Die Wahrheit auf dem Theater – Teil 4 Repräsentation und Identität

Aus der theatertheoretischen Diskussion der letzten 30 Jahre ist der Begriff der Wahrheit fast verschwunden. Im „Lexikon der Theatertheorie“ fehlt das Lemma „Wahrheit“1. Florian Malzacher nennt die “Wahrheit“ zwar noch in der Liste der in der Theater-bubble leichtfertig gebrauchten Begriffe wie “Realität“ oder „Politik“2, aber ohne Beleg. Der Begriff scheint dem vorherrschenden Relativismus grundsätzlich suspekt.

Jakob Hayners Wahrheitsliebe

Eine Ausnahme macht Jakob Hayner mit seinem Essay „Warum Theater. Krise und Erneuerung“3. Er ist sich seiner isolierten Position durchaus bewusst:

„Als lächerlich betrachtet wird heute aber vor allem immer noch, wer von der Kunst eine Beziehung zur Wahrheit erwartet und einfordert.“ 4

Aber er hält an dem emphatischen Begriff der Wahrheit in der Tradition von Hegel und Adorno fest. Für ihn hat die Kunst wie für Hegel die Funktion, die Wahrheit zum Erscheinen zu bringen. Diese Wahrheit ist aber eine über die Gesellschaft:

„Ohne eine für jede Zeit feststehende Definition der Kunst geben zu können, gibt es doch einen Begriff von ihr, der sich aus ihrer inneren Bewegung speist. In dieser Bewegung reagiert Kunst auf Gesellschaftliches und artikuliert aus den eigenen Maßstäben heraus eine Wahrheit über es.“ 5

Für ihn ist gerade der Begriff der Wahrheit das, was Politik und Kunst verbindet:

„Im Ausdruck der Wahrheit über die Unwahrheit der Gesellschaft berühren sich die ansonsten voneinander getrennten Sphären von Kunst und Politik.“ 6

Die „Wahrheit“ ist hier also ein Begriff für einen utopischen, nicht näher definierten Zustand der Gesellschaft, dem sich Kunst wie Politik verpflichtet fühlen sollen. Wahrheit ist für ihn ein ethisch-politisches Postulat. Dass dieses Postulat sich nicht ohne spekulative Metaphysik begründen lässt, ist offensichtlich. Hayner scheut weder vor dem unzeitgemäßen Verweis auf die Religion noch auf den Kommunismus zurück.

„Die Fragen der Metaphysik sind nicht erledigt, bloß vergessen. Den einst in der Religion artikulierten Problemen nicht auszuweichen, sondern sie selbst lösen zu wollen, heißt, in einer Welt ohne Götter wahrhaft modern zu sein.“ 7

Die in der Religion artikulierte Probleme sind ja wohl die Theodizee, die Rechtfertigung des Bösen in der Welt, und der Weg zur eschatologischen Erlösung von dem Bösen. Die moderne Kunst müsste also, nach Hayner, sich diesen Problemen widmen. Andererseits gelingt es ihm in einem großen Bogen, Foucault, Hegel, Rötscher und Marx für eine Bestimmung des Ziels der Kunst zusammenzubinden:

„Die Kunst weist den Weg zum eigenen Begehren. Dieses Begehren, in dem Wahrheit und Schönheit aufeinandertreffen, ließe sich politisch und utopisch zugleich nennen, also kommunistisch.“8

Die Idee des Kommunismus ist für Hayner (nach einer Formulierung Walther Benjamins) „die Idee der Erlösung als säkulares Ereignis.“ 9 Für ihn ist die Fiktionalität des Theaters, der bloße „Schein“ einer Wirklichkeit, hervorgerufen durch ein paar Sperrholzbretter als Bühnenbild, durch die Selbstverdopplung der Schauspieler in reale Körper und bedeutete Figuren und die Imagination der Zuschauer, durch die Behauptung einer anderen Wirklichkeit auf der Bühne, – das ganze Als-ob ist kein Hindernis für das Erscheinen der Wahrheit, sondern die Bedingung dafür:

„Das Als-ob-ist im Theater Bedingung seiner Wahrheitsfähigkeit. Dadurch kann das Subjekt mit einem in ihm schon anwesenden Anderssein in Beziehung treten, das eigene Wissen und Begehren realisieren.“ 10

Wahrheit ist für Hayner aber nicht eine Frage des Inhalts oder des Stoffs, sondern eine der Form. Der Gewährsmann dafür ist Bertolt Brecht:

„Eine Rückkehr zu Brecht wäre die Wiederaufnahme des Versuchs, in der Form die Kritik des Sozialen zu artikulieren. {…} Indem er politische Impulse in ästhetische Neuerungen innerhalb der theatralen Form übersetzte, erneuerte er die Wahrheitsfähigkeit des Scheins.“ 11

Hayner will das mimetischer Theater, in dem Rolle, Text und Handlung dazu dienen, die Wirklichkeit künstlerisch darzustellen und durch die Distanz der künstlerischen Form kritisierbar zu machen, gegen die „performative Wende“ der Theaterwissenschaft verteidigen.

„Mit einigem Befremden kann man zur Kenntnis nehmen, wie eifrig an der Wiederverzauberung des Theaters im Gestus der performativen Erneuerung gearbeitet wird, um es also Ort der Wahrheit unmöglich zu machen.“ 12

Doch dabei bemüht er einen hegelianischen, neo-metaphysischen Begriff der Wahrheit der Kunst, der nur spekulativ, quasi-religiös zu füllen ist. Im Theater der Gegenwart findet er diesen Anspruch nur bei René Pollesch und Fabian Hinrichs wieder, in ihrem Friedrichstraßen-Palast-Projekt: „Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt“ von 2019, aber offensichtlich auch nur im Titel und im Schluss, als Hinrichs in den künstlichen Sternenhimmel entschwebte13.

Die Krise der Repräsentation

Warum also ist die Wahrheit aus dem theatertheoretischen Diskurs verschwunden? Weil sich die hegelianische Konstruktion des Wahren als des Ganzen der entfalteten Welt verflüchtigt hat und selbst für die marxistischen Erben Hegels die Wahrheit ein zu nebulöser Begriff für das Ziel der Kunst war.
Es gab keine Krise der Wahrheit, sie verschwand geräuschlos.

Aber es gab eine lautstarke Krise der Repräsentation. Eigentlich gehören die Begriffe von Wahrheit und Repräsentation zu unterschiedlichen Bereichen (jedenfalls im Mittelalter bei Thomas von Aquin): Wahrheit zur Aussagenlogik, Repräsentation zur Zeichentheorie. Die Aussagen der Kunst sind nicht wahr, aber sie repräsentieren etwas, sie haben eine Bedeutung. Und diese Bedeutung ist nicht etwas Beliebiges, wie in der Alltagssprache oder in den Zeichenwäldern der Konsumwelt, die uns umgibt. Die Kunst sollte in irgendeiner Weise etwas Wesentliches bedeuten. Das wurde um 1900 fraglich. Je mehr man den Zusammenhang von Zeichen und Bedeutung versteht, desto bröseliger wird die Brücke zwischen signifiant und signifié, zuerst in der Literatur (Mallarmés Lyrik, Hofmannsthals Chandos Brief, Lukacs’ Theorie des Romans14. Die Begriffe Repräsentation, Abbild, Illusion, Fiktion und Mimesis werden dabei oft unterschiedlos gebraucht.) Das Theater hat, zunächst als literarisches Theater, teil an dieser Krise der Repräsentation. Spätestens seit Alfred Jarry und Antonin Artaud befreit sich das Theater aber von der Literatur. Doch die Repräsentation bleibt.

„Vom Text und vom Gott-Schöpfer befreit, würde der Inszenierung damit ihre schöpferische und instaurierende Freiheit wiedergegeben. Regisseur und Teilnehmer (die fortan keine Schauspieler oder Zuschauer mehr wären) wären nicht mehr Werkzeuge und Organe der Repräsentation. Heißt das, dass Artaud es abgelehnt hätte, dem Theater der Grausamkeit den Namen der Repräsentation zu geben? Nein, vorausgesetzt man verstünde wohl den schwierigen und mehrdeutigen Sinn dieses Begriffs {…}. Ende der Repräsentation, doch originäre Repräsentation, Ende der Interpretation, doch originäre Interpretation, die keine herrische Sprache, kein Herrschaftsprojekt von vornherein besetzt und verflacht haben. Sichtbare Repräsentation freilich, in Opposition zur Sprache, die dem Blick entwendet, {…} dessen Sichtbarkeit aber kein von der Sprache des Herrn veranstaltetes Schauspiel ist. Repräsentation als Selbst-Präsentation des Sichtbaren und sogar des rein Sinnlichen.“15

Diese durch Derrida vermittelte Kritik der Repräsentation war sicher sehr einflussreich für die Entwicklung des postdramatischen, re-theatralisierten Theaters. Aber im Wortschwall der Propagandisten des postdramatischen Theaters wurde aus der Krise der Repräsentation die Abschaffung der Repräsentation, statt mit Derrida-Artaud nach der “originären Repräsentation“ des Theaters zu fragen.

Aus der raum-zeitlichen Identität von ästhetischem Akt und Akt der Rezeption16 wird voreilig geschlossen, dass deshalb das Theater eine „eigene, echte Situation in der Kopräsenz des Publikums zu erzeugen“ solle. 17 „Echt“ soll hier heißen: ohne Repräsentation einer anderen Wirklichkeit. Das sei ein Weg aus der „Repräsentationsfalle“ 18.

Wenn das, was auf der Bühne stattfindet, keine Repräsentation ist, weder die eines literarischen Textes noch irgendeine sonstige Repräsentation von etwas Materiellem oder Ideellem außerhalb der Bühne, dann lügt die Bühne, wenn sie behauptet, ein anderer Ort zu sein als der leere Raum eines Theaterhauses oder wenn der Schauspieler beansprucht, wahrgenommen zu werden als jemand, der er nicht ist.

Der Begriff der Wahrheit ist, wenn man von der klassischen aristotelischen Version ausgeht, eine zweistellige Relation: A (die Vorstellung) stimmt mit B (der Sache) überein. Worin diese Relation besteht, was A von B unterscheidet, ist die eigentliche erkenntnistheoretische Frage. A gleich A, das wäre Identität. Identität ist der Begriff für die Gleichheit mit sich selbst. Die Relation von Schauspieler und Figur ist aber keine solche Relation, weder Wahrheit noch Identität.

Wenn man Schauspiel wie einen Aussagesatz behandeln will, ist schauspielerische Repräsentation so etwas wie eine sinnvolle informative Identitätsaussage: A gleich A‘, Schauspielerin A (Sandra Hüller) ist Figur A‘ (Hamlet), der Gegenstand (Schauspielerin) wird vom Zuschauer auf zwei verschiedene Weisen identifiziert, der Sinn ist verschieden, die Bedeutung aber gleich, wie bei der Venus als Morgen- und Abendstern bei Frege 19.

Wenn wir aber die Bühne nicht auf zwei verschiedene Weisen wahrnehmen können, als Wirklichkeit und auch Schein, wenn wir nicht die Zuschauerhaltung einnehmen, die Samuel Coleridge klassisch als „willing suspension of disbelief“ gekennzeichnet hat20, dann bleibt nur eine triviale Identitätsaussage: A gleich A, sie ist sinnvoll, hat aber keinen informativen Gehalt. Dass Sandra Hüller Sandra Hüller ist, ist richtig, ist aber nichts Neues.21

Entweder man akzeptiert Repräsentation, dann kann A gleich A‘ sein, oder nicht, dann ist „A gleich A‘ “ eine Täuschung oder gar ein Betrug. Und Täuschung ist böse, dann wollen wir die Wahrheit.22 Die komplizierte Gefühlsmechanik von echten und gezeigten Gefühlen der Schauspieler interessiert nicht mehr, wenn nicht repräsentiert wird. Wir wollen die Wahrheit und die ist die Identität des Schauspielers oder der Schauspielerin mit sich selbst, die Identität des gemeinsamen Raums von Zuschauerraum und Bühne, die Identität des gemeinsam erlebten Augenblicks. Dem repräsentationsfeindlichen, sich avantgardistisch gebenden Performancetheater entkommt man nicht, indem man dem Theater das Ziel der Wahrheit verordnet.

So entsteht aus der vielfach begründeten Befreiung des Theaters von der Forderung nach Wahrheit im Kurzschluss die Ablehnung von Repräsentation und die Forderung nach Identität, statt den theaterspezifischen Modus der Repräsentation zu analysieren und zu entwickeln. Wolfgang Engler hat in der Auseinandersetzung mit Florian Malzacher darauf hingewiesen, dass es zwei Arten von Repräsentationskritik gibt:

„Die eine problematisiert den Rahmen, die andere zerbricht ihn, missbraucht die Menschen und enttheatralisert das Theater.“ 23

Florian Malzacher nennt den Einsatz „echter“ Menschen auf der Bühne wie die Experten bei Rimini-Protokoll einen Ausweg aus der „Repräsentationsfalle“. Zwar erkennt er an, dass die „Authentizität dieser Menschen auch nur eine Rolle ist“ , nennt diese Rolle aber „die Rolle ihre Lebens“ 24. Demgegenüber weist Jens Roselt am Beispiel der Aufführung Sabenation (Berlin, Hebbel Theater 2004) daraufhin, dass das wahre Leben keinen privilegierten Ort hat,

„weder in der Vorstadt noch auf der Bühne. Man kann die Wirklichkeit nicht aufsuchen, sondern sie sucht uns auf oder heim, überall, unerwartet und ungebeten. Wirklichkeit kann nicht vorgefertigt und ausgestellt werden. Sondern: Sie ereignet sich.“ 25

Experten oder unperfekte Laien statt Schauspielern auf die Bühne zu stellen, bringt uns der Wahrheit nicht näher.

„Die Verquickung von Performer und dessen tatsächlicher Biografie führt eben nicht zu einer Form der Unmittelbarkeit, {…} sondern zu einer Distanz.“ Der ästhetische Rahmen, in den diese Menschen auf der Bühne gestellt sind, verdeutlicht immer, „dass es hier nicht darum geht, in einem mehr oder weniger realistischen Sinne wahres Leben abzubilden oder vorzuspielen.“ 26

Nur wenn man die Aufführung als Geschehen zwischen Spieler und Rezipient versteht, unabhängig von Repräsentation oder Nicht-Repräsentation, entkommt man dem Blick, der nach Wahrheit, Identität oder Echtheit sucht.

Die Aufführung: ein Zwischengeschehen

Von der Warte der phänomenologischen Philosophie her versucht Jens Roselt die performative Wende der Theaterwissenschaft weniger als eine Weissagung über die Zukunft des Theaters als einen notwenigen Schritt von der semiotischen Inszenierungsanalyse zur Aufführungsanalyse zu begründen. Und sein Ergebnis: Theater ist ein Zwischengeschehen, ein Ereignis zwischen Bühne und Zuschauer, gleichgültig, ob man meint, etwas zu repräsentieren oder nicht. Erfahrung ist aus phänomenologischer Sicht ein „dialogisches Zwischengeschehen“. Und die Situation einer Aufführung ist eine der Erfahrung:

„Bühne und Publikum treten damit in einen Dialog miteinander, der sich nicht sprachlich vollziehen muss. Zuschauer werden von der Aufführung in Anspruch genommen, so wie sie diese selbst in Frage stellen.“ 27

Mit dem Phänomenologen Bernhard Waldenfels geht Roselt von einer „responsiven Differenz“ aus, die das Verhältnis von Bühne und Zuschauer kennzeichnet. Bühne und Zuschauer verhalten sich wie Frage und Antwort. Aber es ist

„eine Antwort denkbar, die etwas aufschließt, was die Frage nicht erahnt hat. Eine solche Antwort gehorcht nicht mehr der Trennung in richtig oder falsch.“ 28

Und schon gar nicht der Trennung in Wahrheit und Lüge.

„Zuschauer {sind} nicht lediglich als Erfüllungsgehilfen fremder Intention in der Aufführung gefragt.“ 29

Roselt kritisiert sogar seine Lehrmeisterin Fischer-Lichte dafür, dass sie mit ihrem Begriff der Feedback-Schleife diese responsive Differenz nicht berücksichtigt. 30 Diese gilt auch für ein Theater des Als-ob, in dem ein Schauspieler oder eine Schauspielerin eine Figur repräsentiert:

„Die Figur, die sich zwischen Schauspielern und Zuschauern ereignet, ist ein Drittes, das keinem ausschließlich zu Eigen ist.“ 31

Die Zuschauer sind „konstitutiver Teil der Aufführung“. Den Wahrnehmungs- und Erfahrungsweisen der Zuschauer kommt damit eine produktive Dimension zu, auch bei der Repräsentation einer Figur auf der Bühne durch eine Schauspielerin oder einen Schauspieler:

„Erst im Auftritt [wird] eine Erscheinung konstituiert, die weder auf die individuelle Person des Schauspielers noch eine Rollenvorgabe reduziert werden kann, da auch die Intentionen der Zuschauer hier sinngebend sind.“ 32

Die Schauspielerin Julia Riedler beschreibt in ihrer Hamburger Poetikvorlesung 2023 diese aktive Rolle des Publikums aus der Sicht einer Schauspielerin:

„Durch den Energieraum, den das Publikum durch seine Präsenz schafft, wird eine Kommunikation geschaffen, die aus meinem Denken eine dreidimensionale Gewalt macht und aus dem Theaterraum eine immersive Welt. Und so wird etwas, was einst geschrieben wurde, egal, ob es Jahrtausende oder einzelne Monate alt ist, zu einer gegenwärtigen Plastik. Nicht dadurch, dass ich es besonders laut sage, sondern dadurch, dass ihm besonders zugehört wird.“ 33

Wenn man die produktive Leistung der Zuschauer bei einer Aufführung anerkennt, schwinden alle Gespenster von Wahrheit und Identität.

  1. Erika Fischer-Lichte e.a. (Hg.), Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart: Metzler, 2. Aufl. 2011
  2. Florian Malzacher, Gesellschaftsspiele. Politisches Theater heute. Berlin: Alexander Verlag, 2020,  S.40
  3. Jakob Hayner, Warum Theater. Krise und Erneuerung. Berlin: Matthes und Seitz, 2020
  4. S. 62
  5. S. 13
  6. S. 79
  7. S. 152
  8. S. 150
  9. S.149f
  10. S. 148
  11. S.77 und S. 126
  12. S. 127. Vgl. auch seine ausführliche Kritik an Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen im Kapitel „Wiederverzauberung oder Entzauberung der Welt“ S. 100-121
  13. Hayners Kommentar dazu: „Die Möglichkeit, eine Idee zu begehren, welche die Welt übersteigt, erscheint im Kunstwerk.“ vgl. Christian Rakows Kritik
  14. z.B. „Die visionäre Wirklichkeit der uns angemessenen Welt, die Kunst, ist damit selbstständig geworden: sie ist kein Abbild mehr, denn alle Vorbilder sind versunken; sie ist eine erschaffende Totalität, denn die naturhafte Einheit der metaphysischen Sphären ist für immer zerrissen.“ Georg Lukacs, Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Berlin: Cassirer, 1920, S.12
  15. Jacques Derrida, „Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation“ in: J.D., Die Schrift und die Differenz. übers. v. Rudolphe Gosché. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1976 (zuerst als Vortrag in Parma 1966)
  16. Malzacher zitiert hier zu Unrecht Hans-Thies Lehmann. Lehmann nennt eine Grundbedingung des Theaters, des dramatischen wie des postdramatischen oder performativen Theaters, vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater. Frankfurt/M: Verlag der Autoren, 1999, S.12
  17. Malzacher S.36.
  18. ebd.
  19. Gottlob Frege, Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1969, S. 41, vgl. Tugendhat/Wolf, Logisch-semantische Propädeutik, Stuttgart: Reclam, S.176
  20. Samuel Taylor Coleridge, *Biographia Literaria* (1817). Ch. XIV, ebook Project Gutenberg, 2004 p.347. vgl. meine Rezension von Tom Sterns, Philosophy and theatre. An Introduction. Jakob Hayner formuliert das treffend auf Deutsch: “Man tut so, als glaubte man, was man sieht. Oder anders gesagt: Man tut eben nicht so, als glaubte man nicht, was man vorgeführt bekommt.“ Hayner, S.124
  21. Tugendhat/Wolf, S. 183
  22. Auch Hans-Thies Lehmann arbeitet mit dem Gegensatzpaar Wahrheit und Betrug: „Soll Theater Wahrheit bieten, so muss es sich nunmehr als Fiktion und in seinem Herstellungsprozess von Fiktionen zu erkennen geben und ausstellen, statt darüber zu betrügen.“ Lehmann,  S. 186.
  23. Wolfgang Engler, Authentizität! Von Exzentrikern, Dealern und Spielverderbern. Berlin: Theater der Zeit, 2017, S. 136
  24. Malzacher, S. 32
  25. Jens Roselt, Phänomenologie des Theaters. Paderborn: Wilhelm Fink, 2008, S.280
  26. Roselt, S.281
  27. Roselt, S. 194f
  28. Roselt, S.179
  29. Roselt, S.185
  30. Roselt S.195
  31. Roselt, S. 248
  32. Roselt, S. 300
  33. Julia Fiedler, „Über das Umarmen der eigenen Mittelmäßigkeit“ Poetik des Spiels. Hamburger Poetikvorlesung 2023

Kein Theater – Erinnerungsbücher von Ex-Genossen

1. Schneeschmelze

2022 und 2023 starben kurz nacheinander Elisabeth Weber 1, Ruth Ursel Henning 2, Willi Jasper 3 und Antje Vollmer 4. Damit ist nun die prominenteste Gruppe der von 1970-1980 existierenden KPD-AO fast vollständig verschwunden 5, nachdem Jürgen Horlemann 6, Christian Semler 7, und Peter Neitzke 8 bereits Jahre zuvor verstorben waren9 Die Generation, die versuchte, die Konsequenzen aus dem gesellschaftlichen Aufbruch der 68e-Revolte zu ziehen, stirbt aus. Was bleibt? Jedenfalls ein paar Erinnerungsbücher, – auch von begrenzter Haltbarkeit.10

„Der Schnee gnädigen Vergessens bedeckt heute die Landschaft, auf der sich in den 70er Jahren die maoistischen „K-Gruppen“ an die Revolutionierung des Proletariats gemacht hatten. […] Schließlich und wenigstens verstehen die Funktionäre von einst kaum mehr ihre damaligen Motive und Handlungen.[…] Dem ehemaligen Führungspersonal ist die Geschichte der K-Gruppen zu peinlich.“11

Das schrieb Christian Semler 1998. Langsam schmilzt dieser Schnee des Vergessens und darunter kommen seltsame Überreste, verrostetes Gedanken-Gerümpel eines einstmals heißen Sommers der Aktion zum Vorschein.

Heute ist der Modus des Gedenkens der damaligen Akteure weniger die Abrechnung mit der Vergangenheit als der Versuch, sich selbst zu verstehen.12

Auf die Frage seines Sohnes hin, „wieso man in den 70er Jahren auf die Idee habe kommen können, Mitglied einer maoistischen Partei zu werden“ hat Helmuth Lethen seinen Bericht „Suche nach dem Handorakel“ geschrieben13. Marianne Brentzel14 gesteht ratlos:

„Ich weiß keine zufriedenstellende Antwort, die meine eigene Entscheidung für diese Organisation für fast zehn Jahre rechtfertigt und auch keine für all die, die sich jahrelang diesem System unterordneten.“15

Aber Begründung ist nicht Rechtfertigung. Wenn ich eine zurückliegende Handlung rechtfertige, wende ich meine gegenwärtigen moralischen Maßstäbe auf die vergangene Handlung an. Nach unseren heutigen Maßstäben, ist die „Entscheidung für diese Organisation“ nicht zu rechtfertigen. Aber es besteht das Bedürfnis, sich selbst zu verstehen, d.h. im damaligen Kontext Gründe zu finden, die zu diesen Entscheidungen führten. Christian Semler hat dies 2001 am deutlichsten formuliert:

„Soll man sich, vor allem als Person des öffentlichen Lebens, von den Elementen seines eigenen Lebens öffentlich distanzieren, die dem heutigen Blick als verwerflich erscheinen? Entgegen der Auffassung, wonach die Biografie aus lauter unverbundenen Neuanfängen besteht, streben wir alle nach so etwas wie einer Ich-Identität im Lebenszyklus. Deshalb ist es ganz unsinnig, sich im Sinn eines Reinigungsrituals von Teilen der eigenen Biografie einfach loszusagen. Wir sollen erklären, wie alles zusammenhängt, was fortwirkt, was überwunden wurde. Dazu bedarf es nicht der kniefälligen Distanzierung, sondern der Selbstdistanz.“16

2. Gründe

Warum nun beteiligte sich Helmut Lethen, Literaturwissenschaftler Jahrgang 1938, 1969/70 an der Gründung einer maoistischen Partei?

In „Suche nach dem Handorakel. Ein Bericht“ beschreibt er 2012 ausführlich seinen intellektuellen Werdegang in den 60er Jahren17: Lektüre von Adorno, Walter Benjamin und Mitscherlich. Das waren die intellektuellen Voraussetzungen der Studentenbewegung vor 1969.

 

Mitscherlichs These von der „Vaterlosigkeit“ der Nachkriegsgeneration, deren Väter ihre Tätigkeiten in der Nazi-Diktatur und im Krieg beschwiegen, war zwar banal, „traf aber damals einen Nerv.“18. Lethen blieb jedoch skeptisch. Dass die durch die fehlende Autorität der Vatergeneration bewirkte „Unzuverlässigkeit der Innensteuerung“ seiner Generation der psychologische Grund für die Studentenbewegung sei, war für ihn damals unglaubwürdig. Für den Lethen der 60er-Jahre gehörte Mitscherlich auch zu den Vätern.

Die Ablehnung der Kritischen Theorie kam mit der Bild-Zeitungs-Kampagne des SDS. Die Kritische Theorie war problemlos in die bestehende Gesellschaft integrierbar. Auch die Bild-Zeitungsmacher konnten sie als strategischen Ratgeber verwenden.

