Das Theaterstreaming in der Corona-Pandemie erreicht mehr Zuschauer, 10.000 statt 600 z.B. bei dem live-stream der Premiere von „Zauberberg“ des Deutschen Theaters Berlin am 20.11.2020, 1. Aber was ist die Qualität dieses Zuschauens?
Das gesellschaftliche Drumherum des Präsenz-Theaters ist auch ein Aufmerksamkeitssteigerungsmotor. Um zwei oder gar drei Stunden stumm in eine Richtung zu sehen, mit minimalen Blick- und Aufmerksamkeitsverschiebungen, braucht man Vorbereitung. Es braucht Kollektivität. Die gegenseitige Unterstellung der Erwartung im Foyer bringt den Aufmerksamkeitsmotor auf Betriebstemperatur. Alleine tut man so etwas nicht.
Aufmerksamkeit als Zahlungsmittel
Die Theater begeben sich mit dem Streaming von Aufführungen auf den großen Aufmerksamkeitsmarkt des Internets, in dem Aufmerksamkeit als Zahlungsmittel verrechnet wird 2. Die Knappheit des Guts der Aufmerksamkeit der Nutzer führt zum Wettbewerb um dieses knappe Gut. Aber nicht die Ware, der Content der Medienanbieter, wird entwertet, sondern das Zahlungsmittel, die Aufmerksamkeit 3. Sie wird vorgetäuscht, verdünnt, geteilt, zerstreut. Was kann man nicht alles nebenbei tun bei einem Videostreaming einer Theateraufführung: essen, Bier trinken, schlafen, Gymnastik treiben, telefonieren, Messages schreiben, in anderen Programmen stöbern, das Streaming-Bild als kleines Bildchen mitlaufen lassen.
Aufmerksamkeit als Geschenk
Ein Theaterbesuch ist kollektives Aufmerksamkeitschenken. Man erhält keine Aufmerksamkeit zurück. Es ist kein Tausch von Gleichem und keineswegs immer ein Tausch von Äquivalenten. Der Gedanken- und Sinneskitzel, den eine Theateraufführung bei den Zuschauern bewirkt, ist eine Gegengabe anderer Art. Das ist auch bei der gestreamten Aufführung so, aber wir schenken weniger. Irgendwie ist das Aufmerksamkeitsgeschenk an die leibliche Gegenwart eines Menschen gebunden. Im Internet sind wir Kunden, wir geben nur soviel, wie wir erhalten. Im Theaterraum sind wir Schenkende, wir verschwenden unsere Aufmerksamkeit. (Jedenfalls zeitweise, danach kommt der Theaterschlaf, für den der Theaterkritiker Henning Rischbieter berühmt war).
Der Zwang, in engen Reihen neben stinkenden Nachbarn, hinter turmhohen Ballerinaknoten oder breitgefächerten Lockenköpfen eingezwängt und zur Bewegungsstarre verurteilt stundenlang zu sitzen, – eine Einkerkerung, die so viele junge Menschen nicht aushalten, – ergibt einen minimalen Freiheitsgewinn: man kann seine Aufmerksamkeit fokussieren wie man will, linke Bühnenecke oder rechte, dieser Schauspieler oder jene Schauspielerin, jener gutaussehende Rücken in Reihe 5 oder jenes rätselhafte Detail des Bühnenbilds. Bei der gestreamten Aufführung wird mein Blick gelenkt. Mein Körper ist freier, aber meine Aufmerksamkeit ist eingezwängt auf einen Bildschirm, gelenkt durch Kameraführung, Schnitte und Bildbearbeitung.
