oder wie könnte der Stadtspitze eine kommunale Einrichtung gehören? Ist die Oberbürgermeisterin nicht von den Kölnerinnen und Kölnern gewählt, damit sie für sie handelt?

In der Negation auf die populistische Kritik der repräsentativen Demokratie einzugehen, befördert nur ihre Affirmation. Das Denkmuster, den Politikern gehöre der Staat, wird auch in der Negation bestätigt, weil kein anderes Muster angeboten wird. Man traut sich nicht mehr zu sagen, das Theater der Stadt dient dem Wohl aller Bürger der Stadt, auch wenn nicht alle hingehen. Das „gehören“, der Begriff des Eigentums, ist völlig falsch für die Bestimmung des Verhältnisses von Bürger und Staat. Man benötigt die Begriffe von Repräsentation, der Vertretung, der Delegation von Macht, um dieses Verhältnis zu kennzeichnen.

Eine Bürgerbühne für Köln

Zu den wenigen Aussagen Maldeghems über seine künftigen Pläne für das Kölner Schauspiel gehörte, dass er eine Bürgerbühne einrichten wolle. Damit würde Köln nur nachholen, was seit Volker Löschs Inszenierung von Hauptmanns „Die Weber“ in Dresden 2001 sich an vielen Bühnen entwickelt hat. Wilfried Schulz hat auch in der Nachbarstadt Düsseldorf eine solche Bürgerbühne etabliert. So sehr es verständlich ist, dass die Theater mit diesem Mittel ihr Publikum an sich binden wollen, denn das Stadttheater steckt in einer Legitimationskrise und leidet unter Zuschauerschwund (der nur durch die Überproduktion, durch die Zunahme von Projekten der „Fünften Sparte“ verdeckt wird) 5, so ordnet sich dieses Format doch auch in die gesellschaftliche Entwicklung ein, deren Resultat der Populismus ist.

In einer Gesellschaft, in der das Theater in Konkurrenz zu einer Vielzahl von Unterhaltungs- und Bildungsmedien steht, die jeweils ihre eigenen Marketingstrategien entwickeln, muss auch das Theater Marketing betreiben. Den Reiz, den es hat, selbst auf der Bühne zu stehen, können die Stadttheater natürlich nutzen (sollte dann aber auch über eine Therapie zur Vitalisierung von Rentnern hinausgehen). Dass es im Theater immer ein Überangebot von Darstellern gegenüber einem Mangel an Zuschauern gibt, liegt wohl an der tiefen anthropologischen Verwurzelung des Bedürfnisses, vor anderen eine Rolle zu spielen. Schauspieler war nie ein Mangelberuf. Aber die Rechtfertigung dieser Bürgerbühnenprojekte geht oft über die Befriedigung dieses Bedürfnisses, das sonst die vielen Laientheatergruppen bedienten, hinaus und würdigt die Zuschauer herab. In der Darstellung der Bürgerbühne des Rostocker Volkstheaters z.B. heißt es: „Das Ziel ist es, die Bürgerinnen und Bürger einer Stadt nicht nur als Zuschauer zu begreifen, sondern sie als Mitgestalter und Gesprächspartner auf Augenhöhe in die künstlerische Arbeit einzubeziehen.“ Das „nicht nur“ transportiert erkennbar eine Abwertung, weil die „Mitgestalter“ der Bürgerbühne dann ja als Partner auf „Augenhöhe“ gewürdigt werden. Der Zuschauer sieht dem Darsteller eben nicht gerade in die Augen. Der Zuschauer blickt, so insinuiert diese Formulierung, aus der Froschperspektive als devoter Untertan auf die Bühne.

Die emanzipierten Kölner Zuschauer

Die Rechtfertigung solcher partizipativen Theaterkonzepte bezieht sich oft auf Jacques Rancières Aufsatz „Der emanzipierte Zuschauer“, weil Emanzipation des Zuschauers dort beschrieben wird als „das Verwischen der Grenze zwischen denen, die handeln und denen, die zusehen“ 6. Dabei wird übersehen, dass Rancière damit nicht meint, die Zuschauer sollten Darsteller werden. Er beschreibt drei Tendenzen des Gegenwartstheaters: 1. das totale Kunstwerk, 2. die Hybridisierung der Kunstmittel, beide führen zu „Stumpfsinn“. Rancière befürwortet 3.: der Zuschauer als „aktiver Interpret“. Er will die Theaterbühne „der Erzählung einer Geschichte, dem Lesen eines Buches oder dem Blick auf ein Bild“ gleichstellen. „Es bedarf der Zuschauer, die die Rolle aktiver Interpreten spielen, die ihre eigene Übersetzung ausarbeiten, um sich die ’Geschichte’ anzueignen und daraus ihre eigene Geschichte zu machen.“ 7. Das ist vielleicht eine Rechtfertigung des Theaters Laurent Chétouanes, aber nicht einer Bürgerbühne 8.

Während der Intendanzen von Karin Beier und Stefan Bachmann hatte das Kölner Publikum in vielen Vorstellungen Gelegenheit, sich in diesem Sinne zu emanzipieren. Hoffentlich bleibt das so.