Soweit erklärt Lethen die Voraussetzungen, die auf die ganze Breite der Studentenbewegung zutrafen. Aber warum musste es nun gerade dieser kleine Zirkel von knapp 20 Westberliner SDS-Mitgliedern sein, die eine demokratisch-zentralistische Kaderpartei gründen wollten? Zunächst bleibt die Bilanz seines Selbsterklärungsversuchs negativ:

„Nicht erklärt ist, warum ich mich 1970 der handverlesenen Schar der Parteigründer, in der ich kluge Köpfe der Studentenbewegung in Westberlin wiederfand, angeschlossen habe.“19

Dann nennt er neben dem Abschied von der lähmenden Praxislosigkeit der Kritischen Theorie einen weiteren Grund:

„Irgendwie hat mir die Enttäuschung über die Handlungslähmung und herrschaftsdienliche Funktion der Kritischen Theorie, die den Eintritt in eine ML-Partei legitimieren sollte, einen handfesteren Grund verborgen. Er lag in der Furcht, in der Umwelt der Lebensstilexperimente, im Strudel der zerfallenden Bewegung, die Fassung zu verlieren, ziellos zu treiben, marginalisiert zu werden.“ 20
„Was bewahrte uns vor Kollaps und Amoklauf? Sollte die Reihe der ML-Parteien eigens zu dem Zweck gegründet worden sein, diesen Gang der Dinge zu verhindern? Merkwürdiger Gedanke, diese Parteien könnten als ‚Sinnmaschinen‘ manchen aufgefangen haben.“ 21

Diesem subjektiven Bedürfnis nach Halt und Orientierung entspricht Lethens objektive Beschreibung der Funktion der ML-Bewegung nach 1970:

„Der Zerfall der Studentenbewegung hat in den Jahren 1969, 1970, 1971 ein nicht zu unterschätzendes Quantum ungebundener destruktiver Energie freigesetzt. Die Leistung der marxistisch-maoistischen Apparate bestand darin, die frei flottierenden Umsturzenergien in ihr oberirdisches Bewegungssystem einzubinden.“ 22

Lethens mehrfach wiederholte These ist: die ML-Parteien haben „objektiv gesehen der Stabilisierung der Republik gedient“. 23

Die politischen Ereignisse und gesellschaftlichen Entwicklungen, die so etwas aus heutiger Sicht Unwahrscheinliches und Unsinniges wie die Gründung einer maoistisch-kommunistischen Partei durch eine Handvoll Studenten und Jungakademiker, möglich machten, werden in Willi Jaspers Erinnerungsbuch „Der gläserne Sarg. Erinnerungen an 1968 und die deutsche ‚Kulturrevolution‘“ ausführlich geschildert:

  • Die Erschießung des Demonstranten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 durch einen Polizisten,
  • das Attentat auf Rudi Dutschke, den anerkannten Sprecher der Studentenbewegung, am 11. April 1968,
  • die Studentenproteste und Streiks im Mai 1968 in Paris,
  • der Einmarsch der russischen Truppen in Prag  im August 1968
  • der Vietnam-Krieg mit der gescheiterten Tet-Offensive des Vietcong 1969
  • die Streiks bei Fiat in Italien und der Einfluss der „Unione dei Communisti Italiani“,
  • die gewerkschaftsunabhängigen „wilden“ Streiks in Deutschland im September 1969,
  • die gewalttätige Auseinandersetzung zwischen Studenten und Polizei bei der Demonstration am Tegelerweg in Berlin im November 1969.

So wird vielleicht eher verstehbar, warum dann auf der Arbeitskonferenz der Berliner Roten Presse-Korrespondenz am 6./7. Dezember 1969 fünf ehemalige Mitglieder des aufgelösten SDS die Gründung einer Kommunistischen Partei vorschlugen24. Im Februar 1970 hieß es dann in der Vorläufigen Plattform der Aufbauorganisation für die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD-AO):

„Der rechtzeitige Aufbau einer nicht mehr studentischen politischen Organisation, die ihr Hauptaugenmerk auf die Organisierung des Proletariats gerichtet hätte, wäre das Korrektiv von Wahnvorstellungen gewesen, die bis heute in den Köpfen von Genossen spuken.“ 25.

Im Rückblick scheint das heute eher der Versuch gewesen zu sein, viele divergierende Wahnvorstellungen durch eine einheitliche Wahnvorstellung zu ersetzen.

Dass das Scheitern dieses Versuchs erst so spät eingestanden wurde (immerhin früher als bei den konkurrierenden K-Gruppen), lag auch daran, dass er zunächst erfolgreich war. Worin die Attraktivität dieser Gruppe bestand schildert Alan Posener, damals Student und später Chef-Kommentator der Zeitung „Die Welt“:

„Dass ich zur KPD/AO stieß, war eher zufällig. Ich hatte, um irgendetwas zu studieren, mich für Germanistik eingeschrieben, und in der „Roten Zelle Germanistik“ gaben die Vertreter der KPD/AO den Ton an. Das meiste, was sie sagten, verstand ich allenfalls umrisshaft, aber ich habe sie als Personen bewundert: Dietrich Kreidt, Helmut Lethen und Rüdiger Safranski zum Beispiel, aber auch Lerke von Saalfeld, Beate von Werner und vor allem Elisabeth Weber. Da war schon eine geballte intellektuelle Potenz. Ich glaube, dass es den meisten jüngeren Studenten damals so ging: die Entscheidung für eine politische Organisation war eher eine persönliche als eine ideologische Entscheidung. Man entschied sich, zu wem man gehören wollte, und eignete sich danach die politische Linie an. Die festigte sich in der Auseinandersetzung mit den anderen Sekten dann zur tatsächlichen Überzeugung.“ 26

Helmut Lethens „merkwürdiger Gedanke“, die Partei könne als „Sinnmaschine“ funktioniert haben und manchen aufgefangen haben, wird durch Alan Posener bestätigt:

„Ich verdanke der KPD {…} also, dass ich von den Drogen und dem Gefühl existenzieller Nichtigkeit losgekommen bin. {…} Und da verdanke ich ihr wohl eher als irgendwelcher eigenen Charakterstärke, dass ich vor Abgründen bewahrt wurde, in die andere schlidderten.“27

3. Doch Theater

„Noch nie war meines Wissens eine deutsche Partei durch eine solche Übermacht von Germanisten gegründet worden“ schrieb Peter Schneider über die KPD/AO28. Helmut Lethen bemerkt zu Recht „dass in unserem Politbüro unverhältnismäßig viele Theaterwissenschaftler waren.“ 29

Helmut Lethen und Willi Jasper stellen ausführlich dar, welche Rolle der Literaturwissenschaftler Peter Szondi in den damaligen Auseinandersetzungen spielte. Er war sowohl Anreger der Kritik an der noch unter dem Einfluss der ehemaligen Nazi-Mitläufer stehenden Germanistik als auch Opfer der Studentenproteste. Selbst der Lyriker Paul Celan wurde in den Strudel der 68-Bewegungen hineingezogen 30. Auch das Theater blieb nicht unberührt:

  • Peter Steins Inszenierung von Peter Weiss` „Viet Nam Diskurs“ (Kammerspiele München 5. Juli 1968 unter Mitarbeit der späteren KPD-AO Gründer Wolfgang Schwiedrzik und Jürgen Horlemann) sorgte für einen Skandal, weil im Anschluss an die Vorstellung Geld für die Vietnamesische Guerilla Vietcong gesammelt wurde.31
  • Peter Steins Inszenierung von Brechts „Die Mutter“ an der 8. Oktober 1970 Berlin Schaubühne am Halleschen Ufer (wiederum unter Mitarbeit von Wolfgang Schwiedrzik) konnte als Aufforderung verstanden werden, die Verwirklichung des Kommunismus, „das Einfache, das so schwer zu machen ist“, anzupacken.
  • Wolfgang Schwiedrziks Drama „Märzstürme 1921 (Leuna)“ an der Schaubühne 7.3.1972 uraufgeführt (erfolglos) erinnerte an die militanten Aktionen der KPD zu Beginn der Weimarer Republik.32

Es war also folgerichtig, dass die Aktionen der KPD-AO „wie revolutionäres Theater inszeniert wurden.“33

In seinem Bericht „Theater als ‚Aktion'“ schildert Wolfgang Schwiedrzik die Rolle des Theaters in der 68er Bewegung vor 1970  und erwähnt dann eine spätere Begegnung mit Ivan Nagel, der 1968 Chefdramaturg an den Münchner Kammerspielen war und in dem Konflikt um die Geldsammlung für den Vietcong zu vermitteln suchte. Seine Schlussfolgerung aus dem Gespräch in den achtziger Jahren ist:

„Die Unentschlossenen und Mitläufer von damals, die den ‚Marsch durch die Institutionen‘ erfolgreich abschlossen, halten den Mythos von 1968 hoch, während diejenigen, die damals bis ins Extrem gingen, heute eher zweifeln.“34

Diese Einschätzung trifft vielleicht für die Zeit zwischen 1960 und 1970 zu. Für Zeit nach 1970, für die Phase der K-Gruppen, ist die vorherrschende Einschätzung weniger gegensätzlich, sowohl Unentschlossene und Mitläufer als auch damalige Extremisten meinen: das war wohl nichts Gutes.

4. Verluste-Gewinne

Die Arbeit für die Partei war anstrengend. Die Mitgliedschaft (auch im Studentenverband) erforderte die Anerkennung des „Primats der Politik“, d.h. den Vorrang der politischen Tätigkeit vor allen anderen Lebensäußerungen. Helmut Lethen beschreibt die Partei als „selbstdestruktiven Trichter“, der alle Energie aufsog, ohne ein Resultat zu hinterlassen. 35. Das führte zu Verlusten. Die hier behandelten Erinnerungsbücher gehen mit diesen Verlusten nonchalant um. Lethen verließ die Partei 1976, Neitzke 1975, Alan Posener 1977. Willi Jasper arbeitete immerhin seit 1979 auf ihre Auflösung hin. Sie waren also selbstständig und handlungsfähig geblieben. Willi Jasper zuckt auf die Frage nach seinem persönlichen Verlust nur mit der Schulter:

„Auf die Frage, ob es eine `verlorene Zeit`war, erklärte ich {1980}, dass ich mir natürlich vorstellen könnte, die letzten zehn Jahre sinnvoller verbracht zu haben.` Aber ich konnte damals nicht beantworten, ‚durch welche Konstellation und ab welchem Punkt ich meine persönliche Entwicklung hätte in andere Bahnen leiten müssen.‘ Natürlich spürte ich ein Bedauern. {…} Doch ich glaubte (und glaube immer noch), dass man die ‚Schuld‘ der KPD-AO in eine ‚Gesamtbilanzierung‘ dessen einordnen muss, wie viel menschliche und soziale Existenz insgesamt in der linken Bewegung seit 1968 auf der Strecke geblieben ist.“36.

Und Helmut Lethens Schaden war eine Gastritis, die ihm immerhin die Abkehr von der Organisation ermöglichte. Aber die politisch begründete Ablehnung seiner Bewerbungen um Professorenstellen in Bremen und Marburg kränkte ihn doch.

„Natürlich richtete die Partei Destruktives an, in erster Linie nach innen: schlaue junge Gewerkschaftler wurden aus ihrem Biotopen gerissen und von Westberlin aus in unser Traum- und Niemandsland, genannt Ruhrgebiet, verschickt. Wir versauten vielen Genossinnen und Genossen fürs ganze Leben ihren Lehrerberuf, an dem sie mit Leidenschaft hingen. Die Partei verbrauchte Erbschaften und beendete akademische Karrieren.“37

Diese unaufgeregte Negativ-Bilanz steht im deutlichen Widerspruch zu den 1977 anonym veröffentlichten schrillen Leidensberichten einer Gruppe von Aussteigern38 und zu den hämischen Bemerkungen Außenstehender39.

Der Negativ-Bilanz steht aber auch der Versuch gegenüber, zu retten, was bleiben kann. Alan Posener, auf Grund seines Parteiaustritts und seiner Tätigkeit für das Flaggschiff der Springer-Zeitungen unverdächtig, ein Unverbesserlicher zu sein, findet im Wesentlichen zwei Dinge, die er der KPD verdankt: zum einen „technisch-charakterliche Dinge“: strenge Disziplin, zum anderen ideologische: „als negative Lehre die tiefe Abscheu vor dem Kommunismus und der tiefe Schrecken über die eigene Verführbarkeit“, aber auch: „einen linken Liberalismus. Liberal, weil ich zu wissen meine, wie wichtig die Freiheit ist; links, weil eben die wahren Helden die Leute sind, die es nicht leicht haben.“ 40

Christian Semler versucht ebenfalls festzuhalten, was an anschlussfähiger Orientierung übrig blieb, vor allem mit Blick auf die nicht wenigen, die weiterhin politisch aktiv blieben. Zunächst allgemein für die Studentenbewegung: „Die linken Studenten: „waren trotz ihres oftmals forciert linkstraditionalistischen Gepräges, Motoren des demokratischen Verwestlichungsprozesses“. 41 Dann aber auch konkret für die Ex-Genossen seiner ehemaligen Partei:

1. schroffer Antiutopismus (aus Enttäuschung über Utopie der Kulturrevolution), Verbindung mit osteuropäischen Demokraten,
2. linker Antitotalitarismus, Unterstützung von der osteuropäischen Opposition,
3. Drei-Welten-Theorie: Legitimität nationaler Befreiungsbewegungen auch im Fall der zerfallenden Sowjetunion und Jugoslawiens, positive Wertung der EU (zweite Welt)
4. Dem Volke dienen: „Volkstümlertum“ „Es erlaubte den Ex-Maoisten, ihre private berufliche Existenz an einem allgemeinen ethischen Maßstab zu messen.“ Kritik an der volksfeindlichen Entwicklung von Technik (Grüne Bewegung)

Als gewiefter Dialektiker sieht er aber auch die Kehrseiten dieser Vorteile: Der Antiutopismus ist zugleich die „Weigerung, das ganz andere der kapitalistischen Produktionsweise auch nur zu denken“. Der Antitotalitarismus führt zu „moralischen Superioritätsgefühle“ und zur „Pose des Chefanklägers“. 42

5. Romane

Nicht jeder fühlt sich wichtig genug, um zur Lektüre für künftige Historiker seine Erinnerungen zu veröffentlichen. Nicht jeder kann den Affekt der Scham so produktiv verarbeiten wie Helmut Lethen. Christian Semler hat schon früh und mehrfach als taz-Redakteur und Kommentator eine ehrliche Bestandsaufnahme versucht. Alan Posener kann sich auf eine einzelne Frage beschränken und vermeidet so jegliche „der rote-Opa-erzählt“-Haltung.

Es gibt aber noch einen anderen Weg, mit peinlichen Erinnerungen umzugehen: Fiktionalisierung. Es gibt mindestens drei Romane von ehemaligen Mitgliedern der Führung der KPD(nicht mehr AO). Helmut Lethen hat dafür ein passendes Zitat von Walter Benjamin aufgespießt:

„Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit, das sich über seine wichtigsten Angelegenheiten nicht mehr exemplarisch auszusprechen vermag, selbst unberaten ist und keinen Rat geben kann. Einen Roman schreiben, heißt, in der Darstellung des menschlichen Lebens das Inkommensurable auf die Spitze treiben.“ 43.

Am eleganteste umschifft Alexander von Plato die Klippe der eigenen Ratlosigkeit.. Erinnerung ist sein Thema, aber nicht seine eigene und nicht die an die Jahre 1970-80.

Verwischt. Eine Liebe in Deutschland 1989

Für den Historiker Alexander von Plato 44 sind die Jahre 1970-1980 eine zu kurze Welle, als dass er sich öffentlich damit beschäftigen würde. Als international renommierter Spezialist für „oral history“ beschäftigt ihn, wie die langen Wellen der historischen Entwicklung sich in den kurzen Wellen eines Menschenlebens auswirken. Die „longe durée“, deren Erforschung der französische Historiker Fernand Braudel zur Aufgabe der Geschichtswissenschaft gemacht hat, d.h. die für die Individuen unmerklich sich vollziehende Veränderung im Zusammenleben der Menschen, wirkt sich aus auf die Lebensverläufe der Einzelnen. Diese Entwicklungen, die sich in scheinbar unabhängig von den Entscheidungen einzelner in einer völlig anderen Zeitstruktur entwickeln als in dem individuellen Lebensrhythmus von Geburt, Leben und Tod, in ihrem Niederschlag auf das bewusste Erleben einzelner zu erfassen, ist Sinn von „oral history“.

Oder wie eine der Figuren, ein Filmregisseur, in von Platos Roman „Verwischt. Eine Liebe in Deutschland 1989“ erklärt:

„Es ist – denke ich – wahnsinnig schwer, die langen Wellen der Geschichte, die wir nur erlernen können, mit den kurzen, die wir erleben, zu verknüpfen […] Vielleicht kann dies auch nur der Kunst gelingen.“ 45

Eine andere Figur, eine Historikerin, greift dies auf:

„Seine Gedanken über die langen Wellen, die wir nur erlernen können, und die kurzen Wellen, die wir erleben, trafen den Kern meiner Arbeit. Diese beiden Wellen zusammen zu analysieren, das ist die Kunst, die die Fachleute aus den Kultur- und Geschichtswissenschaften beherrschen sollten.“ 46.

Von Plato versucht beides, Kunst (Fiktion) und Geschichtswissenschaft (Wahrheit), zu vereinen, er hat einen Roman geschrieben, der auf den lebensgeschichtlichen Erinnerungen seiner Gesprächspartner im Zuge seiner Arbeiten über die deutsche Wiedervereinigung beruht. Es geht darin um den großen Zeitraum zwischen 1944 und 2014 im Nazi-Deutschland, der DDR und im vereinigten Deutschland. (Die politischen Ereignisse in Westdeutschland und Westberlin in den 70er Jahren werden nicht erwähnt.)

Dieser im Selbstverlag erschienene in der medialen Öffentlichkeit kaum bemerkte Roman hat eigentlich das Zeug zu einem populären Schmöker, er ist so etwas wie ein Dokufiction-Krimi. Aber das Interesse an deutscher Vergangenheit schwindet mit dem steigenden Interesse an der Gegenwart. Kommunistischer Widerstand gegen die Nazi-Diktatur und das Ende der DDR, das interessiert angesichts des Ukraine-Krieges nur wenig. Allerdings gibt es aus der Perspektive eines ehemaligen DDR-Dissidenten von 2014 eine deutliche Warnung:

„Ein vereintes Deutschland unter dem Dach der Nato, das Russland aus Europa heraushielt und die Russen demütigte. Das werden wir noch teuer bezahlen. {…} Damit haben wir geholfen Putin groß zu machen.“ 47

Im Zentrum der Handlung steht eine westdeutsche Historikerin Marie, die mit den Mitteln der „oral history“ die Rolle der jüdischen kommunistischen Widerstandskämpfer in der frühen DDR untersuchen will. Sie verliebt sich in Paul Z., einen ihrer Gesprächspartner, ein 70jähriges Mitglied des ZK der SED. Am Tag der Maueröffnung 1989 bricht dieser nach einem Schlaganfall zusammen. Mit allen Mittel des Kriminalromans, – red herrings galore – wird dem Leser die Lösung vorenthalten. Paul hat nach seiner Verhaftung durch die Gestapo unter der Folter Namen der Inlandsleitung der KPD preisgegeben, die danach hingerichtet wurden. Das hat er in der DDR immer verschwiegen, aber der sowjetische Geheimdienst wusste es. Ein Sohn eines der Opfer von Pauls „Verrat“, ein erfolgreicher Filmregisseur, konfrontiert ihn schließlich an jenem Tag des Untergangs der DDR damit. Was zum Zusammenbruch Pauls führt.

Der Erzähler arbeitet mit allen Mitteln des perspektivischen Erzählens. Der erste Teil besteht aus Berichten, Notizen, Gesprächsprotokollen, die eine westdeutsche Journalistin von Marie und anderen beteiligten Personen erhält. Erst im kurzen zweiten Teil wird deutlich, dass dieses Material die Grundlage für einen Fernsehfilm war, den diese Journalistin mit besagtem Filmregisseur gedreht hat. Dieses Material erhält nun Marie zurück und kann damit beweisen, dass der Filmregisseur zwar zu Recht Paul seine Schwäche unter der Nazifolter vorhalten konnte, ihn aber zu Unrecht als Kollaborateur mit dem sowjetischen Geheimdienst diffamiert hat. Der ehrliche Aufklärer war also der Lügner.

Alexander von Plato kennt die Biografien vieler DDR-Bürger aus seiner Forschungsarbeit genau. Und er kennt die Fallstricke der „oral history“-Methode.

„Es kann doch sein, dass man sich immer aus anderen Geschichten und Bildern etwas zurechtklaubt, was zu den eigenen Erfahrungen oder Erlebnissen passt.“ 48

Auch Zeitzeugen sagen nicht immer die Wahrheit. Er hat aber keinen Schlüsselroman geschrieben. Die fiktiven Figuren sind zusammengesetzt aus Puzzleteilen realer Biografien.

Rote Fahnen Rote Lippen

Einen anderen Weg hat Marianne Brentzel beschritten. Sie hat schon 2011 einen Roman geschrieben, aber einen autobiographischen – ein Mittelweg zwischen Erinnerungsbuch (Jasper) und vollständiger Fiktionalisierung (Neitzke).

Hannah Heister heißt die Heldin (die Autorin wählt die Namen mit Bedacht), geboren 1943. Ihr Leben wird erzählt vom Beginn des Studiums 1963 in Berlin am Otto-Suhr-Institut (OSI) der Freien Universität bis zur Auflösung der Partei 1980. Es umfasst also die Entwicklung der Studentenbewegung von ihrem Anfang an bis zum endgültigen Ende ihrer Ausläufer. Die Erschießung Benno Ohnesorgs, das Attentat auf Rudi-Dutschke, die wichtigen Ereignisse werden in ihren Auswirkungen geschildert. Hannah ist zunächst Mitglied des Liberalen Studentenbunds 49, dann wechselt sie zur Proletarischen Linken (Pl/PI), einer locker organisierte Gruppe mit syndikalistischer Ausrichtung, die propagierte, dass Studenten in den Industriebetrieben arbeiten sollten. Hannah arbeitet als Fabrikarbeiterin bei SEL und Gilette. Aber bald ist sie enttäuscht:

„Von einem Haufen von Chaoten, der bald wieder auseinander lief, hatte sie genug.“ 50.

Da kommt die Aufforderung, in die gerade gegründete KPD-AO einzutreten, gerade richtig.

„Wahrscheinlich war die chinesische heute die richtige Form des politischen Kampfes. Auf keinen Fall würden die Genossen der KPD auf die verrückte Idee kommen, einen Art bewaffneten Kampf anzuzetteln.“ [a.a.O. S.103].

Die Motive der Ablehnung des bewaffneten Kampfes der RAF und des Bedürfnisses nach Stabilität und Orientierung, die auch Helmut Lethen erwähnt, werden auch hier deutlich.

Nun wird der Roman eine Parteigeschichte, erzählt aus einem ganz spezifischen Blickwinkel. Alle Personen sind erkennbar, wenn auch unter Pseudonym: der unheimliche Genosse Elroh ist Jürgen Horlemann, Genosse Olaf (Peter Neitzke) zerreißt ein Stalin-Bild und wird aus dem ZK ausgeschlossen. Katharina, die Große Ka, (Ruth Henning) beherrscht kompetent und mit flexibler Unnachgiebigkeit die regionale Leitung. Der Parteivorsitzende Brotler (Christian Semler) kommt nur am Rande vor. Hannah hat schon vor ihrem Parteieintritt einen kleinen Sohn und sie wird Funktionärin, zieht im Auftrag der Partei von Berlin nach Dortmund. Und was den Roman weit über eine Parteigeschichte hinaushebt, ist die Gestaltung dieses Konflikts zwischen privatem Familienleben und bedingungslosem Einsatz für die politische Organisation.

Diese Hannah ist eine Frau von heftigem Temperament, spitzer Zunge und erheblichem Tätigkeitsdrang. Auch nach einer unerfreulichen Weihnachtsfeier in der Parteizentrale hält sie daran fest:

„Der pausbäckige Familienalltag soll nicht meine Sache sein.“ 51

Aber sie sieht sich und ihre Genossen als

„Marionetten der selbstgesetzten Pflichten {…} ganz und gar nicht die allseits entwickelten Persönlichkeiten, die wir einmal werden wollten. Eher wie Hamster im Rädchen. Das Partei ist unsere Welt. Wir laufen und laufen und kommen uns sehr wichtig vor. Aber wir kommen keinen Meter voran.“

So beweint sie ihr Leben, „wusste am nächsten Morgen nicht mehr genau warum.“ 52Auf die Frage ihrer Pariser Freundin „Wozu das alles?“ antwortet sie

„Weißt du, es ist schwer zu erklären, weil es neben der inneren Überzeugung auch ein Leben in einem festen sozialen Umfeld ist.“ 53

Und sie lässt nicht locker, wird Mitglied der Regionalen Leitung Nordrhein-Westfalen, wiederum mit unterdrückten Selbstzweifeln:

„Warum wollte sie das eigentlich? War es Ehrgeiz, der sie trieb? Der Wunsch nach mehr Anerkennung?! Sicher spielten diese ‚erzbürgerlichen‘ Motive auch eine Rolle, wie sie Lena in Paris gestanden, aber hin zugefügt hatte, vor allem wolle sie ‚der Sache‘ besser dienen.“ 54

In dieser Funktion vertritt sie die vollständige Unterordnung aller persönlichen Bereiche unter den Primat der Politik auch gegenüber anderen. Einem Genossen, der sich weigert, von Duisburg nach Solingen umzuziehen, macht sie das klar und beschwichtigt danach ihre eigenen Zweifel.