Verteilte Aufmerksamkeit
Eine Theateraufführung erfordert vom Publikum eigentlich das, was man verteilte Aufmerksamkeit nennt4. Am besten ist, alles im Blick haben, alles wahrzunehmen, Bewegung, Licht, Sprache, Musik. Die ausschließliche Konzentration auf einen Bildschirm dagegen erfordert eine „vertiefte Konzentration“, die im 19. Jh. als Wurzel als der Geisteskrankheit, der Paranoia, verstanden wurde. Dem entziehen wir uns natürlich. Wir sind trainiert in zerteilter Aufmerksamkeit. Die wenden wir auch auf den Bildschirm an, kultivieren und steigern die Fähigkeit zur zerstreuten Wahrnehmung von Gleichzeitigem, die der Großstadtmensch sich angewöhnt hat 5. Aber die Intensität und Dauerhaftigkeit der Aufmerksamkeit nimmt ab. Es ist also nur konsequent wenn Pınar Karabulut ihre Online-Inszenierung von Marlowe/Palmetshofers „Edward II“ für das Schauspiel Köln6 in eine sechsteilige Serie zerstückelt. 20 bis 30 Minuten vor dem Bildschirm sind genug 7. Die kollektive, leibliche Gegenwart von Publikum und Schauspielern dagegen ermöglicht eine Steigerung der Aufmerksamkeitsdauer und -intensität, die in anderen Rezeptionssettings nicht zu erreichen ist.
Es ist also falsch, dem Theater eine altmodische, vertiefte Aufmerksamkeit zuzusprechen und dem gestreamten Internetereignis eine moderne, zerteilte Aufmerksamkeit. Das Präsenztheater trifft auf dieselben Menschen mit denselben Wahrnehmungsgewohnheiten wie das Distanzvideo. Doch die körperliche Ko-Präsenz und Kollektivität bringt eine Aufmerksamkeitssteigerung, die auf keinem anderen Weg zu erreichen ist. Körpern schenken wir Aufmerksamkeit, Pixeln schenken wir nichts. Körper erhalten unsere Aufmerksamkeit gratis, weil wir unterstellen, dass auch sie uns Aufmerksamkeit schenken können. Das tun wir auch dann, wenn wie im Theater der vierten Wand die Verabredung ist, dass sie uns keine Aufmerksamkeit zurückschenken, sondern in anderer Währung zurückzahlen, in der Währung gedanklich-sinnlicher Stimulation.
Wir-Intentionalität
Geteilte Aufmerksamkeit („shared intentionality“), die Fähigkeit, die Perspektive eines anderen auf etwas Drittes zu übernehmen, ist nach Michael Tomasello eine entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung der Gattung Mensch gegenüber den Primaten 8. Diese Wir-Intentionalität, die gemeinsam gerichtete Aufmerksamkeit auf die Bühne, diese grundlegende menschliche Disposition, ist der Grund des Vergnügens am kollektiven Theatererlebnis. Neben anderen in einem gemeinsamen Raum zu sitzen und mit derselben Intention auf dasselbe zu blicken, ist eine archetypische Situation der Menschlichkeit. Das kann die Bewegungsfreiheit vor dem heimischen Bildschirm nicht ersetzen.
- nach: Sophie Diesselhorst, „Gekommen um zu bleiben“. in: Theater heute 5/2021 S. 27 ↵
- „Die Reduktion der Aufmerksamkeit auf eine Währung erzeugt eine Art Seelenblindheit.“ Georg Franck, „Warum der Begründer der ‚Ökonomie der Aufmerksamkeit` immer noch goldrichtig liegt“. Interview mit Klaus Janke, Horizont 24.10.2017. https://www.horizont.net/medien/nachrichten/Georg-Franck-Warum-der-Begruender-der-oekonomie-der-Aufmerksamkeit-immer-noch-goldrichtig-liegt-162087 ↵
- vgl. Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit. München: Hanser, 1998 ↵
- Petra Löffler, Verteilte Aufmerksamkeit. Eine Mediengeschichte der Zerstreuung. Zürich-Berlin: Diaphanes, 2014, z. B. S 92-93 ↵
- „Zerstreuung als notwendige Aufmerksamkeitstechnik“ beim „Navigieren durch die moderne Signalwelt“ Löffler, S. 332 ↵
- https://www.schauspiel.koeln/spielplan/a-z/edward-die-liebe-bin-ich/ ↵
- vgl. G.P. „Im Irrgarten der Referenzen“, in: Theater heute 5/2021, S. 54-56 ↵
- „Human cooperative communication is more complex than ape intentional communication because its underlying social-cognitive infrastructure comprises not only skills for understanding individual intentionality but also skills and motivations for shared intentionality.“ Michael Tomasello, Origins of Human Communication. Cambridge, Mass: MIT Press, 2008, p.321 ↵