  1. siehe Nachtkritik , den Kommentar von Dorothea Marcus,  Kölner Stadt Anzeiger, Pressemitteilung Salzburg
  2. Kölner Stadt-Anzeiger 1.2.2019
  3. KStA 1.2. 2019
  4. zit. von Andreas Rossmann in: FAZ, 25.1.2019, S.9; Andreas Wilink zitiert Reker mit der noch platteren Version „Das Theater gehört den Menschen“. vgl. Nachtkritik . Siehe auch die Texte zum Thema im Kölner Stadtanzeiger, z.B. der Rundumschlag Navid Kermanis gegen die Kölner Kulturpolitik und Martin Reinkes Kritik (KStA 1.2.2019) an Äußerungen Maldeghems auf der Pressekonferenz.
  5. vgl. Thomas Schmidt, Theater, Krise und Reform. Eine Kritik des deutschen Theatersystems. Wiesbaden: Springer VS, 2017, S. 40
  6. Jacques Rancière, Der emanzipierte Zuschauer. Wien: Passagen, 2. Aufl 2015, S.30
  7. S.33
  8. Auch Juliane Rebentischs Feststellung, dass Rancière damit nicht den „ästhetischen Schein“ oder die „traditionelle Guckkastenbühne“ rehabilitieren wolle, ändert nichts daran, dass Rancières Theorie nicht als Rechtfertigung des Konzepts der Bürgerbühne eingesetzt werden kann. Rebentisch meint, ästhetische Erfahrung könne vor allem dort entstehen „wo Partizipation durch künstlerische Intervention reflexiv thematisch wird.“ (Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst. Hamburg: Junius, 2013, S. 89) Rebentisch denkt dabei an performative Praktiken, in denen das Publikum der Aufführung beobachtend gegenübersteht und doch zugleich Teil und Medium der Aufführung ist. Das ist bei den üblichen Konzepten der Bürgerbühne aber nicht der Fall. Bürgerbühnen sind nicht ästhetisch zu rechtfertigen, sondern höchstens sozial, entweder als therapeutische Sozialarbeit oder als Marketingmaßnahme des „audience building“.

Theaterhistorische Aufschlussbohrung – Peter W. Marx über „Hamlet“ in Deutschland

Peter W. Marx, Hamlets Reise nach Deutschland

Peter W. Marx, Hamlets Reise nach Deutschland. Eine Kulturgeschichte. Berlin: Alexander Verlag, 2018, 435 S. ISBN 978-3-89581-490-7, 35,- €

Das Theater als vergängliche Kunst hat ein besonderes Verhältnis zum Gedächtnis. Theater ist nicht nur die Kunstform der absoluten Gegenwart, der Gleichzeitigkeit von Performanz und Rezeption, es ist auch die Kunstform des Gedächtnisses. Ohne Erinnerung kein theaterkritischer Diskurs, ohne Diskurs keine Kunst. 1 Schon der lockere Plausch nach dem Theaterbesuch („Wie fandest du es denn?“) setzt das Gedächtnis voraus. Und Theaterkritik ist auch Gedächtnishilfe. Die deutsche Theaterwissenschaft dagegen versucht eher der gegenwärtigen Theaterpraxis voraus zu sein als dem Theater der Vergangenheit nachzudenken. Theatergeschichtsschreibung scheint etwas für Pensionisten zu sein. Um so erstaunlicher, dass Peter W. Marx, seit sechs Jahren Professor für Theaterwissenschaft in Köln, eine groß angelegte, gut lesbare theatergeschichtliche Studie vorgelegt hat: die Geschichte der deutschsprachigen „Hamlet“-Inszenierungen2.

Die deutsche Nostrifizierung Hamlets

Spätestens seit der deutschen Übersetzung der Romantiker August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck reklamiert man in Deutschland eine besondere Beziehung zu Shakespeare. Dass er Brite war, wird als unglücklicher Zufall abgetan. Dass er ein Autor von Weltruhm ist, interessiert nicht. Shakespeare ist unser! Im 19. Jh. schon wird von Shakepeares „urgermanischer Natur“ phantasiert 3. Auch im nationalistischen Getümmel des 1. Weltkriegs hält man an der „Nostrifizierung“ Shakespeares fest4. Und Hamlet ist dabei die entscheidende Figur, weil er eine „Aufforderung zur Selbst-Identifikation“ 5 darstellt. „Hamlet“ ist für die Deutschen ein „Sehnsuchtsstück“ 6.
Peter W. Marx unternimmt eine Aufschlussbohrung in die deutsche Geschichte. Mit „Hamlet“, der seit den fahrenden Schauspielertruppen des frühen 17. Jahrhunderts auf den deutschen Bühnen präsent ist, kann man einen Bohrkern in die Sedimente deutscher Mentalitäten treiben. Was zeigt die Bodenprobe?