„Er hätte nein sagen können, beruhigte sie sich. Über mein Leben bestimmt die Partei doch auch. So ist das nun mal, wenn man bei uns mitmacht. Anders geht es nicht.“ 55

Nach einer ausführlich geschilderten Abtreibung 56 bekommt sie problemlos in zweites Kind. Und doch bleibt der Zwiespalt:

„Familie, dachte Hannah in dieser Zeit häufig, Familie ist etwas Verrücktes. Eine Dennoch-Konstruktion. Man will sie und will sie doch nicht.“ 57

Eine China-Reise mit der Parteidelegation auf Einladung der Kommunistischen Partei Chinas sorgt für die endgültige Desillusionierung. Das Land der Utopie ist auch nur eine widersprüchliche Wirklichkeit. Am Ende steht die erlösende Selbstauflösung der Partei im Frühjahr 1980.

Der stille Held im Hintergrund, der das alles möglich macht, ist Hannahs Ehemann Rolf, das ist Hugo Brentzel 58, der langjährige Anwalt der Partei, der selbst kein Mitglied war, aber zahlreiche Genossen in ungezählten Prozessen verteidigt hat, mit denen Staatsanwaltschaften die Parteimitglieder überzogen. Er ist immer da, um die Kinder zu betreuen, wenn Hannahs Termine Vorrang haben, er ist da, um Hannah zu trösten in ihren Verzweiflungsnächten. Diese privaten Szenen, die die Parteiberichterstattung immer wieder unterbrechen, geben dem Bericht erst den Charakter eines Romans.

Der Roman hat aber noch ein zweites Element: in die Erzählung des Lebens Hannahs sind immer wieder Texte eingeschoben, die den Titel „Hildes Tagebuch“ tragen. Erst am Ende wird klar, dass Hannahs Freundin Hilde ihr dieses Tagebuch übergeben hat. (Ein ähnliches erzähltechnisches Manöver wie in Alexander von Platos Roman die Übergabe der Materialien der Journalistin Barbara an die Historikerin Marie.) Diese Texte erzählen bruchstückweise die Suche Hildes nach ihren Ursprüngen. Sie ist als Tochter einer KZ-Wärterin im KZ Ravensbrück geboren. In diversen Etappen der Erzählung wird deutlich, dass diese Herkunft für Hilde sowohl ein Grund war, sich der kommunistischen Partei anzuschließen als auch, dass sie diesen Grund für sich behalten will, ihn nicht der Partei als Argument zur Verfügung stellen will. Sie nimmt dafür in Kauf, von der Partei ausgeschlossen zu werden.

Diese Parallelgeschichte zu Hannahs Karriere, vertieft das Thema des Konflikts zwischen Privatheit und politischer Tätigkeit weiter: das richtige Motiv führt zur Trennung von der Partei, das falsche Motiv führt zum Aufstieg in der Partei.

Morelli verschwindet

Die literarische Spitze der Erinnerungsbücher dieser Autorengruppe ist Peter Neitzkes Roman „Morelli verschwindet“. Es ist Gegenwartssatire, Kritik der Erinnerungsliteratur, Abrechnung und Versöhnung mit der Vergangenheit – alles in einem. Ein Roman mit Bitterkeit und Humor, von einer überlegenen Reflektiertheit, die man in kaum einem anderen Roman finden wird. Und ein Lesevergnügen der herausfordernden, spannenden Art.59
Die Grundidee des Romans ist alles andere als naiv: Gregor Hellman, ein Barpianist, engagiert Frantz Morelli, einen Architekten, als Ghostwriter, der mithilfe von Hellmanns Notizen dessen Autobiographie schreiben soll. Alles ist hier verdreht und verspiegelt. Hellman klärt Morelli auf:

‚Schriftsteller {…} geben als Fiktion aus, was sich mehr oder weniger aus Elementen der eigenen Biographie zusammensetzt. Aber mit den üblichen Tricks die eigene Person verdunkelt. Mich interessiert das Umgekehrte: Wie, wenn das eigene Leben eine Fiktion ist? Wie löst man das literarisch?‘“ 60

Und Morelli versteht seine Rolle für Hellman als „eine Art produktiver Schatten, als investigatives Double, als Frageinstanz und handwerkliches Spaltprodukt.“ 61

Aber Morelli verschwindet, wirft seine Matratze samt Manuskripten aus dem Fenster seiner Wohnung im 5. Stock in den Fluss und reist ab, mit unbekanntem Ziel. Für Hellmann schreibt er nichts, die Dreitausend, die er als Anzahlungshonorar erhalten hat, gibt er nicht zurück. Der Roman wechselt nun ständig die Perspektiven zwischen Hellmann und Morelli. Hellmann sucht Morelli, meint ihm zu begegnen. Das gibt eine Reihe von satirischen Vignetten der Gegenwart: ein Besuch im Einkaufsparadies „Universum“, assistiert von einer digitalen Kaufberaterin, der mit marxistisch geschulter Begrifflichkeit endet:

„‚Keine Angst. Die Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums werden darauf verzichten, die Produktionsverhältnisse zu revolutionieren.‘ ‚Und was machen sie stattdessen?‘ ‚Sie finden ihr Betätigungsfeld in der Zirkulationssphäre.‘“ 62

Oder der Vortrag eines berühmten Künstlers in der Kunsthochschule:

„Sprechakte als Marktereignisse über den Planeten geschoben. Das Geschäftsfeld heißt performativer Ansatz oder performative turn.“ 63

Und ein Besuch in einer umgebauten Industriehalle, ein die „Chambers of Posthumus Fame. Nachruhm-Kammern.“ eingebaut wurden, kleine fensterlose Kubikel für Menschen, die verschwinden wollen. Dort gibt es auch „Kammern für Renegaten jeglichen {…} Kammern für Kommunisten einst konkurrierender Generallinien.“ 64.

Hellmann hat inzwischen in Morellis verlassener Wohnung Fragmente eines Adressbuchs gefunden, alles nur Adressen von Personen mit Anfangsbuchstaben K., ein Lateinlehrer, ein Zeitungsredakteur, ein Optiker, seine frühere Vermieterin, eine Stimmberaterin, eine Klavierlehrerin, eine Performerin. Die interviewt er nun nacheinander. Er erhält Auskünfte über Morellis Vergangenheit, aber keine über seinen derzeitigen Aufenthaltsort.

Im zweiten Teil wir nun aber deutlich, wohin Morelli verschwunden ist: nach Dubai, wo er die Endphase des dortigen Baubooms erlebt. Dort trifft er aber auch einen Schriftsteller. Das ergibt das „Kunstgespräch“ des Romans, in dem die Geheimnisse seiner Machart freigegeben werden. Der Schriftsteller empfiehlt Julio Cortazárs Methode:

Ironie, unablässige Selbstkritik, Inkongruenz, Phantasie in niemandes Diensten. {…} Du musst den Antiroman schreiben, ohne jede geschlossene Ordnung. Musst deine Leser zu Komplizen machen. Ihnen so etwas wie eine Fassade mit Türen und Fenster geben, nicht mehr. Dahinter werden sie jede Menge umaufgelöster Widersprüche {…} Sie werden hinter der Fassade mit Türen und Fenstern eine Welt aus Ruinen entdecken. Und jubilieren.“

Morelli entgegnet:

„Nur mit diesen Tricks schreibst du heute keine Erzählung. Die Form kann konventionell sein. Sie muss es nicht, sie kann. So konventionell, dass man verführt wird, in deine Geschichte einzutauchen. Und es eine Weile bei dir aushält. Brüche und Einbrüche musst du aufschieben. {…} Vor allem muss deine Erzählung eine Erzählung aus deiner Zeit sein, mit jeder Zeile. {…} Die Fassade ist die Konvention. Deine Ruinen sind nicht die Ruinen der Erzählform, das interessiert nur Theoretiker, sondern die Ruinen deiner Gegenwart. Wenn ich schreibe, berichte ich ja von Trümmern, von Staubwolken. Von der Jauche der Welt, in der ich lebe.“ 65

Dass dies nicht nur die selbstreferentiellen Pirouetten eines unentschlossenen Literaten sind, sondern wirklich das Vermächtnis des realen Peter Neitzke, wird immer wieder deutlich. Ein Gesprächspartner Hellmanns sagt zum Beispiel über Morelli:

„Sie wissen vielleicht, dass er irgendwann eine dieser linken Politsekten mitbegründet hat.“ 66

Und in einer der als „Fundsachen“ eingeschobenen Notizen Morellis heißt es:

„Morelli, hat ihm einmal einer gesagt, hier wird politisch argumentiert, nicht moralisch, moralisch war kleinbürgerlich, die eigene armselige Person ins Zentrum rückend, dein Name ist nicht Morali, hat der Parteisekretär einmal gesagt und dabei maliziös gelächelt, dein bürgerlicher Name ist Morelli, moralisch wird hier nicht argumentiert, um Moralisches ging es nicht, politisch war, die eigene Person in die Regie des Politischen zu nehmen, politisch war, die Leute danach zu beurteilen, wo sie standen, auf der richtigen oder der falschen Seite. Er ahnte, dass das grundfalsch war, riskierte aber mit den Genossen keinen Streit.“67

Vor dem Abschied aus der Wüste der Neubauruinen in Dubai zitiert Morelli im Selbstgespräch sich die Kritik der Trinitarischen Formel der Vulgärökonomie (Kapital, Boden, Arbeit) aus dem Dritten Band des Kapitals von Karl Marx 68, dass das wahre Reich der Freiheit nur auf dem Reich der Notwendigkeit als einer Basis aufblühen kann.

„Du suchtest hier dein privates Reich der Freiheit. Hat nicht geklappt, wie man sieht. Klappt nirgends, solange …“ 69

Schließlich treffen Hellmann und Morelli doch noch aufeinander, am Ostseestrand, verprügeln sich gegenseitig und spielen dann einträchtig auf Morellis Flügel [Peter Neitzkes Flügel] vierhändig Bill Evans Song „What are you doing the rest of your life?“. Morelli verweigert weiterhin die Biographie Hellmanns:

„Warum sollte er unbedingt sein Leben ausbreiten wollen, irgendeine Deprigeschichte.? {…} Eine Todesanzeige, falls sie denn jemand in die Zeitung gesetzt und ich sie (was sonst) zufällig entdeckt hätte, würde mich nicht erstaunen.“ 70

Am 13.5.2015, kurz vor dem Erscheinen dieses Romans, ist Peter Neitzke gestorben.

 

Literaturliste:

  • Marianne Brentzel, Rote Fahnen Rote Lippen. Roman. Edition Ebersbach, 2011
  • Helmut Lethen, Suche nach dem Handorakel. Ein Bericht. Göttingen: Wallstein, 2012
  • Alan Posener, „Was ich der KPD verdanke (1-3)“. starke-meinungen.de, 25.6.2013
  • Christian Semler, Kein Kommunismus ist auch keine Lösung. Texte und Essays. Hg. v. Stefan Reinecke und Mathias Bröckers. Berlin: taz, 2.Auflage, 2013
  • Peter Neitzke, Morelli verschwindet. Roman. Lohmar: Hablitzl, 2015
  • Willi Jasper, Der gläserne Sarg. Erinnerungen an 1968 und die deutsche „Kulturrevolution“. Berlin: Matthes & Seitz, 2018
  • Alexander von Plato, Verwischt. Eine Liebe in Deutschland 1989. Berlin: neobooks, 2019
  • Helmuth Lethen, Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Berlin: Rowohlt, 2020
  • Marianne Brentzel, Rathaussturm. Vechta: Geest-Verlag, 2021

Sekundärliteratur:

  • Klaus Birnstiel, „Gelehrtenexoterik. Einige akademisch-intellektuelle Erinnerungs- und Notizbücher.“ in: Merkur 67 (2013), S. 354-360.
  • Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht, 1998
  • Dorothea Kraus, Theater-Proteste. Zur Politisierung von Straße und Bühne in den 1960er Jahren. Frankfurt: Campus, 2007
  • Andreas Kühn, Stalins Enkel, Maos Söhne. Die Lebenswelt der K-Gruppen in der Bundesrepublik der 70er Jahre. Frankfurt/M, New York, Campus 2004.
  • Michael Rutschky, Erfahrungshunger. Ein Essay über die siebziger Jahre. Köln: Kiepenheuer& Witsch, 1980
  • Karl-Heinz Schubert, „Zur Geschichte der westberliner Basisgruppen“, aus: Aufbruch zum Proletariat. Dokumente der Basisgruppen, eingeleitet und ausgewählt von Karl-Heinz Schubert, Westberlin 1988
  • Benedikt Sepp, Das Prinzip Bewegung. Theorie, Praxis und Radikalisierung in der West-Berliner Linken 1961-1972. Göttingen: Wallstein, 2023

 

  1. 16.5.1941-31.3.2022
  2. -17.12.2022
  3. 11.6.1945-3.2.2023
  4. 31.5.1943-15.3.2023
  5. Elisabeth Weber war 1970 der führende Kopf der Roten Zelle Germanistik an der Berliner FU und dann bis 1980 Mitglied der Leitung der KPD(ehemals AO). Nach 1980 war sie Mitarbeiterin verschiedener Bundestagsabgeordneter der „Grünen“ und entscheidend beteiligt an der Vorbereitung der Fusion von Bündnis 90 und „Die Grünen“. Nachruf Böll-Stiftung, Nachruf Havemann-Gesellschaft
    Ruth Henning war ebenfalls Mitglied des ZK der KPD(ehemals AO). Nach 1980 unterstützte sie die polnische Opposition, lebte zeitweise in Polen und gründete die Deutsch-Polnische Gesellschaft Brandenburg. Nachruf Märkische Oderzeitung
    Willi Jasper war 1976-1980 Chefredakteur der „Roten Fahne“, der Wochenzeitung der Partei. Seit 1994 war er Professor für Neuere deutsche Literatur- und Kulturgeschichte und Jüdische Studien an der Universität Potsdam. Gespräch Deutschlandfunk 2022
    Antje Vollmer, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags von 1994-2005, „trat der Partei {KPD-AO} nicht bei“ und war nur Mitglied der „Liga gegen den Imperialismus“, einer Tochterorganisation der KPD, hat aber durch ihre unter Pseudonym (Karin Bauer) veröffentlichte Biografie Clara Zetkins (Oberbaum Verlag, Berlin 1978) und einen Artikel zur Frauenfrage in der „Roten Fahne“ jedenfalls Einfluss auf die frauenpolitische Linie der Partei genommen. Nachruf taz
    Dass diese Personen hier vor allem in ihren Funktionen in den Jahren 1970-1980 erwähnt werden, bedeutet nicht, dass ihre späteren Tätigkeiten und Positionen nicht zu würdigen wären. Alle hier genannten haben nach 1980 bedeutende Beiträge zur Politik und Kultur in Deutschland geleistet, die hier nicht im Einzelnen erwähnt werden können. Was sind schon diese 10 Jahre gegen die 30 oder 50 folgenden!
  6. 7.12.1941-24.5.1995 Nachruf Südostasien Informationen
  7. 13.12.1938-13.2.2013 taz Übersicht über Nachrufe, Drei taz-Erinnerungen
  8. 21.8.1938-15.3.2015 Nachruf Bauwelt
  9. Jürgen Horlemann, Christian Semler und Peter Neitzke waren das Gründungs-Triumvirat der KPD-Aufbauorganisation, die Ende 1969 aus der Auflösung des Berliner SDS und der RPK-Konferenz hervorging. Die KPD-AO wurde auch spöttisch „Semler-Horlemann-Neitzke-Gruppe“ genannt.
  10. Eine ausführliche Darstellung der K-Gruppen, einschließlich der KPD-AO, als Gegenstand historischer Forschung ist: Andreas Kühn, Stalins Enkel, Maos Söhne. Die Lebenswelt der K-Gruppen in der Bundesrepublik der 70er Jahre. Frankfurt/M, New York, Campus 2004.
    Der Nachteil dieser aus zeitlicher und intellektueller Distanz zur ML-Bewegung geschriebenen Arbeit ist die Faszination des Autors für die abstoßenden Züge seines Gegenstands. Er sammelt alle verwerflichen oder verwunderlichen Praktiken und Auffassungen, die er finden konnte (und das sind zu Recht viele). Ein Bemühen, die Motive der damals Handelnden zu verstehen, außer in den distanzierten Formeln der Sozialpsychologie, geht ihm völlig ab. Zudem behandelt er die drei Organisationen KPD-AO, KPD/ML und KBW im Zusammenhang und wird damit der KPD(ehemals AO) vor allem in den letzten zwei Jahren ihrer Existenz nicht gerecht. Eine Einordnung in die politischen Entwicklungen in Deutschland und der Welt der 70er Jahre fehlt völlig (vgl. die Rezension von Thomas Dannebaum). Eine sehr viel tiefergehende Analyse der Entstehung der KPD-AO findet sich in der Dissertation von Benedikt Sepp, Das Prinzip Bewegung. Theorie, Praxis und Radikalisierung in der West-Berliner Linken 1961-1972. Göttingen: Wallstein, 2023. Sepp erklärt die fortschreitende Selbstverhärtung und Selbstabschließung der KPD-AO damit, dass im Gegensatz zur vorangehenden Studentenbewegung die Theorie als wahr und gültig vorausgesetzt wurde, und somit, wenn die „Bewegung“ weiter fortschreiten sollte, nur die unzureichende Umsetzung der Theorie in die Praxis als Erklärung möglich war. (Zur KPD-AO: S.270-303)
  11. Semler, S.32, taz 1998. Die abgekürzten Zitatnachweise verweisen auf die Literaturliste am Ende
  12. Der Schreiber dieser Zeilen war 1970 Mitglied der Roten Zelle Germanistik der FU Berlin, dann bis 1976 des Kommunistischen Studentenverbandes (KSV), danach Mitarbeiter der Zeitschriften „Kämpfende Kunst“, „Kunst und Gesellschaft“ und „Spuren“ und 1978-1980 Kulturredakteur der Wochenzeitung „Rote Fahne“ der KPD(ehemals AO).
    Meine Aufgabe war die Öffnung der Zeitung zur allgemeinen Öffentlichkeit. Also schrieb ich vor allem Rezensionen von aktuellen Filmen und Romanen. Meine Artikel waren insofern erfolgreich, als sie viele empörte Leserbriefe nach sich zogen. Schließlich gab es im Umkreis der Partei viel kompetentere Beurteiler als diesen wenig belesenen Jungspund.
    Der Satz „war nie Mitglied der Partei“ hat in Deutschland eine anrüchige Tradition, aber in diesem Falle ist er unvermeidlich. Ich war in verschiedenen Funktionen subalterner Mitarbeiter der Parteizentrale in Dortmund und dann in Köln, ohne Mitglied der Partei zu sein. Als man mir 1979 den Aufnahme-Antrag aushändigte mit der Bemerkung, ich sei nur vergessen worden, hatte ich mit der „Rote Fahne“-Redaktion bereits für die Auflösung der Partei plädiert und gab das Formular nicht zurück.
  13. Lethen, Handorakel, S. 11
  14. ehemaliges  Mitglied der regionalen Leitung Nordrhein-Westfalen der KPD und Mitglied der Parteidelegation in China 1979
  15. Brentzel, S.175
  16. Semler S. 80, taz 2001
  17. In seiner 2020 erschienen Autobiographie „Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Erinnerungen“ greift Lethen für die hier interessante Phase von 1969 bis 1980 auf seinen älteren „Bericht“ zurück und fügt wenig Neues hinzu.
  18. Lethen, Handorakel S. 72
  19. Lethen, Handorakel S.21
  20. Lethen, Handorakel, S.25
  21. Lethen, Handorakel, S. 27
  22. Lethen, Handorakel, S. 14
  23. Lethen, Handorakel, S. 13
  24. „Die erste Etappe des Aufbaus der Kommunistischen Partei des Proletariats“ Thesenpapier von Semler, Horlemann, Neitzke, Hartung, Chr. Heinrich, Jasper. Darstellung des Ablaufs der Konferenz, in: Karl-Heinz Schubert, „Zur Geschichte der westberliner Basisgruppen“, aus: Aufbruch zum Proletariat. Dokumente der Basisgruppen, eingeleitet und ausgewählt von Karl-Heinz Schubert, Westberlin 1988
  25. Die Partei aufbauen. Plattformen, Grundsatzerklärungen. Berlin, 1971
  26. Alan Posener, Was ich der KPD verdanke 1-3. starke-meinungen.de
  27. Alan Posener, Was ich der KPD verdanke 3. starke-meinungen.de
  28. zit. bei Jasper, S. 53
  29. Lethen, Handorakel S. 19. Die erste deutsche Ausgabe der Schriften des Bühnenbildners und Theaterreformers Edward Gordon Craig (1872-1966) wurde 1969 von den späteren KPD-AO Gründungsmitgliedern Elisabeth Weber und Dietrich Kreidt herausgeben: Edward Gordon Craig, über die kunst des theaters. Berlin: Gerhart Verlag, 1969
  30. Jasper, S.58-63
  31. Eine ausführliche Darstellung der Ereignisse im Zusammenhang mit dieser Inszenierung durch einen der Beteiligten findet sich in Wolfgang Schwiedrziks Beitrag „Theater als ‚Aktion'“ in: Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht, 1998, S. 224-238
  32. Eine Darstellung der politischen Entwicklung der Schaubühne am Halleschen Ufer zwischen 1960 und 1970, geschrieben aus der Distanz von vierzig Jahren, findet sich in der Dissertation von Dorothea Kraus, Theater-Proteste. Zur Politisierung von Straße und Bühne in den 1960er Jahren. Frankfurt: Campus, 2007, S.281-301.
  33. Jasper, S.133
  34. Ingrid Gilcher-Holtey, S. 238
  35. „Der Apparat war ein selbstdestruktiver Trichter, der Bewegungsenergien im Selbstlauf von Wiederholungen im Inneren verschlang, aber in der unübersichtlichen Situation der 70er Jahre stabilisierende Wirkung nach außen hatte.“ Lethen, Handorakel, S.18
  36. Jasper, S.33
  37. Lethen, Handorakel,S. 18
  38. Wir warn die stärkste der Partein… Erfahrungsberichte aus der Weit der K-Gruppen, Berlin 1977
  39. Michael Rutschky, Erfahrungshunger. Ein Essay über die siebziger Jahre. Köln: Kiepenheuer& Witsch, 1980. Ist „Germanist L.“ in Rutschkys Darstellung des Germanistentags in Berlin 1968 im ersten Kapitel des Essays wirklich Helmut Lethen?
  40. Posener, Teil 3
  41. Semler, S. 167
  42. Semler, S. 34-36
  43. Walter Benjamin, Illuminationen S. 413, zit. bei Lethen, Handorakel S.51f
  44. (*1942). Seine Dissertation Zur Einschätzung der Klassenkämpfe in der Weimarer Republik. KPD und Komintern, Sozialdemokratie und Trotzkismus. Oberbaumverlag, Berlin 1973 prägte das historische Verständnis der KPD-AO-Kader entscheidend. Er war dann Leiter des Jugendverbandes KJVD der KPD.
  45. v. Plato, S. 302f
  46. v.Plato, S. 304
  47. von Plato, S.283f
  48. v. Plato S. 312
  49. Der Liberale Studentenbund Deutschlands war eigentlich der Studentenverband der FDP, hatte sich aber bereits in den 60er Jahren von der FDP gelöst und verstand sich als Bestandteil der „sozialistischen Opposition.“
  50. Brentzel, Rote Fahnen S.102
  51. a.a.O. S.141
  52. a.a.O. S.142
  53. a.a.O., S. 157
  54. a.a.O., S. 160
  55. a.a.O., S.209
  56. Die nicht, wie im Klappentext steht, von der Partei „diktiert“ ist, sondern auch von ihr gewollt. Ihr erste Reaktion auf die Feststellung der Schwangerschaft beim Gynäkologen ist „Das will ich nicht, kein Kind und keine Herztöne.“ Später wiederholt sie „Ich will es {die Abtreibung} auch“ S.202
  57. a.a.O., S.226
  58. ✝︎2017
  59. vgl. die Rezension von Andreas Platthaus in Frankfurter Allgemeine Zeitung 12.5.2015
  60. Neitzke, S.24
  61. a.a.O, S. 57
  62. a.a.O., S. 32
  63. Oa.a.O., S. 34
  64. a.a.O., S.45-47
  65. a.a.O. S.118f
  66. a.a.O, S. 76
  67. a.a.O, S.51
  68. Karl Marx, Das Kapital Bd. III. 48. Kapitel, in: MEW Bd. 25, S. 828
  69. a.a.O., S.125
  70. a.a.O., S.139

Warum gibt es Theaterkritik?

In der Folge der Diskussion über Theaterkritik nach der Hundekot-Attacke auf die Tanzkritikerin Wiebke Hüster, hat Thomas Rothschild in einem Nachtkritik-Kommentar zu einem Essay Christine Wahls nach der Begründung von Theaterkritik gefragt:

„Was mir fehlt, ist eine Begründung dafür, dass Schauspielern, Regisseuren, Choreographen abverlangt wird, was den meisten Berufsgruppen erspart bleibt. Dass den Künsten Kritik gegenübersteht, ist ja kein Naturgesetz. Es ist eine historisch entstandene Tradition, die man begrüßen kann, aber nicht muss.“

Im Folgenden ein kleiner Begründungsversuch:

Es gib keine Kritik der Müllabfuhr und keinen Applaus für sie. Aber die Ranking-Mode breitet sich überall aus, auf Kaffeemaschinen, Software, Ärzte, Romane, Filme usw. Andreas Reckwitz hat das als Symptom der Gesellschaft der Singularitäten analysiert. Auch das Genre der Rezension breitet sich ausgehend von der Literatur in alle Bereiche aus. (Lehrerkritiken gibt es in jeder Abiturzeitung.) Aber für die Theaterkritik gibt es andere Begründungen, unabhängig von der gegenwärtigen Veränderung der Kommunikationsstrukturen durch das Internet.

Zum einen ist Theaterkritik Kunstkritik. Kunstrezeption provoziert ästhetische Urteile. Man kommt nicht aus einer Kunstausstellung heraus, ohne sie gut oder schlecht oder irgendwie gefunden zu haben. Ästhetische Urteile (da kommt man an Kant nicht vorbei) sind keine allgemeingültigen Urteile über Tatsachen, sondern sie tun nur so, als ob sie allgemeingültig seien, sie „sinnen Zustimmung nur an“. Sie fordern Widerspruch und Diskussion heraus.

Zum anderen ist Theaterkritik die Kritik eines kollektiv erlebten öffentlichen Ereignisses. Man geht nicht vereinzelt im eigenen Tempo in einem Raum von Kunstobjekten, sondern man erlebt eingepfercht neben anderen die simultane Gegenwart von Schauspielern. Das erhöht den Gesprächsbedarf im Vergleich zu anderen Kunstformen. Zuschauer entscheiden gelegentlich über einen möglichen Theaterbesuch anhand von Kritiken, aber sie gleichen auch ihr Erlebnis eines Theaterbesuchs mit der Bewertung durch eine professionelle Kritik ab. Theateraufführungen diskutierbar zu machen, ist auch eine Begründung für Theaterkritik. Das ist die Leistung, die sie für Zuschauer erbringt.

Dass die Theatermacher wie alle Künstler abwertende Urteile über ihre Werke nicht mögen, ist verständlich. Kunst will Affirmation. Aber die Einsicht, dass die Kunst nur Bedeutung hat, wenn sie in den offenen gesellschaftlichen Diskurs gerät, dürfte auch jedem Künstler klar sein, auch wenn er im Schaffensprozess sich nicht daran orientiert. Dabei muss es auch abwertende ästhetische Urteile geben. Wenn es nur zustimmende Urteile im öffentlichen Diskurs gäbe, würde die diskursinitiierende Funktion von Kritik beschränkt. Man kann die alte Regel, Verrisse kurz, Hymnen lang, beherzigen, aber die Achtung vor den Künstlern sollte durch die Erlebenskomponente (d.h. den Ärger des Rezensenten) nicht völlig verdrängt werden.

Eine unterhaltsame Satire der „Positivgesellschaft“ lieferte übrigens Rebekka Kricheldorfs Theaterstück „Homo empathicus“ schon 2014.

Kot auf Kritiker – Zur Attacke des Choreografen Marco Goecke auf die Tanzkritikerin Wiebke Hüster

Am 11.2.2023 hat Marco Goecke, der Ballettdirektor der Staatsoper Hannover, in der Pause der Premiere des Tanzabends „Glaube, Liebe, Hoffnung“ Wiebke Hüster, die Tanzkritikerin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, tätlich angegriffen. Im Verlaufe einer Auseinandersetzung um abwertenden Kritiken Wiebke Hüsters über Goeckes Choreographien, zog Goecke einen Beutel mit Hundekot seines Dackels Gustav aus der Tasche und schmierte den Inhalt Hüster in Gesicht. Die Staatsoper Hannover hat Goecke daraufhin suspendiert und ihm Hausverbot erteilt. Kurz darauf wurde er fristlos entlassen.

Marco Goeckes Aktion war eine Performance. Alle Merkmale treffen zu: vor Publikum, existenzielles Risiko des Künstlers, Grenzüberschreitung, Entfiktionalisierung der Kunst. „Sie hat mich auch jahrelang mit Scheiße beworfen“, sagt Marco Goecke. Es ist also nicht nur eine Aktion, die Gleiches mit Gleichem vergelten will, sondern auch die Umsetzung einer sprachlichen Metapher in körperliche Aktion. Und das, genau, ist Marco Goeckes berufliche Tätigkeit als Choreograph. Hier hat also jemand den Unterschied zwischen Kunst und Wirklichkeit vergessen. Und diesen Unterschied vergessen zu machen, ist eine der gängigen Strategien der gegenwärtigen Kunst. Es ist ein Fall von Realitätsverlust. Was in der Kunst ein Effekt ist, ist in der Wirklichkeit eine Straftat.

Tobi Müller hat in seinem Kommentar darauf hingewiesen, dass die Verschärfung des Klimas zwischen Theaterkritik und Theaterkunst oder die Verschärfung der traditionellen Abneigung der Theatermacher gegen die Kritiker auch aus den Existenzängsten beider Seiten kommt. Beide Seiten haben einen erhöhten Bedarf an öffentlicher Aufmerksamkeit, weil die Bedeutung und Beachtung ihrer Tätigkeiten in der Öffentlichkeit abnimmt. Invektiven erhöhen die Aufmerksamkeit. Beschimpfungen bringen mehr Klicks als Komplimente.

Karin Beiers mittlerweile häufig zitiertes Bonmot von der „Scheiße am Ärmel“ 1 ist dagegen nur eine verbale Entgleisung, mit der sie begründet, warum sie keine Kritiken liest. Sie beschreibt damit die Wirkung nicht nur negativer, sondern auch uninformierter Kritiken. Und da muss sich die Theaterkritik auch an die eigene Nase packen. Durch die prekäre finanzielle Stellung der Theaterkritik sinkt auch ihr durchschnittliches Niveau. Es gibt heute weder den Raum (eine verfügbare Zeichenanzahl in einem öffentlichen Medium) noch die Gründlichkeit der Beschreibung und Analyse, die Theaterkritiken von Rolf Michaelis oder Hellmuth Karasek hatten (um bei den Hamburger Beispielen zu bleiben). Wer heute Theaterkritiken schreiben will, kann nicht davon leben. Wer heute Theaterkritiken schreiben will, muss die Kunst des schnellen prägnanten, kurzen Schreibens beherrschen. Und damit wird man kaum ein ernstzunehmender Gesprächspartner für die Theatermacher.

Marco Goecke hat Karin Beiers beiläufigen Vulgarismus in die Tat umgesetzt, als Racheakt. Wiebke Hüsters unmittelbar vorausgegangene Kritik an Goeckes Den Haager Tanzabend „In the Dutch Mountains“ ist ein Beispiel für das gängige Stilmittel der Übertreibung: „Man wird beim Zuschauen abwechselnd irre und von Langeweile umgebracht. Dazwischen kommen ab und an zwei genialische, stimmige Minuten.  … Es ist eine Blamage und eine Frechheit, und beides muss man dem Choreographen umso mehr anlasten …“ (FAZ 11.2.2023)] Aber auch ein persönlicher Angriff. Bei persönlichen Angriffen auf Theatermacher in Kritiken („blutigen“ Verrissen) muss man mit Gegenreaktionen rechnen. Aber sie müssen verbal bleiben (Die Kommentarfunktion bei nachtkritik.de bietet da ja ein Forum). Dass Wiebke Hüster zwanzig Jahre lang versucht habe, Goecke publizistisch zu vernichten, trifft nicht zu. Zum Beispiel rühmte sie noch vor kurzem Goeckes „großartige Umsetzung von Marguerite Duras‘ Roman „Der Liebhaber“ und verband das mit der ausdrücklichen Werbung für den Theaterbesuch (FAZ 26.10.2022 und 01.03 2021). Und 2012 lobte sie ausführlich Goeckes Stuttgarter Choreografie zu „Dancer in the Dark“ (FAZ 1.12.2012)

Kot auf Kritiker:innen ist auch die Verschärfung des Prinzips Kartoffelbrei auf Kunst. Symbolische Kommunikation nimmt in der Öffentlichkeit einen immer größeren Raum ein. Wer etwas zu sagen hat, sagt es durch die Blume (oder durch Aktion). Demonstrationen werden Theateraufführungen immer ähnlicher (wie schon das Bundesverfassungsgericht 1984 in seiner Entscheidung zum „Anachronistischen Zug“ festgestellt hat). Analoge, auf Ähnlichkeit basierende, Kommunikation ist effektiver, wenn es um affektive Wirkungen geht, als verbale. Goecke hat also mit den Waffen zugeschlagen, die ihm zur Verfügung stehen. Nur hat er sich in der Wirkung verrechnet. Der körperliche Ausdruck seiner emotionalen Befindlichkeit kann nicht wie auf der Bühne mit der Empathie der Zuschauer rechnen. Im Gegenteil, der Ekel trifft ihn, das Mitleid die Kritikerin. Hat wirklich niemand die Szene im Foyer des Hannoveraner Theaters mitgefilmt?

Zusatz:

Marco Goecke hat drei Tage nach dem Vorfall nun ein Schreiben vorgelegt, das er als Entschuldigung versteht. „Ich möchte mich bei allen Beteiligten, an erster Stelle bei Frau Hüster, für meine absolut nicht gutzuheißende Aktion aufrichtig entschuldigen. Im Nachhinein wird mir klar bewusst, dass dies eine schändliche Handlung im Affekt und eine Überreaktion war.“

Der Sprachgebrauch des Übeltäters „ich entschuldige mich“ ist heute allgemein üblich, aber natürlich muss es es heißen, „ich bitte um Entschuldigung“. Die Schuld vergeben kann nur derjenige, dem Übles angetan wurde, nicht der Übeltäter. So wird die Redewendung „Entschuldigung …“ zur Rechtfertigung für Dreistigkeit. Man kennt das, wenn sich einer mit einem gemurmelten „Entschuldigung“ vordrängelt.

Außerdem schreibt er, dass es für alle Medien angebracht sei, „eine gewisse Form der destruktiven, verletzenden und den gesamten Kulturbetrieb schädigenden Berichterstattung zu überdenken“. Die Kulturkritik müsse sich fragen, wo sie „die Grenze zur Beleidigung, Verunglimpfung der Werke, zum Mobbing, zum Versuch negativer Meinungsmache und zur Geschäftsschädigung verletzt“. (SZ 14.02.23). Er rechtfertigt seine Attacke also auch wieder, zeigt kein Verständnis dafür, dass die Kunst nur im Meinungsstreit eine gesellschaftliche Bedeutung gewinnt.

Wenn man in Wiebke Hüsters kompetenter und ausgewogener Kritik von „In the Dutch Mountains“ „verletzende Berichterstattung“ finden will, kommt nur das Wort „Frechheit“ in Frage. Das ist eine moralische Wertung, die ausdrücklich auf die Person des Choreographen bezogen ist. Es ist keine Verbalinjurie, keine Beleidigung und moralische Wertungen sind in der Öffentlichkeit erlaubt, sogar nötig (Politiker wissen ein Lied davon zu singen). Moral ist auch Achtungskommunikation und die muss öffentlich sein. Es ist aber eine Frage der Selbstkontrolle der Kritikerin oder des Kritikers, ob man sich zu solchen Ausfällen gegen eine Person hinreißen lässt. Jedenfalls muss man (oder will man) mit Reaktionen rechnen. Allerdings nicht mit Hundekot.

Die deutlichste Abwertung Goeckes durch Hüster findet sich bezeichnenderweise in ihrem Blog Aufforderung zum Tanz von 2012: „Marco Goecke, dessen nichtssagende Nullitätentänze kein Mensch braucht.“  Dieses Zitat steht im Zusammenhang einer wertenden tour d’horizon durch die deutsche Ballettszene, die kein gutes Haar an den deutschen Ballettdramaturgien lässt, mit Ausnahme von Düsseldorf und München. Dass sich dieses Zitat in einem Internet-Blog findet, zeigt vielleicht eine der Ursachen der Verschärfung des Tons zwischen (manchen) Kritikern und (einigen) Theaterleuten. Das Internet ist eine „Affektmaschine“ (Andreas Reckwitz), die Hemmschwelle zur ungezügelten Emotionalität wird kleiner im Vergleich zu einer auf Papier gedruckten Zeitung. Kriterien für einen guten Blog sind schließlich Reaktionsgeschwindigkeit, Aktualität, Direktheit und Subjektivität. In der Eindämmung solcher kunstkritischer Tiefschläge ist nachtkritik.de mit ihrem Kommentarkodex vorbildlich.

  1. Hier der entscheidende Abschnitt des Interviews transkribiert: „Und da denke ich, wir begegnen uns auch nicht auf ein Niveau, dass mir das wirklich interessant ist. Und dann das im Verhältnis zu, was dann leider kleben bleibt. Also wirklich, wie schön Deutsch gesagt, wie Scheiße am Ärmel, denke ich, ne, mache ich nicht.“

Friendly Fire – Das Berliner Theatertreffen unter Beschuss Teil 2

Anmerkungen zu Interviews zum Berliner Theatertreffen

Im Juli 2022 gaben die Berliner Festspiele bekannt, dass die neue Leitung des Berliner Theatertreffens aus dem Vierer-Team Olena Apchel, Marta Hewelt, Carolin Hochleichter und Joanna Nuckowska bestehen wird. Intendant Matthias Pees erklärte dazu, dass durch dieses Team das Theatertreffen „stärker mit dem mittel- und osteuropäischen Raum vernetzt werden“ solle
Es folgte ein kleiner Wirbel in den öffentlichen Diskussion, viele Kommentare äußerten ihr Unverständnis oder Skepsis für diese Entscheidung, z.B. Christian Rakow. Daraufhin blickte man zurück auf ein Interview, das Matthias Lilienthal und Amelie Deuflhard schon im Mai auf der Web-Site des Theatertreffens veröffentlich hatten. Und schließlich gab Matthias Pees selbst zwei Interviews, eines auf Nachtkritik, das andere im „Spiegel“, in denen er seine Absichten erklärte.

Im Folgenden werden – wie in „Friendly Fire – Teil 1“ – einige Sätze aus diesen drei Interviews kommentiert, weil sie eine allgemeine Bedeutung haben. Dabei steht (ML) für Matthias Lilienthal, (AD) für Amelie Deuflhard, (Pees) für Matthias Pees.

Kritik am bestehenden Juryverfahren

„Das „Best of“ ist kein zukunftsweisendes Prinzip.“ (AD)

Die umsichgreifende Expansion von Ranking-Listen auch im Theaterbereich spricht dafür, dass „best of“ zumindest ein aktuelles Prinzip ist. Andreas Reckwitz erklärt, warum gerade auf Singularitätsmärkten (wie dem Theaterbetrieb) Rankings („quantitative Techniken zur Repräsentation von Besonderheiten“) nötig sind1 Im endlosen Aufmerksamkeitswettebwerb der einzigartigen Inszenierungen muss Sichtbarkeit erzeugt werden. Dazu dienen Rankings. Das Theatertreffen-Prinzip der Auswahl von zehn gleichberechtigten Inszenierungen ist da vorsichtiger. Die Jury hat sich immer gegen eine Rangfolge unter den 10 gewehrt. Das wahrt einigermaßen die Singularität, die Unvergleichbarkeit, des Kunstwerks. Jede Auswahl nach dem „best of“-Prinzip steht aber unter dem Zwang, ihren Auswahlbereich zu definieren und tatsächlich vollständig zu erfassen. Daher die Beschränkung auf das deutschsprachige Gebiet und die intensive Reisetätigkeit der Juroren.

„Mittlere und kleinere Theater werden in einem viel höheren Maße von der Jury besucht als es sich dann in der Endauswahl niederschlägt“. (Pees)

Dies ist ein Grundproblem des Theatertreffens. Aber es hat auch seinen Stellenwert im System. Man kann das deutsche, Schweizer und österreichische Stadt- und Staatstheatersystem als autopoietisches System verstehen, das in sich stabil ist und sich selbst regenerieren kann. Es ist auch resonanzfähig, kann auf seine Umwelt (andere gesellschaftliche Subsysteme, andere Theatersysteme) reagieren. Ein solches System braucht Elemente zur Selbstbeobachtung, selbstabbildende Subsysteme. Das Theatertreffen war immer ein solches Subsystem zur Selbstbeobachtung des deutschsprachigen Theatersystems. Der deutsche Bühnenverein ist ein anderes, mit anderen Leitunterscheidungen. Die spezifische Differenz des Subsystems Theatertreffen ist „ästhetisch bemerkenswert/ nicht bemerkenswert“. Die Theater als Subsysteme des großen Theatersystems interagieren vielfältig miteinander. Schauspieler wechseln, Dramaturgen diskutieren, Intendanten fahren Karussell, Autoren bekommen Preise usw. Aber wie nimmt das Gesamtsystem sich selbst wahr? Ohne Selbstbeobachtung ist keine Nachjustierung der Interaktionen, keine Veränderung von Strukturen möglich.

Das Theatersystem wird aber auch finanziell gesteuert. Häuser in großen Städten haben größere Etats als in kleinen Städten. So entsteht auch ein Markt für Schauspieler, Regisseure, Intendanten, Bühnenbildner, Produktionsleiter usw. Es ist daher nicht überraschend, dass der ästhetische Singularitätenmarkt mit dem finanziellen Markt korreliert. Die besten Regisseure gegen dort hin, wo sie am meisten verdienen oder zumindest die besten Arbeitsbedingungen haben. Diese Korrelation ist nie perfekt. Das Theatertreffen verdankt seine Entstehung der Tatsache, dass diese Korrelation von Kunst und Geld nach 1945 sehr undeutlich war. Das ästhetische Zentrum der Theaterkultur in der Bundesrepublik wanderte zwischen 1945 und 1989 von Darmstadt (Sellner, Hering) nach Bremen (Hübner, Zadek) nach Bochum (Zadek, Peymann) nach Berlin (Stein, Grüber). Da brauchte man ein künstliches Zentrum zum Abgleich der Wahrnehmungen. Nach 1989, durch die Einbeziehung der ehemaligen DDR und der Entwicklung Berlins zur tatsächlichen Hauptstadt, gab es ein natürliches Zentrum, die Korrelation von Kunst und Geld wurde perfektioniert. Aber dennoch braucht das System ein Element zur Selbstbeobachtung als ganzes System. Ohne Provinz keine Hauptstadt. Die vielfältigen Interaktionen, die Aufstiegsmöglichkeiten und internen Differenzen der Subsysteme machen die Stabilität des Gesamtsystems aus. Die permanente Selbstbeobachtung ist notwendig zur Durchlässigkeit des Gesamtsystems. Die Bedeutung des Theatertreffens für die kleinen Theaterstädte liegt nicht nur in den Einladungen (die selten sind), sondern in der Permanenz der Beobachtung.

Kritik der Theaterkritik

„Theaterkritiker:innen sind genauso wenig neutral oder objektiv wie wir.“ (AD)
„Als Dramaturg verstehe ich mich auch noch immer als eine Art Kritiker.“ (Pees)

Natürlich urteilen Theaterkritiker nicht objektiv. Christine Wahl formuliert das Credo der Theaterkritike:rinnen: „Es gibt aber eine Überzeugung, die uns alle verbindet: Das ewig Plurale zieht uns hinan.“  2. Ästhetische Urteile sind nie objektiv. Ein ästhetisches Urteil sinnt jedem Zustimmung nur an3, d.h. es muss argumentieren, um Überzeugungskraft zu gewinnen. Diese subjektive Allgemeinheit des Kritikers oder der Kritikerin ist aber eine andere als die des Dramaturgen. Ein Dramaturg mag intern ein genauso scharfer Kritiker einer Inszenierung sein wie ein Zeitungsschreiber. Aber nach außen, gegenüber den Zuschauern und der Öffentlichkeit, muss er vorsichtig sein. Er hat ein Interesse an einem positiven Urteil. Seine Vertragsverlängerung hängt auch davon ab, wie weit es ihm oder ihr gelingt, zur Zuschauergewinnung, zur positiven Reaktion in der Öffentlichkeit oder zum kreativen Klima im Haus beizutragen.

Wenn mehrere Medien eine Inszenierung beurteilen, wird die Subjektivität der Urteile ja deutlich. Dass es Kritiker gab, die die Subjektivität hinter kategorischen Lobeshymnen und Verrissen versteckten, im Ton des autoritativen ex-cathedra-Urteils schrieben, lag ja am Selbstbehauptungswillen der Zeitungsschreiber in einer differenzierten Medienlandschaft. Aber die Großkritiker sind  verschwunden, auch weil die Medienlandschaft ausgedünnt wurde und sich fast keine Zeitung mehr einen hauptamtlichen Theaterkritiker leistet. Im Gegenteil, seit den 70er Jahren ist die Betonung der Subjektivität des Theatererlebnisses zum Qualitätsmerkmal einer Theaterkritik geworden (auch wenn das „ich“ in den Formulierungen weiterhin verpönt ist). Wie weit es dem Kritiker gelingt, sowohl das subjektive Erlebnis sprachlich zu vermitteln als auch die eigene emotionale Reaktion argumentativ abzusichern, ist entscheidend für die Wirkung einer Theaterkritik auf den Leser. Till Briegleb hat dieses Verständnis von Kritik auf den Punkt gebracht: „Ein Kritiker darf hassen, gerührt sein, belehren, resignieren, persönlich werden oder jubeln, solange er seine Gefühle in eine verständliche Relation zu dem Gegenstand bringt.“ 4

„Anschreiben gegen den Verfall“. (ML)
„Die Angst der Theaterkritikerinnen und -kritiker vor dem Bedeutungsverlust.“ (Pees)

Ich kann keine Angst von Kritikerinnen oder Kritikern vor dem Verlust ihrer eigenen Bedeutung erkennen. Wer heute Theaterkritiken schreibt, weiß um die marginale Bedeutung seiner Tätigkeit. Wenn es eine Angst der Kritikerinnen und Kritiker gibt, dann die vor dem Bedeutungsverlust des Theaters. Und die gibt es unter den Theaterintendanten, Schauspielern und Kuratoren genauso.

„Ob es überhaupt noch ausreichend Kritiker:innen gibt, wer dazu noch Lust hat – oder es sich überhaupt leisten kann.“ (Pees)

Diese Frage ist berechtigt. Es kann sich (fast) niemand leisten, von Theaterkritik zu leben. Die Honorare sind erbärmlich oder nicht vorhanden. Das Gezeter über die mangelhafte Qualifikation von Theaterkritikern ist uralt:

„Ja, die Theaterkritik ist nicht selten die letzte Zuflucht eines verkommen Talentes, eines geistig und sittlich zerfahrenen Menschen, der sich alle andern literarischen Thätigkeiten, zu denen die Erwerbung und Bewältigung eines reichen Stoffes gehört, verschlossen sieht.“

Das schrieb H.Th. Rötscher, selbst Theaterkritiker, schon 18645. Michael Billington, der Theaterkritiker des britischen „Guardian“, lieferte eine freundlichere Selbstbeschreibung des Typus des Theaterkritikers:

„Critics are born, not made: possibly because of some temperamental deficiency or innate shyness, many of us discover at an early age that we prefer to be among the watchers than the watched … We find our emotional energies released by appraising the work of others.“6

Aber die Qualifikation der heutigen Kritiker ist hoch. Die meisten haben ein theaterwissenschaftliches Studium hinter sich. Nur, lange bleibt niemand in diesem Geschäft, es sei denn, man hat ausreichende andere Einkünfte. Manche werden Dramaturgen, einige wenige ergattern Redakteursposten im vermischten Feuilleton, einige werden Dozenten an Hochschulen. Theaterkritik ist zur Nebentätigkeit oder zur Übergangsbeschäftigung geworden 7

„Ich bezweifle, dass der Journalismus wirklich noch so unabhängig ist, wie er vielleicht oder angeblich einmal war.“ (Pees)
„Eine Sicht auf Journalismus, die nicht mehr zeitgemäß ist.“ (AD)

Die frugale Honorierung von Theaterkritik fördert natürlich die Anfälligkeit für subtile Korumpierungsversuche der Theater. Till Brieglebs eiserne Regel “Ein aufrichtiger Kritiker fraternisiert nicht mit dem Theater.“8 wird aufgeweicht. Dies betrifft vor allem die lokale Kritik. Sofern die Zeitungsredaktionen noch Interesse an Theaterberichterstattung haben, wollen sie Vorberichte, Interviews, Portraits. Die erfordern einen engeren Kontakt zu dem Theater. Die lokale Theaterkritik tendiert sowieso zu einer milden Beurteilung der Produktionen des Theaters ihrer Stadt9.

„In Zeiten von Social Media, kann man über ganz viele Kanäle selbst kommunizieren. Dadurch entsteht die Möglichkeit der Kritik der Kritik.“ (AD)

Nachtkritik.de ist das Medium, dem es am besten gelungen ist, diese Möglichkeiten der interaktiven Kommunikation im Internet für die Theaterkritik zu nutzen.10 Aber die sozialen Internetmedien zersplittern durch die im Hintergrund wirkenden Algorithmen der Aufmerksamkeitslenkung die Öffentlichkeit. Öffentlichkeit ist ein Wettbewerb der Meinungen. Die Medien waren schon immer segmentiert, Zeitungen hatten eine politische Grundrichtung. Dennoch waren sie öffentlich zugänglich. Wer in der „Welt“ eine konservative Kritik einer Theateraufführung las, konnte sich in seiner Auffassung durch die Lektüre einer liberaleren Kritik in der „Frankfurter Rundschau“ bestätigen lassen. Damals, lange ist es her.  Was die Segmentierung der Öffentlichkeit durch Aufmerksamkeitslenkung und Wahlarchitektur im Internet bewirkt, kann man an der politischen Entwicklung der amerikanischen Demokratie sehen. Aus der Reduktion der Bedeutung von Printmedien auf das Absterben der Theaterkritik zu schließen, ist aber kurzschlüssig.

Christine Wahl sieht die fatale Tendenz, die Aufgabe der Theaterkritik als Einladung zum „Mitmachen in einer Wertegemeinschaft“ zu verstehen11. Deuflhard und Lilienthal scheinen sich eher am Modell der Marktwirtschaft zu orientieren. Jeder Produzent wirbt für sein Produkt. Die Theater können sich selbst kritisieren, schließlich ist jeder Dramaturg auch ein Kritiker, wie Matthias Pees meint. Schließlich hat jedes Gutachten der auf Theaterberatung spezialisierten Unternehmensberatung Actori12 für irgendein Theater ergeben, dass die Marketingabteilung stärker besetzt werden muss, trotz oder gerade wegen aller Sparbemühungen der Theater. Also simulieren die Marketingabteilungen der Theater Journalismus im eigenen Interesse.