Man sieht, wie sich im frühen 18. Jh. zunächst die Frage nach dem Jenseits, der metaphysische „Bedürfnisrest“ der Aufklärung, an der Erscheinung des Geists von Hamlets Vater festmacht. Diese Frage wird ein paar Jahrzehnte später aber ganz anders beantwortet: Es geht gar nicht mehr um den Geist selbst, sondern nun um den Menschen, um die Authentizität der körperlichen Reaktion des Hamlet-Darstellers auf den Geist, um das Verhältnis von Innen und Außen des Menschen. Im 19. Jh. setzt sich dann der heroisch verzweifelte Hamlet oder die Sehnsuchtsfigur des Heldenprinzen durch. Freiligraths spöttische Sottise „Deutschland ist Hamlet“ wird plötzlich affirmativ heroisch gewendet, bis Hamlet zur Sehnsuchtsfigur für den Wunsch nach dem jungen Führer der Nation wird. Über die gegensätzliche Politisierung der Figur in Weimarer Republik (Jessner) und Nazi-Reich (Gründgens) wird Hamlet zur Ikone der zeitlos gültigen Kunst (immer noch Gründgens), dann kommen die postheroischen Hamlets (Zadek, Heyme), die mit der Nazi-Väter-Generation abrechnen bis zu Steemanns Hamlet (Hannover 2001)7, in dem eben diese 68er-Väterverächter selbst als Väter an der Macht sind und den Jungen keine Chance zur Opposition lassen durch ihr überbordendes Verständnis. Bis zu den „Sein oder Nichtsein“ rezitierenden Youtubern, als Beispiele für die Spiele der Informationsgesellschaft, die keine Zuschauer mehr brauchen, nur noch Teilnehmer.

Kontextualisierung von Hamlet-Inszenierungen

Marx stellt die einzelnen Inszenierungen immer in einen Rahmen, politisch und kulturell. Immer wieder huschen historische Gestalten durchs Bild: Lichtenberg, Goethe, Nietzsche, Wilhelm II., Göbbels. Immer wieder werden kurz die Kulissen eines historischen Ereignisses aufgebaut: 1. Weltkrieg, Mauerfall – und im nächsten Kapitel wieder eingerissen. Damit wenigstens skizzenhaft der Hintergrund auftaucht, auf den die Inszenierungen sich beziehen. Marx wirft auch Seitenblicke auf die Konjunkturen anderer Shakespeare-Stücke: Warum „Coriolanus“ statt „Hamlet“ für die frühe DDR interessant wird und „King Lear“ für die späte Bonner Republik.

Auch in der Theatergeschichte sattsam bekannte Inszenierungen wie Leopold Jessners Berliner „Hamlet“-Inszenierung von 1926 8 kann Marx durch seine breite Einordnung neu erhellen. Fritz Kortners blonde Perücke, die in der Theaterkritik als „Idiotendach“9 verspottet wurde, verursachte eine solche Empörung, weil sie in das Schema des täuschenden Juden passte. Marx zitiert dazu Oskar Panizza, Friedrich Nietzsche und Arnold Zweig und verweist auf die Schmähungen des polnisch-jüdischen Hamlet-Darstellers Bogumil Dawison. Der assimilierte Jude war für die Antisemiten der Weimarer Republik der schlimmste Jude, weil er lüge.

Epiphänomene des Hamlet -Kults

Nicht nur die Highlights werden erwähnt, sondern auch die fast vergessenen Versionen wie Felicitas von Vestvalis weiblicher Hamlet (1913), eine seltsam modernisierte Filmfassung „Der Rest ist Schweigen“ von 1959 oder Heyme/Vostells Kölner Medien-„Hamlet“ (1977). Auch Epiphänomene des Hamlet-Kults werden einbezogen wie Gerhart Hauptmanns gemeinsam mit Edward Gordon Craig herausgegebene kommentierte Textausgabe (1928), Harald Schmidts Talkshow „Hamlet“ (2001) oder Katie Mitchells Performance „Ophelias Zimmer“ (2015). Während die rein textorientierten Inszenierungen der letzten Jahrzehnte (Grüber Berlin 198210, Steckel Bochum 199511, Gosch Düsseldorf 2001 12, Bachmann Köln 201613) übergangen werden.

Marx erschließt auch neue Quellen, z.B. Heymes Regienotizen zu seinem Kölner „Hamlet“. Schon vor 40 Jahren notierte Heyme: „dass historisch-fixierte Kunst bzw. Theaterarbeit schlechthin nurmehr durch Medien gefiltert erfahren werden kann. Alles andere ist Lüge. Wobei diese Wahrheit in Konsequenz eine tödliche und fatalistische – gänzlich unutopische ist, und die Sehnsucht natürlich nur darauf abzielen darf […], THEATER GEGEN die uns umklammernden und z.T. ausmachenden Medien zu erfahren.“ 14 Dem ist auch heute nichts hinzuzufügen.

Umbesetzungen

Die Schwierigkeit eines jeden historiographischen Unternehmens liegt in dem Widerspruch zwischen der Individualität der einzelnen Inszenierungen, der man gerecht werden muss, und der großen Zickzacklinie, um derentwillen man die ganze historische Schürfarbeit unternimmt. Marx orientiert sich dabei an Hans Blumenbergs Begriff der „Umbesetzung“, er will damit zeigen wie „differente Aussagen als Antworten auf identische Fragen“ 15 verstanden werden können. Marx meint, „Hamlet“ könne im Sinne Blumenbergs als „Metapher“ verstanden werden, die ein Feld für den „Prozess des Erprobens und Verwerfens“ 16 von Antworten auf eine zugrundeliegende Frage bietet. Die Kontinuität stiftende Frage ist für Marx die nach der kollektiven Identität der Deutschen. „Hamlet“-Inszenierungen sind dabei nicht selbst die Antworten, sondern Metaphern, die das Material liefern für das „Erproben und Verwerfen“ von Antworten auf diese Frage.