Eine Funktion von Theaterkritik (neben der Orientierung über mögliche Vorstellungsbesuch, der Berichterstattung) ist es aber, das Theater in den Bereich der öffentlichen Debatte zu ziehen. Eine Theatervorstellung ist ein Ereignis in der gleichzeitigen körperlichen Gegenwart von vielen. Dieses Ereignis debattierbar zu machen, ist auch eine Funktion von Kritik. Dazu gehört die Wertung, die ein Für-und-Wider ermöglicht. Diese Debatte ist nicht nur die große öffentliche, sondern auch die private zwischen Zuschauern derselben Inszenierung und zwischen tatsächlichen und  potentiellen Zuschauern. Eine Theaterkritik ist nicht nur Teil einer öffentlichen Debatte, sondern kann auch Gegenstand einer privaten Debatte sein. Solche Mikrodiskussionen bilden das Wurzelgeflecht einer pluralistischen Demokratie. Theaterkritik ist nicht Marketing. Eine Theaterinszenierung ist mehr als nur eine Ware, die verkauft werden muss. Theaterkritik ist Debattenkultur. Und die ästhetische Debatte über die Wertung gemeinsam erlebter Darstellung menschlicher Verhältnisse ist die vergnügliche Vorübung für die Debatten über die politische Regelung gesellschaftlicher Verhältnisse.

Internationalisierung

„Beispielgebend wirken dafür, wie wir auf diesem Kontinent in Zukunft überhaupt mit unseren Nachbarn zusammenzuleben und zu kommunizieren gedenken.“ (Pees)

Das ist der beste Vorsatz an dem ganzen Unternehmen der Umstrukturierung des Berliner Theatertreffens. Nur, dafür, wie er  verwirklicht werden soll, scheint es noch kein schlüssiges Konzept zu geben.

 

  1. Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin: Suhrkamp, 2017. S.175. Siehe auch meinen Beitrag „Theater und Theaterkritik in der Gesellschaft der Singularitaeten“
  2. Christine Wahl: Zum Stand der Theaterkritik. nachtkritik.de 4. Mai 2022
  3. „Das Geschmacksurteil selber postuliert nicht jedermanns Einstimmung {…}; es sinnet nur jedermann diese Einstimmung an.“ Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. Analytik des Schönen, §8
  4. Till Briegleb, „Kritiker und Theater. 10 Thesen“ in: Dramaturgie. Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft. Resümée des Symposions ‚Radikal Sozial‘. Berlin 2006
  5. Heinrich Theodor Röscher, Die Kunst der dramatischen Darstellung in ihrem organischen Zusammenhang wissenschaftlich entwickelt. Erster Band. Leipzig: Otto Wiegand, 2. Auflage 1864, S.50
  6. Michael Billington, One Night Stands. A Critic`s View of modern British theatre. London: Nick Hern, 1993, p. IXf
  7. Ich habe meine Berufung in die Jury des Theatertreffens 2000 immer als Beginn des Niedergangs des Berufs des Theaterkritikers verstanden. Ich war wohl der erste in dieser Funktion, der seinen Lebensunterhalt nicht als Journalist verdiente.
  8. Regel Nr.1, Till Briegleb a.a.O.
  9. Zu den Unterschieden zwischen regionaler und überregionaler Theaterkritik vgl: Vasco Bönisch, „Die Aufgaben der Theaterkritik“, in: V.B., Krise der Kritik? Was Theaterkritiker denken – und ihre Leser erwarten. Berlin: Theater der Zeit, 2008 S. 103-150
  10. siehe Christiane Wahls Essay „Zum Zustand der Theaterkritik“ nachtkritik.de 4.Mai 2022
  11. in: „Zum Stand der Theaterkritik“  nachtkritik.de 4.5.2022 
  12. https://www.actori.de/ueber-uns/news/news-detail/actori-gutachten-zeigt-zukunftsszenarien-auf

Friendly Fire – Das Berliner Theatertreffen unter Beschuss Teil 1

Anmerkungen zu Interviews zum Berliner Theatertreffen

Im Juli 2022 gaben die Berliner Festspiele bekannt, dass die neue Leitung des Berliner Theatertreffens aus dem Vierer-Team Olena Apchel, Marta Hewelt, Carolin Hochleichter und Joanna Nuckowska bestehen wird. Intendant Mattias Pees erklärte dazu, dass durch dieses Team das Theatertreffen „stärker mit dem mittel- und osteuropäischen Raum vernetzt werden“ solle1.
Es folgte ein kleiner Wirbel in den öffentlichen Diskussion, viele Kommentare äußerten ihr Unverständnis oder Skepsis für diese Entscheidung2. Daraufhin blickte man zurück auf ein Interview, das Matthias Lilienthal und Amelie Deuflhard schon im Mai auf der Web-Site des Theatertreffens veröffentlich hatten3. Und schließlich gab Matthias Pees selbst zwei Interviews, eines auf nachtkritik.de 4, das andere im „Spiegel“5, in denen er seine Absichten erklärte.

Im Folgenden werde – wie auch in „Friendly Fire- Teil 2“ – einige Sätze aus diesen drei Interviews kommentiert, weil sie eine allgemeine Bedeutung haben. Dabei steht (ML) für Matthias Lilienthal, (AD) für Amelie Deuflhard, (Pees) für Matthias Pees.

Deutsche Sprache

„Die bisherige Beschränkung des Theatertreffens auf den deutschsprachigen Raum ist für mich nicht mehr zeitgemäß.“ (Pees)

Dass etwas „nicht mehr zeitgemäß“ sei, ist die billigste Formel für diejenigen, die etwas abschaffen und sich um eine Begründung drücken wollen. Nicht mehr zeitgemäß sind: das Café Mohrenkopf, eine Eisbahn, das Fernsehen, die Privilegien der Kirchen, die Impfpflicht, Brustgrößenbeschreibungen in Theaterkritiken, SUV-Autos, die Jagd, Tierversuche, das Nussknacker-Ballett – was immer man gerade als störend findet. Politiker gebrauchen die Floskel gerne aus professionellem Opportunismus. „Die Zeit“ ist ein ziemlich vager Begriff und was ihr „gemäß“ ist, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Selbst wenn eine Regelung, eine Institution, ein Verfahren nicht mehr „zeitgemäß“ ist, bleibt die Frage, ob es denn gut ist, wenn etwas gemäß der Zeit ist. Es gibt bekanntlich gute und schlechte Zeiten.

„Das Theatertreffen im Sinne eines ‚deutschsprachigen Gebietes‘ setzt unbewusst auch koloniale Strukturen fort.“ (ML)

Dass Deutschland Österreich kolonisieren wolle, das hat nicht einmal die FPÖ gewagt zu behaupten. Und die Deutsch-Schweizer werden sich mit Verweis auf Wilhelm Tell höflich, aber bestimmt verbitten, als unterworfene Kolonie Deutschlands bezeichnet zu werden. Aber wahrscheinlich kann man ja auch den „Rat für deutsche Rechtschreibung“6 als einen totalitären Kolonialisierungsversuch verstehen. Es gab im Mittelalter eine deutsche Ostkolonisation und im 19.Jh. die imperiale Kolonisation in Afrika und Asien. Und es gab im 2. Weltkrieg den Versuch, Osteuropa zu unterwerfen. Das muss man bedenken, wenn man heute ein mitteleuropäisches 7 Theaterfestival in Berlin etablieren will. Dabei besteht tatsächlich die Gefahr, „unbewusst koloniale Strukturen fortzusetzen“. Ein mitteleuropäisches Theaterfestival mit Strukturen, die den repräsentativen Anspruch des Berliner Theatertreffens übernehmen würden, müsste wohl in Krakau stattfinden, nicht in Berlin.

„Die Theaterkultur hat sich längst von der deutschen Sprache gelöst.“ (ML)

Nur schade, dass das deutsche Theaterpublikum sich noch nicht von der deutschen Sprache gelöst hat.

„Im Schauspiel hat sich die deutsche Sprache als große Barriere herausgestellt“.(Pees)

Das Schauspiel nannte man früher „Sprechtheater“, in Abgrenzung vom „Singtheater“ der Oper. Diese Zeiten sind lange vorbei. Durch Autoren und Regisseure wie Edward Gordon Craig, Antonin Artaud, Jerzy Grotowiski, Tadeusz Kantor oder Pina Bausch haben sich die visuellen und körperlichen Bestandteile des Schauspiels vom Wort emanzipiert. Und die Tendenz aller Künste, Grenzen zwischen Sparten, Gattungen oder Genres zu verwischen oder zu überspringen, die Tendenz zur „Verfransung der Künste“8 ist ungebrochen.

Doch irgendeine Art von sprachlichem Anteil blieb im Schauspiel fast immer erhalten (mit Ausnahme von Extremfällen bei Handke oder Beckett). Die national-sprachliche Verankerung des Schauspiels war schon immer eine „Barriere“ gegen die Internationalisierung des Schauspiels. Anders als bei Musik, Malerei oder Ballett war der freie Grenzverkehr beim Schauspiel eingeschränkt. Aber das wortgebundene, literarische Schauspiel hatte immer ein Mittel, alle Barrieren zu überwinden: die Übersetzung. So konnten Calderon, Molière, Shakespeare, Ibsen, Tschechow und Grombrowicz auf der Barrikade der deutschen Sprache tanzen.

Das Problem entstand erst durch die Emanzipation des Schauspiels vom Wort. Wenn die Inszenierung und nicht mehr der Theatertext das originäre Kunstwerk ist, muss der ganze Apparat mit Schauspielern, Bühnenbild, Ton, einschließlich sprachlichem Anteil usw. über die Barriere gehievt werden. Eine Nachinszenierung mit übersetztem Text würde das Kunstwerk zerstören. Die Theatertechnik offerierte das Mittel der Übertitel. Zunächst nutzte es die Oper. Textverständlichkeit war für Opernsänger sowieso immer schon ein unlösbares Problem, also beendete man die Praxis der Übersetzung fremdsprachlicher Operntexte in Deutschland und setzte Textprojektionen ein. Dass diese den Librettotext nur unvollkommen  und verkürzt wiedergeben können, war hinnehmbar angesichts des Gewinns, die Übereinstimmung von Melodie und originalsprachlicher Vokalisierung hören zu können.

Dass das Schauspiel dann zu diesem Mittel griff, hat drei Ursachen: die Mobilität von Inszenierungen über Sprachgrenzen hinweg, die Mobilität des Publikums (Kulturtourismus) und, zum geringsten Teil, die sprachliche Heterogenität des lokalen Publikums. Der sprachliche Verlust durch Übertitelung ist im Schauspiel ungleich größer als in der Oper. Bedeutungsnuancen und sprachliche Schönheiten gehen verloren. Die sprachliche Äußerung wird auf ein dennotatives Gerüst reduziert, das vom Zuschauer dann durch Wahrnehmung der analogen Kommunikation (Gesten, Körpersprache, Mimik) ergänzt werden muss. Bei übersetzten Stücken des Repertoires kommt es auch zu kuriosen Rückübersetzungen (so erschien in einer „King Lear“-Inszenierung Shakespeares spöttische Metapher vom Menschen als „forked animal“ über den Umweg des Deutschen auf dem Übertitelscreen als „two-legged animal“.).

Die Sprache der Übertitel ist im deutschen Schauspiel entweder Englisch oder Deutsch, je nach der auf der Bühne gesprochenen Sprache. Die Annahme, alle im Publikum verstünden irgendwie Englisch, dürfte bei einem mitteleuropäischen Publikum widerleget werden und schließt die erste Generation von Migranten in Deutschland meistens aus. Aber auch bei einem durchschnittlichen westeuropäischen Theaterpublikum dürfte die Englischkenntnis begrenzt sein. Wieviel würde ein deutsches Publikum von einer orginalsprachlichen Inszenierung eines Stückes von John Osborne oder Simon Stephens (oder gar von einer französischen eines Stückes von Bernard-Marie Koltès) verstehen? Will man die Vorlage von Sprachzertifikaten an der Theaterkasse verpflichtend machen? Die für den internationalen Festivalbetrieb konzipierten Inszenierungen haben Auswege gefunden: unübersetztes Englisch, vollständiger Verzicht auf gesprochene Sprache, Reduktion der Sprache auf schriftlich präsentierte Sätze oder seltene Sprachen ohne Übersetzung als exotischer Reiz9.

Aber ohne die Sprache des tatsächlich präsenten Publikums zu sprechen, kann das Schauspiel bestenfalls allgemeinmenschliche Probleme erörtern, vertiefen oder wahrnehmbar machen. Was dabei verloren geht, kann man vielleicht am Beispiel von Nuran Calis` Projekt „Mölln 92/22“ zeigen. Es geht darin um einen zentralen Konflikt der deutschen Gesellschaft, Gewalt gegen Migranten. Die deutsche Sprache ist dabei tatsächlich manchmal ein Hindernis. Die Inszenierung bildet die reale Mehrsprachigkeit der deutschen Gesellschaft ab. Sie ist aber nicht transportabel. Auch wenn es in anderen europäischen Ländern ähnliche Konflikte gibt, wäre sie in Frankreich oder England oder gar Polen kaum verständlich, nicht weil sie zu tief in der einen Wurzel der überkommenen deutschen Kultur verwurzelt wäre, sondern weil sie in der gegenwärtigen deutschen Kultur und ihren aktuellen Konflikten verankert ist. Ohne gesprochene Sprache erreicht ein Theater, das politisch sein will, nur eine emotionale Wirkung, aber nie die diskursive Ebene, auf der Politik stattfindet. Die strukturelle Analogie, der Isomorphismus von Politik und Theater 10 ist ohne verbale Sprache nicht möglich.

Das heißt nicht, dass das Schauspiel nicht auf die Vielsprachigkeit der Welt reagieren kann oder soll. Édouard Glissant fasst seine Erfahrung als Sprecher des Creols von Martinique und des Französischen so zusammen: „daß ich meine Sprache auch nicht mehr einsprachig verteidigen kann. Ich muß sie verteidigen im Bewußtsein, daß sie nicht als einzige auf der Welt bedroht ist.“ Vielsprachigkeit ist für ihn „die Gegenwart aller Sprachen der Welt in der Praxis der eigenen.“11 Die Vielsprachigkeit der Welt in der Praxis des deutschen Theaters zu zeigen, das ist die paradoxe Aufgabe. Es gab in den letzten Jahrzehnte vielfältige Versuche, mehrsprachige Inszenierungen für ein deutsches Publikum verständlich zu machen.12  Eine Vervielfachung der Übertitelungsscreens (Englisch, Deutsch, Polnisch, Türkisch …) wird die Aufgabe nicht lösen.

Es gibt ein etwas in Vergessenheit geratenes Modell für den Umgang mit der Vielsprachigkeit Europas im deutschen Theater: die Bonner Biennale  „Neue Stücke aus Europa“13. Von 1992 bis 2004 fand dieses Festival „Neue Stücke aus Europa“ am Schauspiel Bonn während der Intendanz von Manfred Beilharz, gefördert mit erheblichen Bundesmitteln, statt. Mit einem Netzwerk von Paten in vielen europäischen Ländern, meist Theaterautoren, wurden Inszenierungen neuer Stücke aus diesen Ländern ausgewählt und nach Bonn verfrachtet. Es gab keine Übertitel, sondern Simlutanübersetzer:innen, die während der Vorstellung in einer Kabine saßen und in Kenntnis des Stücktextes simultan dolmetschten. Die Zuschauer bekamen kostenlos einen (!) Ohrstöpsel und konnten die Übersetzung mithören. Das zweite Ohr blieb für die Originalsprache frei. So konnte man bei etwas erhöhter Konzentration sowohl Isländisch, Russisch oder Serbisch hören als auch verstehen. Die kulturellen Kontexte der Stücke blieben natürlich fremd und konnten allenfalls in Podiumsdiskussionen nachgereicht werden. Aber es blieb der Anreiz, die kulturellen Kontexte kennenzulernen. Dieses Modell verursacht erhebliche Kosten, trägt aber der Vielsprachigkeit der Welt besser Rechnung als englische Übertitel für alles oder eine Batterie von Mini-Bildschirmen für alle Sprachen.14

Schließlich, wenn die deutsche Sprache sich als große Barriere herausgestellt hat – Barriere für wen oder was? Matthias Pees meint, für „all diejenigen, die die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrschen“. Sind das Zuschauer oder Theatermacher? Oder rechnet man beim Theatertreffen sowieso nur mit einem Publikum, das professionell mit dem Theater verbunden ist? Die deutsche Sprache als Barriere für die Gewinnung von Publikum für das Berliner Theatertreffen? Wohl nicht. Barriere für die Auswahl von Produktionen für das Theatertreffen, in denen nicht Deutsch gesprochen wird? Das trifft nicht zu. Schon 2002 wurde Meg Stuarts „Alibi“ und 2003 Alain Platels „Wolf“ eingeladen. Und viele andere Produktionen folgten, in denen die deutsche Sprache keine Rolle spielte, auch in der diesjährigen 10er-Auswahl. Barriere für den Import international in anderen Sprachen produzierter Produktionen? Ja, sicher. Barriere für die Gewinnung von nicht-deutschsprachigen Regisseur:innen und Schauspieler:innen? Nur zum Teil.

„Die Herausforderung, auf vielen Ebenen eine gemeinsame Sprache finden zu müssen, wird heute in vielen deutschen Theatern bewältigt.“ (Pees)

Das trifft zu. Die Liste der Regisseure an deutschen Theatern, deren primäre Sprache nicht Deutsch ist, ist lang, von Laurent Chétouane über Oliver Frljić, Alvis Hermanis, Antonio Latella, Ewelina Marciniak, Toshiki Okada, Dušan Parizek bis Kiril Serebrennikov. Sie arbeiten im deutschen Stadt- und Staatstheatersystem, weil sie dort komfortable Arbeitsbedingungen und gute Honorare vorfinden. Und das ästhetische Innovationspotenzial dieser Fremdarbeiter ist enorm. Das deutsche Theater hat durch diese Offenheit viel gewonnen. Doch auch der Aufwand für solche Produktionen ist enorm: Übersetzungsprobleme überall, bei der Textfassung, im Probenprozess, in der Vermittlung an das Publikum. Kommunikation über Google-Übersetzer ist mühsam, zeitraubend und ineffektiv. Auch Matthias Pees muss im Nachtkritik-Interview die Bindung des Theaters an eine nationale Kultur und Sprache zugestehen: „Es stimmt, dass Künstler:innen aus unseren östlichen Nachbarländern hierzulande durchaus schon präsent sind – allerdings oftmals mit Arbeiten, die im Vergleich zu denen, die sie in ihren Heimatländern inszenieren, durchaus erst einmal schwächer sind, weil sie sie mit neuen, ihnen fremden Ensembles in einer ihnen fremden Sprache erarbeiten.“

Die Vereinigung „drama-panorama“ widmet sich diesen Übersetzungproblemen. So schreibt z. B. Barbora Schnelle „Wenn ich politisches Theater aus Tschechien übersetze, muss ich ganz genau überlegen, woher und wohin ich gehen will und mich z. B. fragen: Was weiß das deutschsprachige Publikum über die tschechischen oligarchischen Strukturen? Wo muss ich was vermitteln, wo aufklären, wo kontextualisieren und wo am besten heimische Parallelen finden?“ 15 Diese Übersetzungs- und Kontextualisierungsarbeit wird zunehmen, wenn man eine stärkere Vernetzung der deutschen Theaterszene mit mitteleuropäischen Theatern erreichen will. Ein Parallelmodell, wie es Matthias Pees in dem Nachtkritik-Interview vorschlägt, in dem es neben der bisherigen Auswahl von Inszenierungen aus dem deutschsprachigen Raum eine ebenfalls von einer Jury ausgewählte Gruppe von Inszenierungen aus Mitteleuropa gibt, würde notwendigerweise zu einer Reduktion der Zahl der eingeladenen Inszenierungen aus dem deutschsprachigen Raum führen. Selbst wenn die Finanzierung des gedoppelten Theatertreffens aufgestockt würde, wäre eine Reduktion der Zahl der Vorstellungen unvermeidlich.

 

  1. https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=21218:theatertreffen-neues-leitungskollektiv&catid=126&Itemid=100890
  2. z.B. Christian Rakow https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=21220:kommentar-zur-neuen-leitung-des-berliner-theatertreffens&catid=101:debatte&Itemid=84
  3. https://mediathek.berlinerfestspiele.de/de/theatertreffen/2022/texte/aber-ansonsten-lieben-wir-das-theater
  4. https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=21269:interview-mit-matthias-pees&catid=101:debatte&Itemid=84
  5. https://www.spiegel.de/kultur/intendant-matthias-pees-ueber-das-berliner-theatertreffen-die-deutsche-sprache-hat-sich-als-barriere-herausgestellt-a-27e8843f-6954-47d5-b6fa-4d82f7223e37
  6. https://www.rechtschreibrat.com
  7. Zum Begriff „Mitteleuropa“ vgl. die Arbeiten Karl Schlögels z.B. Karl Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang. München: Hanser, 2002
  8. „In der jüngsten Entwicklung fließen die Grenzen zwischen den Kunstgattungen in einander oder, genauer: ihre Demarkationslinien verfransen sich.“ Theodor W. Adorno, „Die Kunst und die Künste“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, Frankfurt/M: Suhrkamp, 1997, S. 432
  9. vgl. meinen Bericht über die diesjährigen Ruhrfestspiele Recklinghausen in: Theater heute 7/2022 https://www.der-theaterverlag.de/theater-heute/archiv/magazine/theater-heute-juli-72022/
  10. vgl. Alain Badiou, Rhapsodie für das Theater. Kurze philosophische Abhandlung. Wien: Passagen, 2015, S. 36, 48
  11. Edouard Glissant, Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit. Heidelberg: Wunderhorn: 2. Aufl. 2013
  12. z.B. Karin Beiers Inszenierung von Shakespeares „Sommernachtsraum“ 1995 am Düsseldorfer Schauspielhaus, in der Schauspieler verschiedener Nationalitäten nicht nur ihre Sprachen sprachen, sondern auch ihre nationalen Darstellungsstile praktizierten. Siehe meine alte Kritik in der taz vom 4.11.1995
  13. Die beide letzten Leiterinnen des Theatertreffens, Iris Laufenberg und Yvonne Büdenhölzer, haben dort ihre ersten Erfahrungen als Festivalmacherinnen erworben.
  14. Bildschirme in den Rückenlehnen der Sitze, auf denen man zwischen verschiedenen Sprachen wählen, kann wie in der Staatsoper Wien oder der Metropolitan Opera New York werden die deutschen Stadttheater sich wohl kaum leisten können. Eine Übertitel-App für das Smartphone wie „Burgtheater Promt“ ist zwar kostengünstiger, führt aber zu einem Wald von schwach leuchtenden Minibildschirmen im Zuschauerraum, der die Konzentration aller stört.
  15. https://www.drama-panorama.com/veranstaltung/politisches-theater-uebersetzen/

Die Wahrheit auf dem Theater – Teil 3 Der Schauspieler

Im Theatertext ist also keine Wahrheit zu finden 2 . Adorno meinte, man könne keine Aussage aus „Hamlet“ herauspressen. Und Bertrand Russell schloss messerscharf, alle Aussagen in „Hamlet“ seien falsch, weil die Person Hamlet nie existiert hat3. Aber der Schauspieler (oder die Schauspielerin), der (oder die) Hamlet spielt, existiert.  Und er (oder sie) soll wahr sein.

Die Wahrheit auf dem Theater ist keine Erkenntnis, die man erfahren oder formulieren könnte, sie ist eine Forderung an die Schauspielerinnen und Schauspieler. Dieser Gebrauch des Begriffs „Wahrheit“ hat in der Schauspieltheorie eine lange Tradition.

Wahrheit als Täuschung

Eine der ältesten Formulierungen dieses Wahrheitspostulates findet sich 1749 bei dem französischen Theatertheoretiker Sainte-Albine:
„Dramatische Erdichtungen gefallen uns desto mehr, je ähnlicher sie wahrhaften Geschichten sind, und die Vollkommenheit, die wir in ihren Vorstellungen verlangen, ist eigentlich das was man in der Sprache des Theaters, Wahrheit nennet. Man versteht durch dieses Wort hier den Zusammenfluss aller Wahrscheinlichkeiten, welche dienen können, die Zuschauer zu täuschen.“ 4.
Johann Jakob Engel, zeitweise Leiter des Berliner Nationaltheaters, übernahm noch 1785 diese Auffassung:
„Wenn Worte, Ton, Bewegung, auf das vollkommenste unter einander, und alle auf vollkommenste mit Leidenschaft, Situation und Charakter übereinstimmen; dann erst entsteht der höchste mögliche Grad der Wahrheit, und durch diese Wahrheit die höchste mögliche Täuschung.“ 5
Hier hat die Wahrheit also die Funktion zu täuschen. Dass mit dieser Paradoxie der Begriff der Wahrheit irgendwie überstrapaziert wird, musste bald auffallen.
Denis Diderot war vorsichtiger im Umgang mit dem Begriff:
„Denken Sie einen Augenblick darüber nach, was auf dem Theater Wahrsein bedeutet. Heisst das, die Dinge so zu zeigen, wie sie in der Natur sind? Keineswegs. Das Wahre in diesem Fall, wäre nichts anderes als das Gewöhnliche. Aber was ist denn das Wahre auf der Bühne? Es ist die Übereinstimmung der Handlungen, des Sprechens, der Erscheinung, der Stimme, der Bewegung und der Geste mit einer von dem Dichter ersonnenen Idealvorstellung, die vom Schauspieler oft noch übersteigert wird. Das ist das Wunder.“ 6
Hier also ist das Wahre die Übereinstimmung der realen Aktionen des Schauspielers oder der Schauspielerin auf der Bühne mit einer idealen Vorstellung des Textdichters. Oder die Steigerung dieser Idealvorstellung. Das ist dann das Wunder der Wahrheit – auch ein sehr erklärungsbedürftiger Gebrauch des Begriffs der Wahrheit.

Wahrheit und Schönheit

Im Gegensatz zu seinem Lehrer Hegel, für den die Wahrheit der Kunst im Zusammenstimmen von Äußerem und Innerem besteht7 ist für den Theaterkritiker Heinrich Theodor Rötscher die Wahrheit in der darstellenden Kunst nur eine der beiden Seiten, die sie verbinden muss.
„In der Schauspielkunst, welche auf die Versinnlichung des Dramas ausgeht, treten sie [die Gegensätze des Allgemeinen und des Individuellen] zunächst in der Forderung auf, die Schönheit wie die Wahrheit gleichmäßig zu ihrem Rechte kommen zu lassen.“8
Die Schönheit steht bei ihm für die Idealität, die Wahrheit für die sinnlich wahrnehmbare Realität. Ohne die Idealität, gemeint ist der vom Dichter geschaffene Dramentext, sinkt der Schauspieler herab zur bloßen „Naturwahrheit“9. Wahrheit alleine genügt nicht. In Rötschers idealistischer Theaterästhetik ist also die Wahrheit nicht mehr der Begriff, mit dem das oberste Ziel der Schauspielkunst bezeichnet wird.

Wahrheit als Glaube

Erst Stanislawski gibt dem Begriff der Wahrheit auf dem Theater einen genaueren Sinn. Für ihn ist die Wahrheit eine Eigenschaft des inneren Gefühls des Schauspielers.
„Im Theater ist nicht wichtig, dass der Dolch des Othello aus Karton oder Metall ist, sondern, dass das innere Gefühl des Schauspielers selbst, das den Mord des Othello rechtfertigt, wahr, aufrichtig und echt ist. … Über diese Wahrheit des Gefühls sprechen wir im Theater. Hier ist jene szenische Wahrheit, die für den Schauspieler im Augenblick seines Schaffens nötig ist. Es gibt  keine echte Kunst ohne solche Wahrheit und Glaube!“ 10
Bei Stanislawski wird aus dem Begriffspaar „Wahrheit-Täuschung“ die Verbindung „Wahrheit-Glaube“. Was die Wahrheit des Schauspielers bewirkt, ist nicht mehr „Täuschung“, sondern „Glaube“:
„Die Wahrheit erzeugte den Glauben.“ 11.
Diese „Wahrheit“ ist etwas, das der Schauspieler oder die Schauspielerinn herstellt, nicht etwas, das er oder sie vorfindet oder benennt.
„Logik und Folgerichtigkeit der physischen Handlungen und Empfindungen des Schauspielers führen zur Wahrheit. 12.
Die Wahrheit ist für Stanislawski etwas Innerliches:
„Die Wahrheit auf der Bühne ist das, woran wir aufrichtig sowohl in unserem Innern glauben, als auch in den Seelen unserer Partner.“ 13.
Dieser Zustand ist ein doppelter: er ist sowohl ein erlebter psycho-physischer Zustand als auch die Reflexion dieses Zustands: man „glaubt aufrichtig“ an diesen Zustand. Mit Stanislawskis Psychotechnik stellt die Schauspielerinn und der Schauspieler die inneren Vorgänge her, um eine Wirkung (Glaube des Zuschauers) zu erreichen.
Dass der Begriff der „Wahrheit“ (Правда) auch hier wieder überspannt wird, wurde den deutschen Übersetzern  Stanislawskis erst spät klar. In der DDR folgte man zunächst der alten Übersetzung Alexandra Meyenburgs. Ottofritz Gaillard (nach 1945 Leiter des Deutschen Theater-Instituts Weimar und später der Schauspielabteilung der Theaterhochschule Leipzig) schreibt 1947 in seinem Lehrbuch der Schauspielausbildung:
„Die Wahrheit der Bühne als Rahmen für die Wahrheit der Empfindung und andererseits die Wahrheit der Empfindung als Voraussetzung für die Wahrheit der Bühne, das ist die Erkenntnis, auf der wir weiterbauen.“ 14.
Sein Mentor Maxim Vallentin (1927-1932 Leiter der Agitpropgruppe Rotes Sprachrohr, Intendant des Maxim Gorki Theaters 1952-1968) geht noch weiter: die „Bühne der Wahrheit“ vereine
„die drei Wahrheiten – die Wahrheit der Empfindung, die Wahrheit der Bühne und die gesellschaftliche Wahrheit“ 15.
Hier wird der Begriff der Wahrheit vom Schauspieler („Empfindung“) über den Inhalt der Theaterproduktionen („Bühne“) auf die Politik übertragen: der Aufbau des Sozialismus in der DDR ist die „gesellschaftliche Wahrheit“, der das Theater dient.

Wahrheit als Wahrhaftigkeit

In der BRD war man etwas vorsichtiger beim Umgang mit der Wahrheit. Hans-Günther von Klöden, seit 1950 Leiter der Schauspielschule Hannover, beschlich ein leichtes Unbehagen bei diesem Stanislawskischen Wahrheitsbegriff:
„Was also sollen wir unter ‚Wahrheit‘ verstehen? […] Vielleicht ist uns eine sprachliche Schlamperei unterlaufen, und es ist ‚Wahrhaftigkeit‘ gemeint?“16
„Wahrhaftigkeit“ ist auch der Begriff, mit dem die Übersetzer der späteren DDR-Ausgabe von Stanislawskis Schriften den Begriff Правда (Prawda) übersetzen.17 Von Klöden befriedigt auch dieser Ausweg nicht:
„ … denn wir werden doch wieder auf den Begriff der Wahrheit zurückgeworfen, da ja Wahrhaftigkeit nichts anderes ist als die Tugend, stets die Wahrheit zu sagen.“18
Dennoch kehrt er zum Begriff „Wahrheit“ zurück:
„Bei Aristoteles ist nur von der Wahrheit einer Aussage, genauer eines ‚Urteils‘ die Rede. Wir aber meinen, daß auch eine Sache, ein Vorgang oder sonst irgendein Phänomen „in sich“ wahr sein kann. Und damit bekommt die ‚Wahrheit‘ die Bedeutung von ‚Wirklichkeit‘, ‚Echtheit‘. Echtheit des Handelns erwächst aus dem ‚Schwerpunkt‘ des Menschen. (…) Es geht uns nicht nur darum, innerlich, sondern von innen nach außen zu spielen. Kunst wäre hiernach vor allem: die Fähigkeit, die Wahrheit deutlich zu sagen.“19
Auch hier ist die Wahrheit des Schauspielers etwas Komplexes: ein echtes Handeln aus dem Schwerpunkt des Menschen und dessen Verdeutlichung.
In den englischsprachigen Lehrbüchern dagegen scheint sich der Stanislawskische Begriff der Wahrheit weiterhin zu halten: „Truth“, das Wort prangt in großen Lettern auf dem Cover von Susan Batsons Schauspiel—Lehrbuch.
„Stanislavski understood that actors bring characters to life by using the truth of their own experience. The actor’s truth is the truth of honest sensation.“20.
Der deutsche Verlag hat vorsichtig den triumphalen Titel durch einen Untertitel ergänzt: „Wahrhaftigkeit im Schauspiel“.

Wahrheit als individuelle Relation

Georg Simmel versucht in seinem Aufsatz „Zur Philosophie des Schauspielers“ den Begriff der Wahrheit des Schauspielers zu retten, indem er ihn umdefiniert. Wahrheit ist für ihn nicht mehr die Übereinstimmung von Aussage und Gegenstand, nichts allgemeingültig Objektives, sondern eine Relation zwischen einem Individuum und einem Gegenstand:
„Was wir Wahrheit über einen Gegenstand nennen, ist je nach dem Wesen, für das die Wahrheit gelten soll, etwas sehr Mannigfaltiges (…) So besteht für jedes Wesen eine, durch seine Individualität verschiedene Wahrheit über jedes gegebene Objekt.“21
Wahrheit ist keine Relation zwischen Subjekt und Objekt, die für alle intelligenten Subjekte gleich wäre, sondern ist für jede „Wesensgattung“ verschieden. „Wahrheit“ ist für Simmel nur der “Ausdruck für das angemessene Verhältnis zwischen Subjekt und Gegenstand“. Auch „in ihren Temperamenten und Begabungen verschiedene Schauspieler“ gehören solchen verschiedenen „Wesensgattungen“ an. So gibt es für jeden Schauspielertyp eine „wahre“ Darstellung einer bestimmten Rolle (das Beispiel ist wie immer Hamlet), aber sie ist nicht für jeden Schauspielertyp dieselbe und nicht immer wird diese Wahrheit auch erreicht. So löst sich der Begriff der Wahrheit auf und wird zu einem individuellen Ideal der Beziehung zwischen Schauspieler und Rolle. Wie dieses Ideal zu erkennen ist, bleibt offen. Es bleibt nur die Gefühlsreaktion des Zuschauers, dass die Verwirklichung der Rolle in einer bestimmten Vorstellung durch einen Schauspieler „uns nicht befriedigt“, wenn dieses Ideal nicht erreicht wird.
Jens Roselt hat in seiner Textsammlung den Zickzack-Weg der Schauspieltheorie zwischen heißem und kaltem Schauspieler, zwischen dem Weg von außen nach innen oder von innen nach außen, in allen Details nachgezeichnet und kommt zu dem Schluss:
„Der Streit um die ‚Echtheit‘ von Gefühlen kann in der Theorie nicht beigelegt werden.“ 22

Zwischenergebnis 3

Wahrheit als Begriff zur Kennzeichnung des Ziels von schauspielerischer Verkörperung einer Rolle hat eine weit zurückreichende Tradition. Bei genauerer Analyse dieser Verwendung des Begriffs löst er sich aber auf und erweist sich als untauglich.

  1. Man möge die Verwendung des generischen Maskulinums verzeihen. Der Grund für diesen Sprachgebrauch liegt in den hier wiedergegebenen Texten der Schauspieltheorie. Bis ins 21. Jahrhundert wird in ihnen das Maskulinum „der Schauspieler“ verwendet, wenn von Schauspielerei allgemein die Rede ist. Ich habe dort, wo es stilistisch erträglich ist, versucht deutlich zu machen, dass die Aussagen sich jeweils auch auf Schauspielerinnen beziehen.
  2. siehe meinen Beitrag https://theatermarginalien.com/2021/08/12/die-wahrheit-auf-dem-theater-teil-2-der-theatertext/ 
  3. „The propositions in the play are false because there was no such man.“ Bertrand Russell, An Enquiry into Meaning and Truth, London: Allen and Unwin, 1962, S. 277
  4. Rémond de Sainte-Albine, Der Schauspieler. übers. Friedrich Justin Bertuch. Altenburg 1772, S.49, Original: „Les fictions Dramatiques nous plaisant d’autant plus, qu’elles sont plus semblables à des aventures réelles, la perfection que nous desirons le plus dans la Représentation est ce qu’au Théatre on nomme Vérité. On y entend par ce mot le concours des apparences, qui peuvent servir à tromper des Spectateurs.“ Le comédien : ouvrage divisé en deux parties / par M. Remond de Sainte-Albine. Nouvelle édition augmentée & corrigée. Paris: Desaint & Saillant, 1749. S.107. https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=ucm.5323613769&view=1up&seq=137. Bertuch übersetzt „apparences“ mit „Wahrscheinlichkeiten“ während eigentlich „Erscheinungsweisen“ gemeint ist
  5. zit. in: Jens Roselt (Hg.), Schauspieltheorien. Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock – bis zum  postdramatischen Theater. Berlin: Alexander Verlag, 2005, S.154
  6. Denis Diderot, Paradox über den Schauspieler. übers. u. eingeführt von Felix Rellstab. Wädenswil: Verlag Stutz & Co, 1981, S.22. Original: „Réfléchissez un moment sur ce qu’on appelle au théâtre être vrai. Est-ce y montrer les choses comme elles sont en nature? Aucunement. Le vrai en ce sens ne serait que le commun. Qu’est-ce donc  que le vrai de la scène? C’est la conformité des actions, des discours, de la figure, de la voix, du mouvement, du geste, avec un modèle idéal imaginé par le poète, et souvent exagéré par le comédien. Voilà le merveilleux.“ Denis Diderot, Paradoxe sur le comédien. Ouvrage posthume. Paris: Sautele, 1830. p. 21. https://books.google.be/books?id=gksHAAAAQAAJ&printsec=frontcover&hl=fr&source=gbs_v2_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false
  7. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1970 (= Theorie Werkausgabe Bd. 13), S.205. Sie auch meinen Beitrag https://theatermarginalien.com/2019/08/12/hegel-und-das-theater/ und Teil1 von „Die Wahrheit auf dem Theater“: https://theatermarginalien.com/2021/08/13/die-wahrheit-auf-dem-theater-teil-1/ 
  8. Heinrich Theodor Rötscher, Die Kunst der dramatischen Darstellung in ihrem organischen Zusammenhang wissenschaftlich entwickelt. (Erster Band) Leipzig: Otto Wiegand, 2. Auflage 1864, S.19
  9. ibid. S.21
  10. Konstantin Sergejewitsch Stanislawskij, Das Geheimnis des schauspielerischen Erfolges.  übers. v. Alexandra Meyenburg. Zürich: Scientia AG, o.J (1940?). {zuerst Moskau 1938}. S.185
  11. ibid. S.225
  12. ibid. S. 225
  13. ibid. S. 185
  14. Ottofritz Gaillard, Das deutsche Stanislawski-Buch. Lehrbuch der Schauspielkunst nach dem Stanislawski-System. Berlin: Aufbau-Verlag, 1947, S.191
  15. ibid. Geleitwort S.11
  16. Hans Günther von Klöden, Grundlagen der Schauspielkunst II: Improvisation und Rollenstudium. Velber bei Hannover: Friedrich Verlag, 1967 (Reihe Theater heute 24) S.19. Hans Günther von Klöden war 1968 kurzfristig mein Schauspiellehrer.
  17. Stanisławski. Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst. Tagebuch eines Schülers. Teil 1 Die Arbeit an sich selbst im schöpferischen Prozess des Erlebens. übers. v. Ingrid Tintzmann. Westberlin: das europäische Buch, 1981, z.B. S. 148ff, 181
  18. Eine ähnliche, aber nicht völlig gleichbedeutende Definition findet sich bei Otto Friedrich Bollnow: „Während die Wahrheit (nach der überkommenen, aber für den gegenwärtigen Zusammenhang völlig ausreichenden Bestimmung) die (objektive) Übereinstimmung einer Aussage mit ihrem Gegenstand bedeutet, meint die Wahrhaftigkeit ihr (subjektive) Übereinstimmung mit der Meinung des Sprechers. (…) Die Wahrhaftigkeit aber (oder Unwahrhaftigkeit) wendet sich nach innen, d.h. sie lebt in der Beziehung des Menschen zu sich selbst. (…) Die Wahrhaftigkeit geht also auf das Verhalten des Menschen zu sich selbst. Sie bedeutet die innere Durchsichtigkeit und das freie Einstehen für sich selbst.“ Otto Friedrich Bollnow, Wesen und Wandel der Tugenden. Frankfurt/M: Ullstein, 1958, S.138f
  19. v. Klöden a.a.O., S. 20f.
  20. Susan Batson, Truth: Personas, Needs, and Flaws in the Art of Building Actors and Creating Characters. Webster/Stone, 2006 (deutsch: Truth. Wahrhaftigkeit im Schauspiel. Ein Lehrbuch. Berlin: Alexander Verlag, 2014)
  21. Georg Simmel, „Zur Philosophie des Schauspielers“, in: G.S., Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg. v. Michael Landmann. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1987, S. 85f. Der Aufsatz wurde postum aus dem Nachlass zuerst veröffentlicht in: Internationale Zeitung für die Philosophie der Kultur, Band 9 (1920-1921), S.339-362. Er ist nicht identisch mit dem gleichnamigen Aufsatz in: Der Morgen 2.Jg., No.51/52, 18. Dezember 1908, S.1685-1689
  22. Jens Roselt (Hg.), Schauspieltheorien. Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock – bis zum  postdramatischen Theater. Berlin: Alexander Verlag, 2005, Einführung S.47

Die Wahrheit auf dem Theater – Teil 1 Die Kunst

Die Urszene

Es war im Jahre 2002, im Spiegelzelt des Berliner Theatertreffens, in dem damals die Publikumsdiskussionen im Anschluss an die Vorstellungen stattfanden:

„Dieser Juror hat ja keine Ahnung, was Wahrheit ist“,

tönte der allseits hochverehrte Ivan Nagel aus dem Zuschauerraum. Es war der Abend nach der Vorstellung von Luc Percevals Inszenierung des damals neuen Stücks von Jon Fosse „Traum im Herbst“. Die Münchner Kammerspiele waren mit Dagmar Manzel und Stephan Bissmeier zu Gast im Haus der Berliner Festspiele. Und ich war an der Reihe gewesen, die Begründung für die Auswahl dieser Inszenierung durch die Jury vorzutragen1.

„Was ist Wahrheit?“ fragte schon Pontius Pilatus in einer berühmten Gerichtsverhandlung und fällte dann das folgenreichste Fehlurteil der abendländischen Geschichte. Dieser unbeholfene Juror auf dem Podium war zwar tatsächlich irgendwie auf dem falschen Dampfer, aber ganz so ahnungslos wie es schien, war er auch damals nicht. Der Tumult im Spiegelzelt und Franz Willes eloquente Verteidigung meiner Position hinderten Ivan Nagel an weiteren Erklärungen, was er denn genau unter Wahrheit verstehe. Was könnte also Ivan Nagel gemeint haben mit der Wahrheit auf dem Theater?

Der Wahrheitsbegriff

Die Wahrheit auf dem Theater ist eine andere als die gewöhnliche. Der Begriff der Wahrheit hat, wenn er von Theaterleuten gebraucht wird, eine ganz andere Bedeutung als in der Wissenschaft. Mit den Wahrheitstheorien der gegenwärtigen Philosophie – semantischer oder repräsentativer Wahrheitsbegriff, Evidenz-, Konsens- oder Kohärenztheorie der Wahrheit2 – hat er nichts zu tun. Die moderne Wissenschaftstheorie kommt ohnehin weitgehend ohne den Begriff der Wahrheit aus.3 Der Wahrheitsbegriff des Theaters (und der Theatertheorie) kommt eher aus der Traditionslinie Platon-Hegel-Heidegger-Adorno-Badiou als aus der Linie Aristoteles-Thomas von Aquin-Kant-Wittgenstein. Die Wahrheit auf dem Theater ist ein Zwischending zwischen philosophischer Theorie und ungeschultem Alltagsdenken. Die Wahrheitsvorstellungen der Theater- und Schauspieltheoretiker bewegen sich in einem Übergangsbereich, in dem Begriffe höchster Abstraktionsstufe herabsinken aus der philosophischen Tradition in einen besonderen Teilbereich menschlicher Tätigkeiten und dabei auf Begriffe treffen, die aufsteigen aus der konkreten Praxis des künstlerischen, präsenten Darstellens zu höherer Abstraktionsstufe.4

In Ivan Nagels Schriften findet sich keine Abhandlung über die Wahrheit, nur einmal erwähnt er Alfred Kerrs begeisterten Ausruf angesichts des Gastspiels einer Inszenierung Stanislawskis von Tschechows „Onkel Wanja“ 1906.

„Es ist die Wahrheit – die Wahrheit!“ 5

Es ist naheliegend zu vermuten, Ivan Nagel als Schüler Adornos habe sich auf den Wahrheitsbegriff seines akademischen Lehrers bezogen. Doch auch Adornos Begriff der Wahrheit muss in den Zusammenhang der Wahrheitstheorien Hegels und Heideggers gestellt werden, um zu verstehen, was der Begriff der Wahrheit in seiner Anwendung auf das Theater bedeuten kann und was nicht. Es geht dabei nicht nur um das lächerlich eitle Bemühen, eine alte Scharte auszuwetzen, sondern auch darum, die gegenwärtige Diskussion über Authentizität und Repräsentation auf dem Theater etwas zu erhellen.

Die Wahrheit der Kunst

Um etwas über die Wahrheit auf dem Theater sagen zu können, muss man zunächst den Begriff der Wahrheit klären, dann seine Anwendung auf die Kunst und schließlich muss man die besonderen Bedingungen der Kunstform Theater berücksichtigen. Die folgende Darstellung ist sicher laienhaft vereinfacht und berücksichtigt nicht die weitreichenden unterschiedlichen Grundannahmen der einzelnen Philosophen, sondern bleibt an der Oberfläche des für die Theatertheorie Interessanten, ist aber dadurch vielleicht auch für Laien verständlich.

Der gängigste Begriff von Wahrheit ist der, den zuerst Aristoteles formulierte:

„Von etwas, was ist, zu sagen, dass es nicht ist oder von etwas, was nicht ist, dass es ist, ist falsch; hingegen ist wahr, von etwas zu sagen, dass es ist und von etwas, das nicht ist, zu sagen, dass es nicht ist.“ 6.

Im Mittelalter wurde daraus die Formel: „Wahrheit ist die Angleichung eines Dinges und des Verstandes“7. Dieser korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff oder diese Adäquationstheorie der Wahrheit beschränkt die Anwendung des Begriffs der Wahrheit auf Aussagesätze. Von Aristoteles über Thomas von Aquin und Ockham bis Kant ist man sich einig: Wahrheit ist Aussagenwahrheit, Korrespondenz von Gedanke und Sache. Die Zirkularität dieser Definition der Korrespondenztheorie fällt erst im 20. Jahrhundert auf und führt zu diversen Versuchen, die Korrespondenztheorie zu retten (Tarski) oder zu ersetzen (Habermas). Damit hat die Kunst nichts zu schaffen.

Von Platon zu Hegel

Platon dagegen hatte den Begriff auf eine höhere Wirklichkeit bezogen: die Ideen (Formen) sind für ihn wahr, weil sie eine höhere Form von Wirklichkeit haben als die empirische Wirklichkeit8. An diesen ontologisch-gnoseologischen Wahrheitsbegriff knüpft Hegel an9 (im Anschluss an Fichte), wenn er den korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff abwertet zur bloßen „Richtigkeit“ 10 und Wahrheit definiert als „Übereinstimmung eines Inhalts mit sich selbst“11. Für Hegel ist die Wahrheit erst der zu sich selbst gekommene Geist, Übereinstimmung des absoluten Geistes mit sich selbst. Also ist erst das Ganze die Wahrheit12, nicht ein Aussagesatz, sondern das ganze sich selbst entwickelnde Begreifen der Wirklichkeit.

In diesem Prozess des Zusichselbstkommens des Geistes hat die Kunst eine entscheidende Rolle. Durch die Übereinstimmung des Begriffs eines Kunstwerkes mit seinem konkreten Dasein, durch seine Verbindung von vollständiger Freiheit der Teile und Notwendigkeit ihrer Übereinstimmung hat ein Kunstwerk („das Schöne“) Wahrheit13. Kunst ist für Hegel, eine „Entfaltung der Wahrheit, die sich {…] in der Weltgeschichte offenbart“ 14 Hier erhält also die Kunst eine Funktion in einem Prozess, dessen Ziel die Wahrheit ist und nur weil sie Teil dieses Prozesses ist, kann bei Hegel auch vom Ende der Kunst die Rede sein, nämlich dann, wenn in diesem Prozess der Selbstentfaltung und des Sichselbstbegreifens des absoluten Geistes die Kunst ihre Rolle als „Frontman“ an die reine Reflexion, d.h. die Philosophie, abgibt.

Von Heidegger zu Adorno

Dieser emphatische Wahrheitsbegriff, dass Wahrheit das Ganze ist und nicht einem einzelnen Satz zukommen kann, wird im 20. Jahrhundert – trotz aller Polemik Nietzsches gegen den Wahrheitsbegriff15 – entscheidend für die philosophische Ästhetik und Kunsttheorie16. Sowohl Heidegger als auch Adorno sehen die Aufgabe der Kunst in diesem Prozess der Entfaltung einer Wahrheit. Die Gemeinsamkeiten sind trotz aller politischen, und stilistischen Gegensätze, trotz aller unterschiedlichen Grundannahmen frappierend – wenn man sie auf den Aspekt der Relation der Kunst zur Wahrheit reduziert – und ignoriert, was die beiden Großdenker jeweils unter Wahrheit verstehen17.

Das Kunstwerk setzt die einzelnen Individuen, die Kunstrezipienten, in Beziehung zu etwas Überindividuellem. Die Rezeption eines Kunstwerkes ist nicht nur ein individuelles Erlebnis, nicht nur ein Erregungsvorgang im Bewusstsein der Rezipienten, sondern die Vermittlung einer Verbindung zu etwas Überindividuellem, das sowohl Heidegger als auch Adorno „Wahrheit“ nennen.