Hamlet als kollektive Denkfigur

Diese Einbettung der „Hamlet“-Inszenierungen in die „kollektiven Denkfiguren“ ihrer Zeit löst den Anspruch ein, nicht nur eine Theatergeschichtsschreibung zu betreiben, die Inszenierungen um der Vollständigkeit willen erwähnt, sondern Kulturgeschichte17. Gründgens’ Nachkriegsinszenierungen werden vor dem Hintergrund von Hannah Arendts Auseinandersetzung mit der Kollektivschuldthese und Mitscherlichs These von der vaterlosen Gesellschaft diskutiert, Heiner Müllers „Hamlet“ von 1990 in den Zusammenhang der Situation des Intellektuellen in der DDR und deren Auflösung gestellt.

Peter W. Marx’ narratives Modell ist kontextualistisch, die Erzählhaltung weitgehend ironisch, aber am Ende wird es dann doch eine Verfallsgeschichte mit Warnung. Höhepunkt jeder kulturgeschichtlichen Analyse ist ihr abschließender Blick auf die Gegenwart. In so unterschiedlichen Figuren wie Frank-Walter Steinmeier, Christian Lindner, Marc Jongen, Simon Strauß und Philipp Ruch findet Peter W. Marx 2018 versteckte Referenzen zur Bild- und Gedankentradition „Hamlets“: Er deute diese Referenzen als „Krisenbewusstsein einer falsch saturierten Gesellschaft“, als gefährliche Selbstermächtigung, die bestehenden Verhältnisse in einer „rauschhaften Tatensehnsucht“ zu überwinden 18

Ohne Gedächtnis funktioniert sowieso keine Erkenntnis. Wenn das Theater ein überindividuelles Gedächtnis hat, und das wäre die Theatergeschichtsschreibung, kann man mit ihrer Hilfe Dinge sehen, die man ohne Gedächtnis nicht sieht, nicht nur im Theater, sondern in der Gesellschaft.

Diese Rezension ist die erweiterte Fassung eines Textes, der in „Theater heute“ im Heft Dezember 2018 erschienen ist. 

  1. Marvin Carlson hat dies in einer ausführlichen Studie dargelegt. „We are able to ‚read’ new works – whether they be plays, paintings, musical compositions, or, for that matter, new signifying structures that make no claim to artistic expression at all – only because we recognize within them elements that have been recycled from other structures of experience that we have experienced earlier. {…} The primary tools for audiences confronted with new paintings, pieces of music, books, or pieces of theatre are previous examples of these various arts they have experienced.“ Marvin Carlson, The Haunted Stage. The Theatre as Memory Machine. Ann Arbor: University of Michigan Press, 2001, pp.4, 5.
  2. Peter W. Marx hat bereits mit der Herausgabe des Hamlet-Handbuches  einen enzyklopädischen Beitrag zur Hamlet-Forschung geleistet, der weit über die Rezeption in Deutschland hinausgeht. Einiges Material aus dem Handbuch ist aber auch in die Monographie eingegangen. Peter W.Marx, Hamlet Handbuch. Stoffe, Aneignungen, Deutungen. Stuttgart: Metzler, 2014
  3. Koberstein 1865, zit. bei Marx S. 108
  4. Wilhelm Hortmann, Shakespeare und das deutsche Theater im XX. Jahrhundert. Mit einem Kapitel über Shakespeare auf den Bühnen der DDR von Mark Hamburger. Berlin: Henschel, 2001, S.19
  5. Marx S.9
  6. Marx S.10
  7. vgl. meine Kurzkritik in: Berliner Festspiele (Hg.), Theatertreffen-Journal 2002, S.29
  8. Vgl. Hortmann a.a.O., S.75f; Günther Rühle (Hg.) Theater für die Republik 1917-1933 im Spiegel der Kritik. Frankfurt/M: S.Fischer 1967 S.763-773; Hugo Fetting (Hg.), Von der freien Bühne zum politischen Theater. Drama und Theater im Spiegel der Kritik 1917-1933. Bd. 2. Leipzig: Reclam, 1987 S. 314-332; Günther Rühle, Theater in Deutschland 1887-1945. Seine Ereignisse – seine Menschen. Frankfurt/M: S. Fischer, 2007 S. 503-505;
  9. Alfred Polgar zit. bei Marx S.130
  10. vgl. Hortmann a.a.O. S. 321-325
  11. vgl. meine Kritik in Theater heute 8/1995, S.22-25
  12. vgl. meine Kritik in Theater heute 7/2001, S.28-30
  13. vgl. meine Kritik in Theater heute 11/2016, S.20-23
  14. zit. bei Marx S.291f
  15. Blumenberg zit. bei Marx S.14. Vgl. auch: „Umbesetzung meint ebenden Prozess der Ersetzung einer epochal nicht länger befriedigenden Antwort durch eine neue. Die Frage fungiert dabei als konstantes, Zeitabschnitte oder Epochen übergreifendes Moment, das die Tiefenstruktur der Umbesetzungsvorgänge bildet. {…} Das ‚Verfahren‘ nimmt seinen Ausgang von einer als Antwort verstandenen Theorieformation, deren zugrunde liegende Frage in regressiver Analyse zu ermitteln ist.“ Herbert Kopp-Oberstebrink, „Umbesetzung“, in: Robert Buch & Daniel Weiden (Hg.), Blumenberg lesen. Berlin: Suhrkamp, 2014, S.359
  16. Marx S.16
  17. Marx bezieht sich dabei auch ausdrücklich auf Fischer-Lichte, die vor einer „rein chronologisch vorgehender Faktographie“ warnt und postuliert „In jedem Fall lässt sich Theatergeschichte nur mit einer problemorientierten Vorgehensweise betreiben.“ Erika Fischer-Lichte, Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen: Francke, 1993 S.8f
  18. Marx S.377, 380f