Heidegger:

„…setzt das Werk nicht herab in die Rolle eines Erlebniserregers. Die Bewahrung des Werkes vereinzelt die Menschen nicht auf ihre Erlebnisse, sondern rückt sie ein in die Zugehörigkeit zu der im Werk geschehenden Wahrheit….“ 18

Adorno:

„Die Wahrheit des Kunstwerks aber kann nicht anders vorgestellt werden, als dass in dem subjektiv imaginierten An sich ein Transsubjektives lesbar wird. Dessen Vermittlung ist das Werk.“ 19

Für Heidegger wie für Adorno ist die Wahrheit nichts Statisches, nichts Vorhandenes. Die Kunst ist für beide ein Werden, ein Geschehen und die Wahrheit dann ein Gewordenes, etwas das sich ereignet hat:

Heidegger:

„Kunst ist das Feststellen der sich einrichtenden Wahrheit in die Gestalt.[…] Also ist die Kunst: die schaffende Bewahrung der Wahrheit im Werk. Dann ist die Kunst ein Werden und Geschehen der Wahrheit.“ 20

Adorno:

„Deutbar ist Kunst nur an ihrem Bewegungsgesetz, nicht durch Invarianten. Sie bestimmt sich im Verhältnis zu dem, was sie nicht ist. […] Axiomatisch ist für eine umorientierte Ästhetik die vom späten Nietzsche gegen die traditionelle Philosophie entwickelte Erkenntnis, dass auch das Gewordene wahr sein kann. Die traditionelle, von ihm demolierte Ansicht wäre auf den Kopf zu stellen: Wahrheit ist einzig als Gewordenes.“ 21

Sowohl Heidegger als auch Adorno betonen die Uneindeutigkeit, die Zwiespältigkeit, die Paradoxie des Verhältnisses der Kunst zur Wahrheit:

Heidegger:

„Zum Wesen der Wahrheit als der Unverborgenheit gehört dieses Verweigern in der Weise des zwiefachen Verbergens.“
„Das Wesen der Wahrheit ist in sich selbst der Urstreit, in dem jene offenen Mitte erstritten wird, in die das Seiende hereinstellt und aus der es sich in sich selbst zurückzieht.“ 22

Adorno:

„Wahr ist Kunst, soweit das aus ihr Redende und sie selber zwiespältig, unversöhnt ist, aber diese Wahrheit wird ihr zuteil, wenn sie das Gespaltene synthetisiert und dadurch erst in seiner Unversöhnlichkeit bestimmt. Paradox hat sie das Unversöhnte zu bezeugen und gleichwohl tendenziell zu versöhnen; möglich ist das nur ihrer nicht-diskursiven Sprache.“ 23

Weil die Wahrheit in der Kunst nicht einfach vorhanden ist, kommt es auf den rechten Umgang mit den Kunstwerken an, um die Wahrheit zu entfalten. Heidegger nennt diese Entfaltung der Wahrheit des Kunstwerkes “Bewahrung“, bei Adorno ist es „philosophische Reflexion“ und „Kritik“:

Heidegger:

„Dieser Verrückung folgen heißt: die gewohnten Bezüge zur Welt und zur Erde verwandeln und fortan mit allem geläufigen Tun und Schätzen, Kennen und Blicken ansichhalten, um in der im Werk geschehenden Wahrheit zu verweilen. […] Das Werk ein Werk sein lassen, nennen wir die Bewahrung des Werkes.“ 24
„Die eigenste Wirklichkeit des Werkes kommt dagegen nur da zum Tragen, wo das Werk in der durch es selbst geschehenden Wahrheit bewahrt wird.“ 25

Adorno:

„Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist die objektive Auflösung des Rätsels eines jeden einzelnen. Indem es die Lösung verlangt, verweist es auf den Wahrheitsgehalt. Der ist allein durch philosophische Reflexion zu gewinnen. … Keine Aussage wäre aus *Hamlet* herauszupressen; dessen Wahrheitsgehalt ist darum nicht geringer.“ „Den Wahrheitsgehalt begreifen postuliert Kritik. Nichts ist begriffen, dessen Wahrheit oder Unwahrheit nicht begriffen wäre, und das ist das kritische Geschäft.“ 26

Hier liegt vom Standpunkt der Theaterkritik aus, auf der Suche nach der Gebrauchsanleitung für den Umgang mit den Kunstwerken des Theaters, der entscheidende Unterschied: nach Heidegger soll das Kunstwerk in seiner Rezeption „bewahrt“ werden, nach Adorno soll es kritisch reflektiert werden.
In Adornos „Früher Einleitung“ zu seiner Ästhetischen Theorie findet sich ein Abschnitt, der vielleicht das trifft, was Ivan Nagel damals dem unbedarften Juror hätte vorhalten wollen, wenn man ihn hätte ausreden lassen:

„Verstanden werden Kunstwerke erst, wo ihre Erfahrung die Alternative von wahr und unwahr erreicht oder, als deren Vorstufe, die von richtig und falsch. Kritik tritt nicht äußerlich zur ästhetischen Erfahrung hinzu, sondern ist ihr immanent. Ein Kunstwerk als Komplexion von Wahrheit begreifen, bringt es in Relation zu seiner Unwahrheit, denn keines ist, das nicht teilhätte an dem Unwahren außer ihm, dem des Weltalters. Ästhetik, die nicht in der Perspektive der Wahrheit sich bewegt, erschlafft vor ihrer Aufgabe; meist ist sie kulinarisch. Weil Kunstwerken das Moment von Wahrheit wesentlich ist, partizipieren sie an Erkenntnis und damit das legitime Verhältnis zu ihnen.“ 27

Ernst Blochs Schein-Antwort

Ernst Bloch versucht den Wahrheitsanspruch der Kunst gegen die rationalistische und religiöse Kritik der Kunst als bloßer „Schein“ aufrechtzuerhalten. Den Ausweg aus der Antithese, Kunst gegen Wahrheit, sieht er, entsprechend seiner Logik, die zwischen Sein und Nicht-Sein noch ein drittes, das Noch-Nicht, sieht, im Vor-Schein. Kunst ist für ihn nicht nur Schein, auch nicht das sinnliche Scheinen der Idee wie bei Hegel, sondern ein „Vor-Schein“. So meint er die „ästhetische Wahrheitsfrage“ lösen zu können. Kunst ist Utopie, eine „Objektbestimmtheit, mit dem Seinsgrad des Realmöglichen.“ Die Losung der Kunst, „des ästhetisch versuchten Vor-Scheins“, ist für Bloch nichts weniger als: „Wie könnte die Welt vollendet werden?“ So meint er, die Frage, ob die Kunst eine Wahrheit vermittelt, beantworten zu können:

„Die Antwort auf die ästhetische Wahrheitsfrage lautet: Künstlerischer Schein ist über all dort nicht nur bloßer Schein, sondern eine in Bildern eingehüllte, nur in Bildern bezeichenbare Bedeutung von Weitergetriebenem, wo die Exaggierung und Ausfabelung einen im Bewegt-Vorhandenen selber umgehenden und bedeutenden Vor-Schein von Wirklichem darstellen, einen gerade ästhetisch-immanent spezifisch darstellbaren.“ 28


Diese Antwort kommt aber ohne den Begriff der Wahrheit aus. „Vor-Schein“ ist nicht Schein, aber auch nicht Wahrheit. Außerdem stellt die Antwort Bedingungen an die Kunst: nicht jede Kunst ist Vor-Schein, sondern nur dort, wo sie in der Wirklichkeit angelegte Tendenzen zur Vervollkommnung der Welt weitertreibt. Bloch rechtfertigt die Kunst vor den Angriffen der kunstfremden Rationalisten, denen das Spiel der Kunst keine ernsthafte Wahrheit vermittelt, indem er die Wahrheitsfrage utopisch umschifft. Letztlich ist für Bloch der Begriff der Wahrheit auf die Kunst nicht anwendbar.

Badious Schema

Alain Badiou hat versucht, die Theorien über das Verhältnis von Kunst und Wahrheit in drei Schemata zu ordnen:

  1. das didaktische Schema (Platon): Die Kunst kann keine Wahrheit hervorbringen. Sie ist nur der täuschende Schein von Wahrheit. Wahrheit gibt es nur außerhalb der Kunst. Deshalb muss die Kunst reglementiert werden.
  2. das romantische Schema: Wahrheit gibt es nur in der Kunst (und in der Philosophie, aber die Kunstwahrheit ist die Vollendung der philosophischen Wahrheit durch Verkörperung).
  3. das klassische Schema (Aristoteles): In der Kunst gibt es keine Wahrheit, aber das ist nicht schlimm. Sie hat andere Aufgaben.

 

Dagegen stellt Badiou seine eigene Theorie der Wahrheit29. Es gibt nicht die Wahrheit, sondern nur Wahrheiten. Wahrheit ist für Badiou nicht eine Eigenschaft eines Urteils, sondern ein Prozess in der Wirklichkeit, durch den etwas Neues entsteht. Es gibt vier verschiedene Wahrheitsverfahren: Wissenschaft, Politik, Liebe (!) und Kunst. Die Wahrheiten der Kunst sind ihr immanent, nur in ihr selbst zu finden, und sie sind singulär, es gibt sie nirgendwo anders30. Für Badiou sind aber nicht die Kunstwerke selbst die Wahrheiten, sondern:


„Ein Kunstwerk stellt eine Untersuchung über die Wahrheit dar, die im Kunstwerk als ihr Ort aktualisiert ist oder deren endliches Fragment es ist.“ 31


Für Badiou ist auch nicht das einzelne Werk die künstlerische Wahrheit, sondern eine „künstlerische Konfiguration“, die auf ein auslösendes Ereignis, einen Umbruch, zurückgeht. Mit Konfiguration meint Badiou so etwas wie ein künstlerisches Paradigma, eine Epoche oder eine dominierende Stilrichtung. Er nennt als Beispiele für die Moderne: „Serialismus, romantische Prosa, Zeitalter der Dichter, Bruch mit der bildlichen Darstellung.“ 32

Dem Theater spricht Badiou eine ganz eigene, immanente Wahrheit zu. Es produziere eine Wahrheit, die auf keine andere Form der Wahrheit reduzierbar sei, eine „Theater-Wahrheit“. Er beschreibt in einem Aufsatz von 1998 vier Dimensionen dieser „Theater-Wahrheit“:

  1. die ereignishafte Dimension. Die Wahrheit kommt im Theater nur zum Erscheinen, sie ist nicht einfach da, sondern hat eine vergängliche Aktualität.
  2. die experimentelle Dimension. Im Theater findet eine Begegnung zwischen etwas Ewigem (für Badiou ist es der Theatertext) und dem gegenwärtigen Moment in einer künstlichen Zeit statt. So ist eine Theatervorstellung ein Experiment, das seine eigene Zeit herzustellen versucht.
  3. die quasi-politische Dimension: Das Theater ist wesentlich öffentlich, ein kollektives Ereignis wie die Politik.
  4. die vergrößernde Dimension. Das Theater zeigt, wo wir in der historischen Zeit stehen. So wird unsere Situation vergrößert, auf eine die Gegenwart übergreifende Dimension bezogen.

Daher bringt das Theater nach Badiou eine Wahrheit aus den verschiedenen möglichen Formen der kollektiven Beziehung zu Wahrheiten hervor. 33

Für Badiou gehört Heideggers Kunsttheorie eindeutig ins romantische Schema. Das dürfte auch für Adornos Theorie gelten, wenn man Badious etwas grobschlächtigem Schema folgen will. Schließlich ist die philosophische Reflexion für Adorno nur Hilfsmittel zur Entbindung des Wahrheitsgehaltes des Kunstwerks.

Zwischenergebnis 1

Vorläufiges Ergebnis also: Ivan Nagel hatte eine romantisch-adornitische Auffassung von Wahrheit und wollte an den Kritiker nun die Forderung stellen, die Auswahl der Inszenierung als eine der „bemerkenswertesten“ des Jahrgangs mit ihrer „Wahrheit“ zu begründen.

  1. Franz Wille nannte es eine Szene von „homerischer Kraft“ und nahm sie zum Anlass seines Spielzeitessays im Jahrbuch von „Theater heute“: Franz Wille, „Im Auge des blinden Flecks. Über das Theater der Repräsentationen und seine Matrix, über Schwierigkeiten mit der Wahrheit von Nietzsche bis Nagel und manche andere Perspektive.“ Theater heute Jahrbuch 2003, S. 102-113
  2. Eine übersichtliche, kurze Darstellung der modernen Wahrheitstheorien findet sich bei Thomas Grundmann, Philosophische Wahrheitstheorien. Stuttgart: Reclam, 2018. Grundmann hält die Klärung des Wahrheitsbegriffs für eine aktuelle politische Aufgabe. Eine ausführlichere, ältere Darstellung ist  L. Bruno Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983. Die wesentlichen Grundlagentexte findet man bei Gunnar Skirbekk (Hg.), Wahrheitstheorien. Eine Auswahl aus den Diskussionen über Wahrheit im 20. Jahrhundert. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1977. 
  3. Karl Popper hält an der „Idee der absoluten Wahrheit“ zwar fest, aber nur als Grenzbegriff, um auf unsere unendliche Fehlbarkeit zu verweisen: „Die Idee der absoluten Wahrheit ist notwendig, damit wir unaufhörlich im Bewußtsein unserer Fehlbarkeit leben.“ Karl Popper, „Interview mit l’Express“ 1982, dt. in: Aufklärung und Kritik 2/1994, S. 38ff
  4. Ein interessante, wenig beachtete Untersuchung ist die frühe Arbeit von Arne Naess, „Truth“ as conceived by this who are not professional philosophers. Skrivter utgitt av det Norske Videnskaps-Akademi i Oslo. II. Hist.-Filos. Klasse. 1938. No. 4. Naess vergleich die empirisch durch Interviews erhobenen Auffassungen von Nicht-Philosophen, was denn Wahrheit sei, mit den Aussagen von Philosophen darüber, was Nicht-Philosophen (nach Meinung der Philosophen) angeblich für Wahrheit halten. Er kommt zu dem Schluss, dass die Philosophen ohne jeglichen nachprüfbaren Grund über die Wahrheitsvorstellungen der Nicht-Philosophen urteilen und meistens auch falsch liegen, weil die Wahrheitsvorstellungen der Nicht-Philosophen ebenso vielfältig sind wie die der professionellen Philosophen. Naess hält folglich auch den Versuch einer philosophisch begründeten umfassenden Wahrheitstheorie für überflüssig. Auch in dieser Untersuchung der Wahrheit auf dem Theater geht es um die Wahrheitsvorstellungen von Nicht-Philosophen.
  5. „Manchmal, {…} sagt man sich: nun ja, die einzelnen sind Darsteller, bescheidene Einzelwerte … aber das Ganze gefaßt, glaubt man, wie der Diable boiteux in abgedeckte Häuser zu blicken … Es ist die Wahrheit – die Wahrheit.“ Alfred Kerr, „Ich sage, was zu sagen ist“ Theaterkritiken 1893-1919 (Werke Bd. VII.1) hg. Günther Rühle. Frankfurt/M: S. Fischer 1998, S.267
  6. „τὸ μὲν γὰρ λέγειν τὸ ὄν μὴ εἶναι ἢ τὸ μὴ ὂν εἶναι ψεῦδος, τὸ δὲ τὸ ὂν εἶναι καὶ τὸ μὴ ὂν μὴ εἶναι ἀληθές.“ Metaphysik IV,7 1011b
  7. Zur Herkunft der Formel „veritas est adaequatio rei et intellectus“:  Thomas von Aquin verweist auf Isaac Judaeus {Thomas von Aquin, Von der Wahrheit – De veritate. Quaestio I. Hamburg: Meiner, 1986, S.8}, dort findet sich die Formel aber nicht. Guillaume d’Auvergne verwendet die Formel, die wahrscheinlich aber auf Avicenna zurückgeht.
  8. Jan Szaif weist nach, dass auch schon der späte Platon im Sophistes diesen korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff formuliert hat: Jan Szaif, „Die Geschichte des Wahrheitsbegriffs in der klassischen Antike“ in: Markus Enders & Jan Szaif (Hg.), Die Geschichte des philosophischen Begriffs der Wahrheit Berlin/New York: de Gruyter, 2006, S.16f
  9. „Hegels Lehre von der Wahrheit erscheint somit auf den ersten Blick als dynamisierte Variante des christlichen Platonismus.“ Herbert Schnädelbach, Hegels Lehre von der Wahrheit. Antrittsvorlesung 26. Mai 1993, https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/2275/Schnaedelbach.pdf?sequence=1
  10. „Richtigkeit und Wahrheit werden im gemeinen Leben sehr häufig als gleichbedeutend betrachtet, und demgemäß wird oft von der Wahrheit eines Inhalts gesprochen, wo es sich um bloße Richtigkeit handelt. Diese betrifft überhaupt nur die formelle Übereinstimmung unserer Vorstellung mit ihrem Inhalt, wie dieser Inhalt auch sonst beschaffen sein mag. Dahingegen besteht die Wahrheit in der Übereinstimmung des Gegenstandes mit sich selbst, d.h. mit seinem Begriff.“ G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1970 (WA Bd.8), S. 323, §172 Zusatz
  11. „Im philosophischen Sinn dagegen heißt Wahrheit, überhaupt abstrakt ausgedrückt, Übereinstimmung eines Inhalts mit sich selbst. {…} Unwahr heißt dann soviel als schlecht, in sich selbst unangemessen. {…} das Schlechte und Unwahre überhaupt besteht in dem Widerspruch, der zwischen der Bestimmung oder dem Begriff und der Existenz eines Gegenstandes stattfindet.“ G.W.F. Hegel, WA Bd.8, S. 86 §24 Zusatz 2. Rainer Schäfer legt die Gründe für diesen Wechsel in der Wahrheitsdefinition dar. Sie liegen in der idealistischen Grundkonzeption Fichtes, Schellings und Hegels. Vgl. Rainer Schäfer, „Das holistisch-systemische Wahrheitskonzept im deutschen Idealismus (Fichte-Hegel)“, In: Enders & Szaif (Hg.) a.a.O. S. 251
  12. „Das Wahre ist das Ganze.. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.“ G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Einleitung. (WA Bd. 3) Frankfurt/M: Suhrkamp, 1970, S. 24
  13. „Denn dem Wesen nach muss in dem schönen Objekt sowohl der Begriff, der Zweck und die Seele desselben wie seine äußere Bestimmtheit, Mannigfaltigkeit und Realität überhaupt aus sich selbst und nicht durch andere bewirkt erscheinen, indem es, wie wir sahen, nur als immanente Einheit und Übereinstimmung des bestimmten Daseins und echten Wesens und Begriffs Wahrheit hat. {…} Beides muss im schönen Objekte vorhanden sein: die durch den Begriff gesetzte Notwendigkeit im Zusammengehören der besonderen Seiten und der Schein ihrer Freiheit als für sich und nicht nur für die Einheit hervorgegangener Teile. {…} Durch diese Freiheit und Unendlichkeit, welche der Begriff des Schönen wie die schöne Objektivität und deren subjektive Betrachtung in sich trägt, ist das Gebiet des Schönen der Relativität endlicher Verhältnisse entrissen und in das absolute Reich der Idee und ihrer Wahrheit emporgetragen.“ G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1970 (WA Bd. 13), S.156f
  14. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1970 (WA Bd. 15), S.573
  15. Das abgedroschene Zitat darf auch hier nicht fehlen: „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind.“ Friedrich Nietzsche, „Über Wahrheit und Lüge im außenmoralischen Sinne“, https://www.projekt-gutenberg.org/nietzsch/essays/wahrheit.html
  16. Zwei Beispiele für die Wirksamkeit des emphatischen Wahrheitsbegriffs in der Kunsttheorie der 50er Jahre:
    Romano Guardini rechtfertigt sich 1953 in der Einleitung zu seiner Interpretation von Rilkes „Duineser Elegien“: „Ein dichterisches Werk ist nicht nur Ausdruck, sondern Aussage. Jede Aussage steht aber vom Wesen her unter dem Maßstab der Wahrheit. Also nicht nur der Forderung, ehrlich und echt zu sein, sondern das Wesen des Seienden so zu erfassen, wie es in sich ist.“ Romano Guardini, Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins. Eine Interpretation der Duineser Elegien. Ostfildern/Paderborn: Matthias Grünewald, Schöningh 5. Aufl. 2016 (zuerst 1953) S.19.
    Hans Sedlmayr knüpft 1949 in seinem Aufsatz „Kunstgeschichte als Geistesgeschichte“ ausdrücklich an einen emphatischen Begriff von Wahrheit: „{Der Sinn der Kunstgeschichte} wird nur dem zugänglich, der an die absolute Wahrheit, die Wahrheit der Offenbarung glaubt.“ S.90. Sedlmayr bedient sich auch ausdrücklich bei Heideggers Etymologie des Begriffs ἀλήθεια: „Es bleibt die Frage, ob das Kunstwerk seine wahre Gegenwart – seine Wahrheit, Unverborgenheit – schon gewonnen hat oder sie erst noch von der Zukunft erwartet.“ Hans Sedlmayr, Kunst und Wahrheit. Zur Theorie und Methode der Kunstgeschichte. Mittenwald: Mäander, 1978 (zuerst in „Rowohlts deutscher Enzyklopädie“ 1958) S.171
  17. Heidegger beschäftigt sich ausführlich und immer wieder mit dem Begriff der Wahrheit, z.B. in „Sein und Zeit“ §44: „Die Aussage ist wahr, bedeutet: sie entdeckt das Seiende an ihm selbst {…} Wahrsein (Wahrheit) der Aussage muss verstanden werden als entdeckend-sein.“ Martin Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer, 15. Aufl. 1979, S.218. Heidegger versucht hier den traditionellen korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff existenzialontologisch zu begründen in der Struktur des menschlichen Daseins: “Wahrheit im ursprünglichen Sinne ist die Erschlossenheit des Daseins, zu der die Entdecktheit des innenweltlichen Seienden gehört.“ a.a.O. S.223.
    Adorno verweigert aus guten Gründen eine Definition von Wahrheit. Auch in seiner Vorlesung „Philosophische Terminologie“ (1962/63) taucht der Begriff „Wahrheit“ nicht als ein zu erklärender Terminus der Philosophie auf, wird aber dennoch ständig verwendet. Immerhin gibt es eine Definition der Philosophie: „So würde ich {…} Philosophie definieren: als die Bewegung des Geistes, deren eigene Intention Wahrheit ist, ohne dass sie wähnte, nun in einem ihrer eigenen Sätze oder in irgendeiner Gestalt der Unmittelbarkeit dieses Wahrheit als ein bereits Fertiges zu haben.“ Theodor W. Adorno, Philosophische Terminologie I und II, Hg.v. Henri Lonitz. Berlin: Suhrkamp, 2016, S.114. Und eine prägnante Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Philosophie: „Wird in der Kunst die Wahrheit oder das Objektive oder das Absolute ganz und gar Ausdruck, so wird umgekehrt in der Philosophie der Ausdruck, jedenfalls ihrer Tendenz nach, zur Wahrheit.“ S. 113. Adorno verhält sich natürlich nicht unkritisch zu Hegel: „Geist, der Totalität sein soll, ist ein Nonsens.“ (Adorno, Negative Dialetik. Jargon der Eigentlichkeit. Gesammelte Schriften Bd. 6, Frankfurt/M: Suhrkamp, 1984,S.199.) Adornos Dialektik ist die negative, deshalb gilt für ihn: „Das Ganze ist das Unwahre.“ Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1980 (= Bibliothek Suhrkamp 236) Nr. 29, S. 57. Das Ganze ist der „Bann, das Negative“ ( S.161): „Das Unheil liegt in den Verhältnissen, welche die Menschen zur Ohnmacht und Apathie verdammen und doch von ihnen zu ändern wären.“ (S.191). Dagegen hilft nur „bestimmte Negation“.
  18. Martin Heidegger, „Der Ursprung des Kunstwerkes“ in: Holzwege. Frankfurt/M: Klostermann, *6*1980, S.54
  19. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. (=Gesammelte Schriften Bd. 7). Frankfurt/M: Suhrkamp, 1970, S. 421
  20. Heidegger a.a.O., S. 57
  21. Adorno a.a.O, S. 12
  22. Heidegger a.a.O., S.40f
  23. Adorno a.a.O, S. 251
  24. Heidegger a.a.O., S.53
  25. Heidegger a.a.O., S.55
  26. Adorno a.a.O., S. 193f
  27. Adorno a.a.O, S. 515f
  28. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1959 {zuerst Leipzig 1954} Bd. 1, S.247
  29. siehe auch Badious Vortrag „Event and Truth“ bei dem Symposion „Event in Artistic and Political Practices“ (26.-28.03.2013) in Amsterdam; https://www.youtube.com/watch?v=IE97dwA8wrU (Teil 1; Teile 2-4 ebenfalls auf YouTube
  30.  „Was die Kunst unter den Wahrheitsprozessen einmalig macht, ist, dass das Subjekt der Wahrheit bei ihr dem Sinnlichen entnommen wird.“ Alain Badiou, Dritter Entwurf eines Manifestes für den Affirmationismus. hg. und um ein Gespräch mit Alain Badiou erweitert von Frank Ruda und Jan Völker. a.d. Frz.v. Ronald Vouillié. Berlin: Merve, 2007, S. 26
  31. Alain Badiou, Kleines Handbuch der Inästhetik, Berlin: Turia + Kant, 2+2012 (zuerst frz. 1998), S.25
  32. Badiou a.a.O. S.29
  33. Alain Badiou, „Theatre and Philosophy“ in: Alain Badiou, Rhapsody for the theatre. Edited and Introduced by Bruno Bosteels. London/New York: Verso, 2013, pp. 101-104 (zuerst „Théâtre et philosophy“, talk May 1998 Comédie de Reims, Reims: Noria, Cahier 13, also in: Frictions: théâtres-écritures 2 (Spring Summer 2000) pp.133-41

Die Wahrheit auf dem Theater – Teil 2 Der Theatertext

Der Begriff der Wahrheit wird weder von Hegel noch von Heidegger noch von Adorno auf das Theater bezogen. Ihnen geht es um die Kunst allgemein, dann bei Hegel noch besonders um das Drama. Die nicht mit dem Wort identische Seite des Theaters, die Vergegenwärtigung des Textes in einer Theateraufführung oder die nicht-sprachliche Seite des Theaters, sind nicht wesentlich für den Wahrheitsgehalt. Das Kunstwerk ist das Wortkunstwerk.

Theatertext und Theateraufführung

Hegel wertet die nicht-sprachliche Seite des Theaters völlig ab 1 und wenn eine Theateraufführung gelingt, liegt das nur daran, dass der Theaterdichter die richtigen Voraussetzungen dafür im Text geschaffen hat.2
Für Heidegger ist sogar alle Kunst letztlich Dichtung.3 Wie für Hegel hat für ihn die Sprache eine übergeordnete Rolle in der Kunst4. Wenn Heidegger das Theater einmal beiläufig erwähnt, dann im abwertenden Sinne als Erlebnismaschine, als Medium der Effekthascherei5.
Adorno dagegen bezeichnet sich selbst als „halbes Theaterkind“6. Aber mit „Theater“ meint er immer entweder das Drama oder die Oper. In seinen „Noten zur Literatur“ finden sich die einflussreichen Essays über Dramen Goethes, Becketts, Brechts, Horvaths usw. In dem ironisch-liebevollen Essay „Naturgeschichte des Theaters“, der eher eine Sammlung von Aperçus über das Publikum und die verschiedene Räumlichkeiten eines Theaterbaus ist, geht es auch nur um das Opernpublikum und Opernhäuser.7 Von Opernregisseuren, die versuchen Opern „durch die mise en scene“ zu retten oder probieren „es irgendwie zu modernisieren“8, hält er nichts. So kann man bei Adorno wenig Aufklärung über das Verhältnis von Theater (nicht Drama und nicht Oper) zur Wahrheit erwarten.