Theater und Theaterkritik in der Gesellschaft der Singularitäten

Reckwitz
Der Soziologe Andreas Reckwitz hat in seiner Monographie „Die Gesellschaft der Singularitäten“1 den Paradigmenwechsel von einer Gesellschaft des Allgemeinen zu einer Gesellschaft der Singularitäten auf allen Ebenen beschrieben. Seine Analyse lässt sich sehr leicht auf den Theaterbereich anwenden2. Die folgenden 12 Thesen stellen nur den Versuch dar, diese Anwendbarkeit zu zeigen. Sie stellen noch keine kritische Auseinandersetzung mit der Theorie von Reckwitz dar.

1. Der Theaterbereich ist ein Singularitätsmarkt.
Singularitätsmärkte sind Märkte, auf denen einmalige Dinge (oder Ereignisse, Orte, Kollektive oder Personen) gehandelt werden. Ihre Einmaligkeit (Singularität) ist keine natürliche Eigenschaft dieser Dinge, sondern etwas Zugeschriebenes, das erworben werden muss3. Da es nicht um Dinge geht, die man braucht, sondern um Dinge, die man an sich, ohne dass sie einen bestimmten Zweck hätten, für wertvoll hält, sind Singularitätsmärkte Aufmerksamkeitsmärkte und Valorisierungsmärkte4. Jede Theaterproduktion, die erfolgreich sein will, muss also für singulär erklärt werden und die Aufmerksamkeit eines Publikums erhalten.

2. Theaterkritik ist ein Valorisierungsuniversum mit den Praktiken des Beobachtens, Bewertens und Aneignens.
Die Theaterkritik ist eine Instanz der Bewertung (Valorisierung) von Theaterproduktionen. Dass die  Praktiken des Beobachters und Bewertens zum Handwerk der Theaterkritik gehören, ist offensichtlich5. Aber auch die Praxis des Aneignens gehört dazu. Aneignen ist nicht nur Wahrnehmen, sondern Erleben6. In diesem Universum werden Theaterproduktionen singularisiert oder entsingularisiert (z.B. als modische Nachahmung entlarvt, als Castorf-Imitat oder Marthaler-Epigone).

3. Theaterproduktionen sind Singularitäten, wenn sie über Eigenkomplexität und innere Dichte verfügen.
Dinge (Objekte, Ereignisse, Orte, Menschen usw.) werden zu Singularitäten erklärt, wenn sie komplex sind, d.h. eine vielfältig vernetzte innere Struktur haben, und wenn sie den Eindruck machen, sie seien „dicht“, d.h. nicht leicht durchschaubar, nicht eindeutig aufzulösen7. Eigenkomplexität hat eine Theaterproduktion, wenn ihre verschiedenen semantischen Ebenen (Bühnenbild, Bewegung, Kostüme, Text, Mimik, Musik usw.) nachvollziehbare Interdependenzen aufweisen. Dicht ist eine Inszenierung, wenn diese Interdependenzen für den Zuschauer nicht vollständig im Moment erfassbar oder in Bedeutung umwandelbar sind, aber als Reiz für mögliche Bedeutungskonstitution wirken.8

4. Theaterproduktionen als Singularitäten können ästhetisch, narrativ-hermeneutische oder ludische Qualitäten aufweisen.
Die Qualitäten einer singulären Theaterproduktion können entweder im Sinnlichen liegen (ästhetische Qualität) oder im Sinnhaften, Erzählenden (narrativ-hermeneutische Qualität) oder im Bereich der Bewertung von Lebensformen (ethische Qualität) oder im Interaktiven, Spielerischen (ludische Qualität) 9. Theaterproduktionen legen in der Regel jeweils einen Schwerpunkt auf eine dieser Qualitäten. Zur Zeit geht es vielen Theaterproduzenten um Interaktivität, während welterklärende Geschichten weniger in Mode sind. Bei Produktionen, die auf ethische Qualitäten zielen, geht es im Singularitätentheater nicht um die Bestätigung allgemeingültiger Verhaltensregeln, sondern um ein Angebot zur Konstruktion von eigenen Verhaltensmaximen10.

5. Der Theaterbereich ist ein Markt mit Überproduktion.
Die Erhöhung der Zahl von Uraufführungen bei sinkender Zahl von Zweitaufführungen neuer Stücke ist eine solches Phänomen der Überproduktion auf Singularitätsmärkten, ebenso wie die steigende Zahl von Inszenierungen, Projekten und Zusatzveranstaltungen (5. Sparte) bei gleichbleibenden oder sinkenden Zuschauerzahlen von Stadttheatern. Nicht alles, was singulär sein will, wird als singulär anerkannt. Das führt zur Verschwendung von Geld, Zeit und Arbeitskraft im Theater, ist aber auf einem Singularitätsmarkt unvermeidlich11. Dies gilt ins ganz besonderem Maße für das Internet.12

6. Theaterkritik ist ein Aufmerksamkeitsfilter. 
Weil Singularitätsmärkte von Überproduktion gekennzeichnet sind, braucht man Filter, die die Aufmerksamkeit des Publikums steuern, indem sie selektieren. Theaterkritik ist ein solcher Filter. Trotz der schwindenden Bedeutung des Theaters im Verhältnis zu anderen Bereichen der Kultur behält das Theater weiterhin einen wichtigen gesellschaftlichen Platz durch die allgemeine Kulturalisierung alles Sozialen. Das eigentlich kunstspezifische Genre der Rezension verbreitet sich in alle sozialen Bereiche13. Die Theaterkritik erhält dadurch innerhalb des Bereichs des Theaters eine eher steigende Bedeutung. Sie ist zwar ein Restbestand aus der Zeit der Allgemeinheit, als es noch die Norm war ins Theater zu gehen, erhält aber wachsende Aufmerksamkeit, wenn sie teilnimmt an den vielfältigen Valorisierungen und Auf- und Abwertungen14.

7. Skalierte Bewertungen von Theaterproduktionen verstärken die Konzentration des Publikums auf einzelne, schon erfolgreiche Produktionen oder Theatermacher.
Singularitäten müssen eigentlich in ihrer Einzigartigkeit gewürdigt werden und können nicht mit anderen Entitäten in Ähnlichkeitsbeziehungen gesetzt werden. Um Übersicht im unübersichtlichen Markt für die Konsumenten zu erreichen, werden aber dennoch wertende Vergleiche angestellt15. Die zahlreichen Preise und Wettbewerbe verwenden qualitativ-kompetitive Vergleichsverfahren. Singularitäten werden hier nicht als unvergleichbare gewürdigt, sondern nach Kriterien (bemerkenswert, originell, komplex) verglichen. Die wesentlichen Wettbewerbe (Theatertreffen, Mülheim, Heidelberg, Faust) verzichten aber auf quantitative Skalierungen und liefern qualitative Begründungen, um die Unvergleichbarkeit der singulären Theaterproduktionen doch noch anzudeuten. Rankings, die quantitativ skalieren (nach Aufmerksamkeitsquoten oder Häufigkeit von Bewertungen wie bei Amazon)16, verstärken aber die Aufmerksamkeit für diejenigen, die schon Aufmerksamkeit haben17. Auch solche Bewertungsformen breiten sich im Theaterbereich aus (Choices, K.West). Sie verstärken die „Unsichtbarkeit“, der nicht erwähnten Produktionen.

8. Die Medien der Theaterkritik haben ein Aufmerksamkeitsproblem zweiter Ordnung.
Die Aufmerksamkeitsfilter unterliegen selbst dem Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Singularitätskompetenz18. Der Wettbewerb zwischen „Theater heute“ und „Theater der Zeit“, der Wettbewerb zwischen „Nachtkritik“ und „TheaterMagazin“ im Internet, sind Wettbewerbe um Aufmerksamkeit, aber auch um Urteilskompetenz. Beispiel: der Werbespruch des Friedrich Theaterverlags: „Wir erkennen Kunst“ ist das Versprechen von Komplexitätsreduktion.

9. Die Singularitätskompetenz für Theaterkritik diffundiert im Netz.
Durch die leichten Veröffentlichungsmöglichkeiten im Internet liegt die Kompetenz zur öffentlichen Beurteilung von Singularitäten wie Theaterproduktionen nicht mehr nur bei Experten, sondern auch bei Laien, vgl. Nachtkritik-Kommentare19. Das Internet ist eine Affektmaschine20. Deshalb sind diese Kommentare oft emotional.

10. Das Verhältnis von Beobachten, Bewerten und Aneignen in der Theaterkritik ändert sich durch das Internet.
Laien bewerten vor allem auf Grund ihres Erlebens, Experten auf Grund von Analyse nach Begriffen und durch Vergleich21. Experten müssen aber ihre Urteile so fällen, dass sie für Laien nachvollziehbar sind. Daher bleibt immer ein Rest von Aneignungs-Erlebnis in den Experten-Urteilen. Die Tendenz geht aber zur Ausweitung dieses Anteils, dahin, dass analytische Urteile durch die affektive Wirkung auf den Kritiker oder die Kritikerin beglaubigt werden. Das ist darauf zurückzuführen, dass Expertenurteile (Theaterkritiken) in Konkurrenz stehen zu Laienurteilen (Kommentaren, Zuschauerkritiken).

11. Auf dem Theater geht es in besonderem Maße um Authentizitätsperformanz und Metaauthentizität.
Authentizität ist eine zentrale gesellschaftliche Anforderung geworden. Weil Authentizität eine gesellschaftliche Forderung ist, wird sie auch außerhalb des Theaters von den Subjekten performt, sie wird für ein Publikum hergestellt. Sie ist nicht einfach natürlich vorhanden oder nicht und ist auch kein bloß innerliches Verhältnis des Selbst22. Diese gesellschaftliche Anforderung wird auch auf das Theater ausgedehnt, auch von Schauspielern gefordert. Sie sollen authentisch sich selbst spielen oder zumindest eine Rolle „authentisch“ verkörpern. Das Theater kann aber auch eine ironische Rekonstruktion der performativen Authentizität zeigen, die dem Schauspieler eine Metaauthentizität verleiht23.

12. Stadttheater sind Assets auf dem Singularitätsmarkt der Städte.
Auch Städte stehen im Wettbewerb auf einem Singularitätsmarkt. Stadtpolitik ist Singularitätsmangement 24. Sie muss bestehende Besonderheiten erkennen, entwickeln oder nötigenfalls neue schaffen. Die Stadttheater sind solche bestehenden Besonderheiten. Um attraktiv zu sein, müssen sie eine zur Stadt passende Besonderheit pflegen oder entwickeln. Dabei muss die Stadtpolitik sowohl die Außenwirkung auf Besucher berücksichtigen als auch die Attraktivität für die Bewohner. Auch für kleine Städte ergibt sich dabei die Möglichkeit der Nutzung von Nischen25

  1. Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp, 2017. Die Seitenangaben in den Anmerkungen beziehen sich auf diese Ausgabe.
  2. Dirk Pilz hat bereits im Theatertreffen-Blog 2018 versucht, die Konsequenzen aus Reckwitz’ Theorie für das Theater und die Theaterkritik darzustellen. Im Jahrbuch 2018 von „Theater heute“ legt Andreas Reckwitz’ im Gespräch mit Franz Wille und Eva Behrendt noch einmal die Grundlagen seiner Gesellschaftsanalyse dar, allerdings ohne sich direkt auf das Theater zu beziehen.
  3. „Die singularistische soziale Praxis nimmt grundsätzlich die Struktur einer Aufführung an, so dass Performativität ihr zentrales Charakteristikum ist. {…} Singularitäten existieren also als Singularitätsperformanzen vor einem sozialen Publikum.“ S.72
  4. „Singularitätsmärkte sind Attraktivitätsmärkte, und diese haben die doppelte Struktur von Aufmerksamkeitsmärkten, die um das Problem der Sichtbarkeit zentriert sind, und Valorisierungsmärkten, die um das Problem der Bewertung der Qualität von kultureller Einzigartigkeit kreisen.“ S.149
  5. S. 64-71
  6. „Das Erleben ist ein Wahrnehmen um seiner selbst willen – ein selbstbezügliches Wahrnehmen.“ S.70 Gerhard Schulze erläutert den Begriff des Erlebnisses mit „Innenorientierung“ (S.38). Beim Erlebnis geht es nicht darum, ein bestimmtes äußeres Ziel zu erreichen, sondern sich selbst in einen bestimmten Zustand zu versetzen. Gerhard Schulzes Studie „Die Erlebnis-Gesellschaft“ ist in Deutschland der wichtigste Vorläufer von Reckwitz‘ Gesellschaftsanalyse. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart.Frankfurt/New York: Campus, 1992.
  7. „Die Grundlage ist, dass Einheiten des Sozialen im Zuge ihrer Singularisierung als Eigenkomplexitäten mit innerer Dichte begriffen werden. {…} Komplexität bedeutet bekanntlich: Es gibt eine Reihe von Elementen oder Knotenpunkten, zwischen denen Relationen, Verknüpfungen und Wechselwirkungen existieren. Wenn ein solcher Verflechtungszusammenhang gegeben ist, spricht man von Komplexität, deren Beschaffenheit als Dichte bezeichnet werden kann.“
  8. Exkurs: Andreas Reckwitz und Nelson Goodman zum Kriterium der „Dichte“:
    Reckwitz bezieht sich in einer Anmerkung zum Begriff der Dichte auf Nelson Goodman:
    „Anm. 43. {…} Das Konzept der Dichte entwickelt Nelson Goodman in Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Frankfurt/M. 1998, S.133ff. Goodman versteht ihn allerdings rein kunsttheoretisch, während ich ihn hier generalisiere.“ Reckwitz S.52
    Der Unterschied in der Verwendung des Begriffs zwischen Reckwitz und Goodman ist aber nicht nur der zwischen Kunst- und Gesellschaftstheorie, sondern der zwischen Deskription und Bewertungsnorm.
    Während Reckwitz den Begriff ohne nähere Definition verwendet, definiert ihn Goodman im Rahmen seiner Symboltheorie sehr genau: „Ein Schema ist syntaktisch dicht, wenn es unendlich viele Zeichen bereitstellt, die so geordnet sind, daß zwischen zweien immer ein drittes ist. In einem solchen Schema {…} kann nicht entschieden werden, ob eine Marke zu einem und nicht eher zu vielen anderen Zeichen gehört.“ Nelson Goodman, Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1973 (zuerst engl. Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols. Indianapolis: Bobbs-Merill, 1968) S.144. Unter den vier Symptomen des Ästhetischen sind bei Goodman zwei mit dem Begriff der Dichte verbunden: „Drei Symptome des Ästhetischen können syntaktische Dichte, semantische Dichte und syntaktische Völle sein.“ Goodman S.253.
    Goodman wendet sich ausdrücklich gegen eine Verwendung seiner Symptome des Ästhetischen als Kriterien der ästhetischen Wertung: „Die hier getroffene Unterscheidung zwischen dem Ästhetischen und dem Nicht-Ästhetischen ist unabhängig von allen Erwägungen über den ästhetischen Wert. {…} Die Symptome des Ästhetischen sind keine Gütezeichen; und eine Charakterisierung des Ästhetischen erfordert keine Definition der ästhetischen Vortrefflichkeit, noch auch liefert sie eine.“ Goodman S.256.
    Goodman verteidigt den heute etwas altmodischen Standpunkt, dass ästhetische Erfahrung eine Form der Erkenntnis sei. Deshalb ist für ihn die Frage der ästhetischen Wertung sekundär: „Kunstwerke {sind} keine Rennpferde, und den Gewinner herauszufinden, ist nicht das Wichtigste. {…} Kurz, die ästhetische Erfahrung als eine Form der Erkenntnis zu begreifen, führt sowohl zur Auflösung als auch zur Abwertung der Frage nach dem ästhetischen Wert.“ Goodman S. 263
    Nach Reckwitz ist  „Dichte“ in der Gesellschaft der Singularitäten aber gerade ein Wertungskriterium, das verwendet wird, um Entitäten Singularität zuzusprechen. Andererseits ist Reckwitz’ gesamte Theorie natürlich deskriptiv angelegt. Reckwitz bewertet nicht selbst, sondern beschreibt Bewertungen. Muss man also Reckwitz so verstehen, dass die neue Mittelklasse Goodmans Begriff der „Dichte“ ohne es zu wissen übernommen hat, ihn aber statt als Symptom der Kunst als Symptom der Singularität verwendet hat und diese Singularitäten nun positiv bewertet?
  9. S.87-92
  10. „Das Ethische wendet sich nicht an alle, sondern kommt als Dimension der Singularisierung in Form von Individualethiken und partikularen Gruppenethiken vor.“ S.90
  11. „Es werden immer sehr viel mehr neuartige Güter mit Besonderheitsanspruch kreiert und auf den Markt gebracht, als schlussendlich vom Publikum mit Interesse wahrgenommen und als Besondere anerkannt werden. Den meisten produzierten Gütern bleibt der Singularitätsanspruch versagt. {…} Verschwendung ist damit für Singularitätsmärkte nicht pathologisch, sondern konstitutiv.“ S.156. „Singularitätsgüter sind im Prinzip ungewisse Güter und kulturelle Märkte Nobody-knows-Märkte.“ S.157
  12. „Die Kulturmaschine bringt ganz generell eine strukturelle Asymmetrie zwischen einer extremen Überproduktion von Kulturformaten (und Informationen) und einer Knappheit der Aufmerksamkeit der Rezipienten hervor.“ S.238
  13.  „Die Ökonomie der Singularitäten läuft gewissermaßen im Modus der Dauerrezension.“ S. 168
  14. Gerhard Schulze hat dies schon 1992 in seinen Analysen des „Niveaumilieus“ und des „Hochkulturschemas“ beschrieben: „Auf den großen, aus eigener Kraft kaum zu bewältigenden Bewertungsbedarf des {Niveau-}Milieus antworten die Bewertungsprofessionen, deren Dienstleistung extensiv in Anspruch genommen wird {…} Damit die Welt in Ordnung ist, muss sie hierarchisiert sein.“ Gerhard Schulze, a.a.O. S.285
  15. „Gerade für die Spätmoderne sind jedoch {…} Versuche kennzeichnend, zum Zwecke der Komplexitätsreduktion die absoluten Differenzen der Singularitäten in graduelle Differenzen des Allgemein-Besonderen (etwa in Form von Rankings) zu übersetzen.“ S.67
  16. „Genau eine solche Kombination von Ranking und Häufigkeitsverteilung ist charakteristisch für die Bewertung kultureller Güter auf vielen digitalen Plattformen.“ S. 177
  17. Matthäus-Effekt: „Wer Aufmerksamkeit hat, dem wird Aufmerksamkeit gegeben.“ S.162
  18. „Bewertungs- und Aufmerksamkeitsproblem zweiter Ordnung: Welche Bewertungsinstanz ist zuverlässig und verdient es, dass man ihrerseits Aufmerksamkeit schenkt?“ S. 168
  19. „Durch die digitalen Medien {ist} die Kompetenz zur Valorisieren von kulturellen Gütern erheblich diffundiert. Sie hat sich – je nach Perspektive – demokratisiert oder nivelliert.“ S.168
  20. „Das Internet ist zu erheblichen Teilen eine Affektmaschine. Seine zirkulierenden Bestandteile erregen, unterhalten, stimmen freudig, entspannen, hetzen auf oder bewirken, dass man sich angenehm aufgehoben fühlt.“ S.234f
  21. „Der Laie bewertet die Eigenkomplexität des Gutes primär auf der Grundlage seines Erlebens. {… Der Experte}: „Er hält Abstand zur Erlebenskomponente (auch wenn die davon ausgehende Affizierung nie völlig verschwindet) und wählt einen analytischen Zugriff auf die einzelnen Elemente und Relationen, der die Eigenkomplexität und die Andersheit des Gutes herausarbeitet und zwar häufig mit dem Mittel des Vergleichs. {…} Die Kunst des qualitativen Vergleichs besteht darin, die Eigenkomplexität der Singularitäten dabei nicht (übermäßig) zu reduzieren, sondern zu bewahren.“ S.168
  22. {weil „Authentizität eine zentrale soziale Erwartung geworden ist“} „… Subjekte daher gezwungen sind, sich selbst als singulär und authentisch zu performen.“ S.247
  23. „Der Postmoderne Pop-Musiker kann seine Echtheit auf der Bühne ironisch demonstrieren (so die Bewegungen des Anti-Rockismus der 80er Jahre), er gewinnt aber durch dieses souveräne Performativitätsspiel, so es gelingt, selbst eine Authentizität, die man als Metaauthentizität umschreiben kann.“ S.139
  24. S.388
  25. Winner-take-all-Strukturen können durch den long tail relativiert werden, das heißt durch eine Variation von vielen kulturellen Nischen, die jeweils nur eine kleine, aber doch stabile Anhängerschaft um sich versammeln.“ S.393