Einer der wenigen Theaterpraktiker, die sich mit dem Begriff der Wahrheit auseinandergesetzt haben, war der Regisseur Adolf Dresen9. Er betont, dass die Wahrheit der Kunst eine neue Wahrheit ist, sieht also die Wahrheit ähnlich wie Heidegger, Adorno und Badiou als etwas Sich-Entwickelndes, Entstehendes, nicht als etwas Feststehendes, das die Kunst erreichen müsste10. Für ihn ist die Wahrheit der Kunst immer eine „neue Wahrheit“, und – ganz im Heideggerschen Sprachduktus – eine Wahrheit, die sich offenbart11. Aber auch er erklärt nur sein Verständnis der Wahrheit der „Kunst“, nicht der besonderen Rolle der Wahrheit auf dem Theater.

Die Wahrheit des Theatertextes

Wenn man nun sich vorläufig darauf einlässt, die Wahrheit auf dem Theater nur als die Wahrheit des Dramas, d.h. des Theatertextes, zu verstehen, – was lässt sich über sie am Beispiel des von Ivan Nagel angesprochen Dramas „Traum im Herbst“ von Jon Fosse sagen?12

Nehmen wir den ersten Satz von Jon Fosses Text:

„MANN: Nein bist du das“13

An diesen Satz kann man kein Wahrheitskriterium anlegen: Er ist der Beginn eines Dialogs (zwischen Mann und Frau), er ist gesprochen in einer bestimmten Situation (Wiedersehen auf dem Friedhof), er ist fiktional (Teil eines Textes, der eine eigene Wirklichkeit konstruiert), er ist ein Fragesatz. Oder wie Gottlob Frege sagt: die Sätze der Schauspieler auf der Bühne sind nur Bilder, zwar mit Sinn, aber ohne Bedeutung und daher ohne Wahrheitswert. 14
Versuchen wir es mit einem anderen Satz:

„MUTTER: Nichts bleibt / alles zieht / wie Wolken / Ein Leben ist ein Wolkenhimmel /bevor es dunkel wird“15

Das sieht wie ein Aussagesatz aus, aber wie sollen wir beurteilen können, dass er wahr ist? Er enthält eine Metapher und beurteilt etwas so Allgemeines wie „ein Leben“. Metaphern können nicht wahr sein. Auch auf dieser Ebene ist die Wahrheit eines Theatertextes nicht zu suchen. Es gibt nur wenige solche lebensweisen Sätze bei Fosse. Er entwertet sie auch gleich durch Sätze wie:

„MANN: Wir reden ja nur / Eigentlich alles Unsinn /was wir sagen /Nur Gerede/ Ja“16

Fosse selbst sieht die Wahrheit seiner Texte auch nicht in den einzelnen Sätzen, sondern, ganz hegelianisch, im Ganzen:

„Sagte nicht jemand hier: Die Wahrheit ist immer konkret? … Es geht mir um das Ganze eines Textes, und die Welt im Text spricht vom Ganzen und ist daher in jedem Teil, in jedem Detail des Textes präsent.“17

Die Wahrheit eines Dramas, oder seine Partizipation an der Wahrheit, kann also nicht in einzelnen Sätzen liegen, sondern nur im Drama als Ganzem. Das Drama als Ganzes spricht eine nicht-diskursive Sprache (obwohl es auch aus vielen diskursiven Sätzen besteht). Was diese Wahrheit also ist, die das Drama ausspricht oder vermittelt, lässt sich also nicht diskursiv formulieren. Aber dennoch soll es sie geben, dieses transsubjektive Etwas, die Wahrheit des Kunstwerks. Für Adorno müsste also die Kritik diese Wahrheit herausarbeiten, obwohl sie nicht als Aussage aus dem Drama herauszupressen ist (siehe „Hamlet“).

Am Beispiel von „Traum im Herbst“

Was wäre also an „Traum im Herbst“ wahr? Die Zeiterfahrung z.B., wie sich Vergangenheit und Gegenwart im Bewusstsein mischen. In Fosses Stück vermischen sich die Zeitebenen unmerkbar, vorwärts und rückwärts. Natürlich können wir im wirklichen Leben Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden, aber in unserem Bewusstsein vermischen sich ja aktuelle Wahrnehmungen, Erinnerungen und Zukunftspläne. Erst diese erweiterten zeitlichen Dimensionen geben unseren Wahrnehmung im Hier und Jetzt Bedeutung und Sinn. Wäre das die Wahrheit dieses Theaterstücks? Wenn ja, – sie wurde herausgearbeitet, sie ist Resultat von Überlegungen eines einzelnen Rezipienten. Transsubjektiv ist sie höchstens als Zumutung an andere, dieser Wahrheit zuzustimmen (vgl. Kants Geschmacksurteil)18. Natürlich hat „Traum im Herbst“ Teil am „Unwahren des Zeitalters“: glücklich sind die Figuren nicht, ihre Kommunikation ist unbewusst instrumentell, das Frauenbild, das die drei weiblichen Figuren abgeben, ist jämmerlich, auch wenn sie am Ende als überlebendes, scheinbar versöhntes Trio in die Zukunft marschieren.

Entscheidend ist aber, dass das, was in heideggersch-adornitischer Diktion „Wahrheit“ genannt wird, aus einem kommunikativen Akt zwischen Kunstwerk und Rezipient entsteht. Nüchtern betrachtet ist diese „Wahrheit“ in jedem Kopf anders – und verliert damit die Berechtigung einer überindividuellen Gültigkeit. Wenn jeder seine eigene Wahrheit hat, hat es keinen Sinn, diesen verschiedenen Gedanken verschiedener Individuen Wahrheit zuzusprechen.19 Dass diese vielen Gedanken von einem einzigen Objekt, dem Kunstwerk, angeregt werden, oder im Theater von einem gemeinsamen Erlebnis, ist das Wesen der Kunst. Kunst ist Kommunikation, nicht Wahrheit, das ist die Einsicht der Hermeneutik20. Gadamer greift die Frage nach der Wahrheit der Kunst zwar auf, löst sie dann aber auf im Hin- und her des spielerischen Gesprächs zwischen Kunstwerk und Kunstrezipient. Aus dem Anspruch „Aufhebung der {sogenannten} Wirklichkeit zu ihrer Wahrheit“ durch die Kunst.21 wird am Ende doch nur die „Wahrheit des Spiels“22. Das überdehnt den Begriff der Wahrheit über seine möglichen Bedeutungen hinaus.

Wenn es eine oder mehrere „Wahrheiten“ in „Traum im Herbst“ gäbe, müsste sie doch von irgendwem bemerkt worden sein. In den Kritiken der Uraufführung an der Schaubühne Berlin und in denen der zum Theatertreffen eingeladen Inszenierung der Münchner Kammerspiele findet sich das Wort „Wahrheit“ nicht, auch nicht das Adjektiv „wahr“. Die Urteile über das Stück, den Theatertext, sind bei der Uraufführung vorsichtig positiv, bei der Münchner Inszenierung hingegen negativ. Das Verhältnis der Bewertung von Theatertext und Inszenierung kehrt sich um. Günther Grack im Tagesspiegel stellt bei der Uraufführung nur fest, Fosses Stück enthalte sich „jeder über es hinausweisenden Botschaft“23. Eva Corino moniert „Flucht in die falsche Einfachheit“24, Barbara Villiger-Heilig beanstandet bei Gelegenheit der Münchner Aufführung, der Text könne „da wo er philosophisch wird, seine Schwachstellen nicht verbergen“25. Marietta Piekenbrock verteilt gleich „die saure Gurke für die schwächste Spielvorlage der Saison“26. Die Inszenierung der Uraufführung wird wohlwollend abgewertet: „schade“ (Dirk Pilz27), „bemerkenswert gelungen, aus dem diffusen Gespinst ein Maximum an atmosphärischen Reizen und psychologischen Spannungen herauszuholen“, (Günther Grack), die Münchner Inszenierung eindeutig gelobt: „wunderbar“28 (Dirk Pilz), „wunderbar“ (Rüdiger Schaper29), „großartig“ (Simone Meier30).
Wenn man nach wahrheitsfähigen Sätzen in diesen Kritiken sucht, die über die Beschreibung des Bühnengeschehens und die Wiedergabe der Empfindungen des Zuschauers hinausgehen, findet man höchstens Sätze wie den von Dirk Pilz:

„Leben heißt Vorbereitung auf den Tod, Lieben Einübung in den Abschied.“

Oder den von Christopher Schmidt:

„Zwei Dinge, Tod und Liebe, holen einen von den Beinen.“ 31

Diese Sätze bleiben aber, wie in vielen Theaterkritiken, bewusst in der Schwebe zwischen der Wiedergabe von Auffassungen, die dem Theatertext oder der Inszenierung zugeschrieben werden und allgemeinen Aussagen des Kritikers bzw. der Kritikerin. Sie sind Teil des Spiels. Solche Aussagen beanspruchen keine Allgemeingültigkeit, sie sind subjektive Versuche zwischen dem Theatertext bzw. der erlebten Performance und dem Zuschauer zu vermitteln, sind versuchsweise Verallgemeinerungen, die sich ihrer unabänderlichen Subjektivität bewusst sind. 32

Zwischenergebnis 2

Die Anwendung des Begriffs „Wahrheit“ auf einen Theatertext ist also nur möglich, wenn die Wahrheit etwas Absolutes, die Idee, das Ganze, das Sein o.ä. ist. Wahrheit als Aussagenwahrheit ist auf Texte der Theaterliteratur nicht anwendbar. Empirisch gesehen, scheint der Begriff „Wahrheit“ als wertender Begriff der Kunstrezeption irgendwann in den 70er Jahren ausgestorben zu sein. Nur das philosophische Fossil Alain Badiou verwendet ihn noch.

 

Teil 3 (Die Wahrheit des Schauspielers) und Teil 4 (Wahrheit und Repräsentation) folgen (hoffentlich) bald.

  1. siehe meinen Beitrag „Hegel und das Theater“ https://theatermarginalien.com/2019/08/12/hegel-und-das-theater/
  2. siehe meinen Beitrag „Mit Hegel im Theater“ https://theatermarginalien.com/2021/05/10/mit-hegel-im-theater/
  3. „Alle Kunst ist als Geschehenlassen der Ankunft der Wahrheit des Seienden als eines solchen im Wesen Dichtung.“ Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks. Mit der „Einführung“ von Hans-Georg Gadamer und der ersten Fassung des Textes (1935) Frankfurt/M: Klostermann, 2012, S.59
  4. „Gleichwohl hat das Sprachwerk, die Dichtung im engeren Sinne eine ausgezeichnete Stellung im Ganzen der Künste.“ Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks a.a.O., S.61
  5. „Alles Darzustellende soll nur wirken als Vordergrund und Vorderfläche, abzielend auf den Eindruck, den Effekt, das Wirken- und Aufwühlenwollen: ‚Theater‘.“ Martin Heidegger, „Nietzsche I“ in: Gesamtausgabe Bd. 6,1. Frankfurt/M: Klostermann, 1996, S.85. Zit. bei Marten Weise, „Heideggers Schweigen vom Theater“, in: Leon Gabriel, Nikolaus Müller-Schöll (Hg.) Das Denken der Bühne. Szenen zwischen Theater und Philosophie. Bielfeld: Transkript, 2019. Weise erdichtet sich darin eine Vision des Theaters, die Heidegger hätte schreiben sollen, aber nicht geschrieben hat.
  6. „Ich betrachte mich ja selber als ein halbes Theaterkind.“ Theodor W. Adorno, „Theater, Oper, Bürgertum“ in: Egon Vietta (Hg.), Theater. Darmstädter Gespräch 1955. Darmstadt: Neue Darmstädter Verlagsanstalt, 1955, S.139
  7. Adorno, Musikalische Schriften I-III. Gesammelte Werke Bd. 16, S.309-320. Die einzelnen Texte sind zuerst erschienen in den „Blättern des Hessischen Landestheaters, Darmstadt“ 1931-33.
  8. Adorno, Darmstädter Gespräch 1955, a.a.O. S.139
  9. Adolf Dresen (1935-2001) war Theaterregisseur zunächst in der DDR am Deutsche Theater, dann am Burgtheater Wien, in Frankfurt am Main und später Opernregisseur an verschiedenen europäischen Theatern.
  10. „Die Wahrheit der Kunst ist {…} die neue Wahrheit, es kommt ihr an auf die wirkliche Entdeckung der Wahrheit. Wenn die Wahrheit entdeckt wird, ist sie im Widerspruch mit dem bisherigen Bild der Welt, mit der bisherigen Wahrheit, der alten Wahrheit. Die Wahrheit der Kunst macht Ernst mit der Wahrheit als einer historischen Kategorie.“ Adolf Dresen, „Wahrheitsagen“, in: Siegfrieds Vergessen. Kultur zwischen Konsens und Konflikt. Berlin: Christoph Links Verlag, 1992 {auch in Sinn und Form 1992}, S.212
  11. „Es ist diese Kruste der Selbstverständlichkeit, die die Kunst durchbricht. {…} Die Wahrheit ist eine Leistung. Sie ist die Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit, die andere Wirklichkeit nicht des Bestehenden, Anerkannten, Festgestellten, sondern des Erstaunlichen, Verblüffenden, ja des Wunderbaren. {…} Die Wahrheit der Kunst ist die neue Wahrheit, aber sie ist eben auch die neue Wahrheit. Sie ist weder der platte Abklatsch noch der pure Ästhetizismus, sondern Erkennen. Sie ist weder die bestehende noch die ignorierte, sondern die bis eben unbekannte, die sich offenbarende Wahrheit.“ Adolf Dresen a.a.O., S.222f.
  12. Eine ausgezeichnete, methodisch sehr bewusste und detailgenaue Arbeit über Jon Fosses „Traum im Herbst“ ist die Diplomarbeit von Marion Titsch, Das Ungesagte im Gesagten. Dramaturgische Untersuchungen zu Jon Fosses Theatertexten Draum om hausten und Svevn sowie deren Inszenierungen von Luk Perceval und Michael Thalheimer. Diplomarbeit Universität Wien 2009. https://core.ac.uk/download/pdf/11585761.pdf
  13. Jon Fosse, Traum im Herbst und andere Stücke. Reinbek: Rowohlt, 2001 S. 91
  14. Für Gottlob Frege haben Behauptungssätze eines Schauspielers auf der Bühne nicht ihre „gewöhnliche Kraft“, sie enthalten nur einen Gedanken. Der Wahrheitswert eines Satzes ist für Frege seine Bedeutung. Der Aussagesatz eines Schauspielers auf der Bühne hat aber – in Freges Terminologie – keine Bedeutung (keinen Gegenstand), also auch keinen Wahrheitswert. Frege schlägt vor, Zeichen, die keine Bedeutung, nur einen Sinn haben, Bilder zu nennen. Dann würden „die Worte des Schauspielers auf der Bühne Bilder sein, ja der Schauspieler selber wäre ein Bild.“ Gottlob Frege, „Über Sinn und Bedeutung“ (1892) in: G.F., Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, hg.v. Günther Patzig, 3. Aufl. 1969, S. 48f
  15. S.135
  16. Traum im Herbst, S.115
  17. Programmheft zu „Traum im Herbst“ Münchner Kammerspiele. Premiere 29. November 2001. Der Jemand, den Fosse meint, ist wohl Hegel, obwohl das Zitat dann in der Folge auch Lenin und Brecht zugeschrieben wurde. „Das Wahre, der Geist, ist konkret {…} Nur das Konkrete ist das Wirkliche, welches die Unterschiede trägt.“ Hegel, WA Bd. 18 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S.45 u. 53
  18. Das war etwa der Sinn meiner unbeholfenen Antwort auf Ivan Nagel, dass ich Wahrheit für etwas Objektives halte, während es bei der kritischen Würdigung eines Theaterstücks auf die Rechtfertigung eines subjektiven Urteils ankomme.
  19. „Wenn es dem einzelnen Zuschauer überlassen bleibt, aus gewissen Andeutungen eines Theaterstücks die eine oder andere allgemeingültige Aussage abzuleiten, dann sprechen wir nicht mehr über ein wirkliches Lernen durch wahre Aussagen, die implizit im Theaterstück ausgedrückt wären; stattdessen sprechen wir über eine Art von Interaktion zwischen Zuschauer und Aufführung, in der der Zuschauer oder die Zuschauerin in der Auseinandersetzung mit dem Stück seine oder ihre eigenen Ansichten entwickelt oder bedenkt.“ Tom Stern, Philosophy and Theatre. An introduction. London: Routledge, 2014 p.54. Übersetzung: G.P.
  20. „Denn die Dialektik von Frage und Antwort, die wir aufwiesen, lässt das Verhältnis des Verstehens als ein Wechselverhältnis von der Art eines Gesprächs erscheinen. Zwar redet der Text nicht so zu uns wie ein Du. Wir, die Verstehenden, müssen ihn von uns aus erst zum Reden bringen. Aber es hatte sich gezeigt, dass solche verstehendes Zum-Reden-Bringen kein beliebiger Einsatz aus eigenem Ursprung ist, sondern selber wieder als Frage auf die im Text gewärtigte Antwort bezogen ist. {…} Das ist die Wahrheit des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins.“ Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: J.C.B. Mohr, 1960, S.359
  21. Gadamer a.a.O., S.108
  22. Gadamer a.a.O., S. 465
  23. https://www.tagesspiegel.de/kultur/traum-im-herbst-liebe-auf-dem-totenacker/264256.html
  24. „Fjord-Idylle. Das Phänomen Jon Fosse“ Berliner Zeitung 18.12.2001
  25. „Das Leben vor dem Tod. München mit Jon Fosses ‚Traum im Herbst‘ Neue Zürcher Zeitung 1.12.2001
  26. Marietta Piekenbrock, „Heilige Hedda! In München eilt Lukas Perceval durch den ‚Traum im Herbst’“ Frankfurter Rundschau 1.12.2001
  27. Verfall, Verlust und Niedergang.Elegisch: Wulf Twiehaus versetzt an der Schaubühne mit Jan Fosses Trauerspiel „Traum im Herbst“ sein Publikum in einen anhaltenden Zitterzustand“, die tageszeitung 1.2.2001 https://taz.de/Verfall-Verlust-und-Niedergang/!1145941/
  28. vgl. Wolfgang Behrends wunderbare Nachtkritik-Kolumne „Wunderbar wegkürzen!“ https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=19662:kolumne-als-ich-noch-ein-kritiker-war-wolfgang-behrens-ueberlegt-welche-formulierungen-er-fuer-die-theaterkritik-auf-den-index-setzen-wuerde&catid=1503&Itemid=100389
  29. „Das Wunder einer Stunde. Luk Perceval illuminiert an den Münchner Kammerspielen Jon Fosses ‚Traum im Herbst'“ Der Tagesspiegel 1.12.2001
  30. „Mehr November war selten auf einer Bühne. Trauerarbeit an den Münchner Kammerspielen: ‚Traum im Herbst‘ von Jon Fosse, inszeniert von Luk Perceval“, Tages-Anzeiger 1.12.2002
  31. Christopher Schmidt, „Ist ein Cutter, der heißt Tod. Lachender Moribund: Lukas Perceval inszeniert Jon Fosses ‚Traum im Herbst‘ an den Münchner Kammerspielen“, Süddeutsche Zeitung, 1.12.2001
  32. Es ist anrührend, man schwankt zwischen Schaudern und Empörung über den Tod oder das Leben, nach zwanzig Jahren diese Sätze über den Tod der beiden so allzu früh verstorben großen Theaterkritiker Dirk Pilz ✝︎2018 und Christopher Schmidt ✝︎2017 zu lesen.

Mit Hegel im Theater – Hegels Antikritik zu Raupachs Komödie „Die Bekehrten“

Hegel war ein eifriger Theaterbesucher und ein Kenner der dramatischen Literatur. Aber in seiner Ästhetik erhält das Drama ein herausragende Stellung, nicht das Theater. Für Hegel ist die schöne Kunst das „sinnliche Scheinen der Idee“1, aber das sinnliche Scheinen des Dramas, die Theateraufführung, ist für ihn zweitrangig. Das Drama ist die „höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt“2, aber die Schauspielkunst ist zweitrangig und alle Elemente der Theateraufführung „Gebärde, Aktion, Deklamation, Musik, Tanz und Szenerie3 sind der Rede untergeordnet. Das Drama hat für Hegel die höchste Stellung in der Poesie, weil es als dialogische Wortkunst Subjektivität und Objektivität vereint, und so der Philosophie am nächsten steht4. Die Aufführung des Dramas dagegen ist nur notwendiges Beiwerk5. Aus dem inszenatorischen Drumherum, Bewegung, Musik, Bühnenbild, hebt sich das „poetische Wort“ als „hervorstechender Mittelpunkt … in freier Herrschaft“ heraus6.

So Hegels Theorie. Das heißt nicht, dass Hegel unfähig war, eine Theateraufführung zu würdigen und zu genießen. Es gibt von Hegel das kuriose Dokument eines seitenlangen Verrisses7 – nicht einer Theateraufführung, sondern einer Theaterkritik, erschienen 1826 in einer Zeitschrift genannt „Schnellpost“, herausgegeben von Hegels Freund Moritz Gottlieb Saphir8. Gegenstand der kritisierten Kritik war die Uraufführung der Komödie „Die Bekehrten“ von Ernst Raupach. Raupach ist heute völlig vergessen, war aber zwischen 1820 und 1850 ein vielgespielter, hochdekorierter, hochbezahlter Theaterautor 9.

In seiner Komödie „Die Bekehrten“ streitet sich ein Liebespaar, trennt sich. Der Onkel des Geliebten heiratet die junge Frau dann zum Schein, um sie für seinen Neffen in Verwahrung zu nehmen und vor anderen Bewerbern zu schützen, fingiert seinen Tod, erreicht die Annullierung seiner Ehe und führt die beiden ehemals zerstrittenen Liebenden wieder zusammen. Die Handlung des Stückes beginnt aber damit, dass der angeblich gestorbene, scheinverheiratete Onkel in der Verkleidung als Mönch seiner ehemaligen Gattin-zur-Verwahrung Ratschläge und somit die Gelegenheit zur Erzählung der Vorgeschichte gibt. Später erscheint er noch als Geist und stiftet Verwirrung. 10

Das war für den Kritiker der „Schnellpost“ zu viel der unwahrscheinlichen Konstruktion. Die Kritik des „Schnellpost“-Autors warf Raupach vor, mit zu „außerwesentlichen Zufällen“ und einer „überschraubten Gewaltaufgabe“ die Handlung unglaubwürdig gemacht zu haben.11 Das empörte Hegel, zumal auch das Publikum nur lau reagiert hatte. Hegel aber war begeistert. Also schrieb er eine ausführliche Darlegung der notwendigen Rolle des Zufalls in Komödien. Das ist eine Ehrenrettung für das Drama, für Raupachs Text.

Für Hegel hat der Theaterautor die „Aufgabe in der Hauptsache“ zu erfüllen, damit die Schauspieler „ihr Vermögen entfalten und geltend machen“ können. 12. Hegel bringt als Kenner hierfür eine Reihe von Beispielen aus Aufführungen, die er gesehen hat, und von Schauspielern, deren „Vermögen“ er beurteilen kann. 13


Aber zumindest in einem Satz wird deutlich, dass Hegels Faszination für diese schlichte Komödie ihren Grund in der Aufführung hatte. Hegel schwärmt zunächst von der Hauptdarstellerin in „Alanghu“, einem anderen, völlig erfolglosen Drama Raupachs 14:

Das Stück habe „die Schauspielerin in den Stand gesetzt, alle Seiten ihres Talents, Gemüts und Geistes zu entfalten und uns das anziehende Gemälde feuriger, unruhiger, tätiger Leidenschaftlichkeit mit naiver, liebenswürdiger Jugendlichkeit, der lebhaftesten, entschlossensten Energie, mit empfindungsvoller, geistreicher Sanftmut und Anmut verschmolzen, vor die Seele zu bringen“15.

 

Hegel schildert dann, wie eine Schauspielerin (er meint Auguste Stich), die er schon als Julia in „Romeo und Julia“ bewundert hatte, die „reizende Verlegenheit“ der Figur namens Klothilde in “Die Bekehrten“ bei der Wiederbegegnung mit ihrem Geliebten Torquato spielt (II. Akt, 5. Szene).

„Stellung und Arme bleiben, das Auge, das man sonst in lebhafter Bewegung zu sehen gewohnt ist, wagt es zuerst nicht aufzusehen, seine Stummheit unterbricht hier und da ein nicht zum Seufzen werdendes Heben der Brust, es wagt einige verstohlene Blicke, die denen Torquatos zu begegnen fürchten, es drängt sich aber auf ihn, wenn die seinigen sich anderwärts hinwenden. Der Dichter ist für glücklich zu achten, dessen Konzeption von einer Künstlerin ausgeführt wird, die es für die Erzählung des Inhalts, der durch die Sprache ausgedrückt ist, überflüssig macht, mehr als die Züge der seelenvollen Beredsamkeit ihrer Gebärde anzugeben.“ 16

Hier macht also für Hegel das stumme Spiel der Schauspielerin, die „Beredsamkeit der Gebärde“, die Sprache überflüssig. Hegel weiß, was in einer Theateraufführung „reizt“ und „anzieht“. Es ist nicht das Wort.

In seiner ästhetischen Theorie ließ sich diese selbstständige Funktion des Theaters gegenüber dem Drama nicht unterbringen, in seiner Theatererfahrung musste er sie anerkennen.

  1. „Das Schöne bestimmt sich dadurch als das sinnliche Scheinen der Idee.“ G.W.F.Hegel, Werke in zwanzig Bänden. Theorie Werkausgabe Bd. 13 Ästhetik I. Frankfurt/ M: Suhrkamp, 1970, S.151
  2. „Das Drama muss, weil es seinem Inhalte wie seiner Form nach sich zur vollendeten Totalität ausbildet, als die höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt angesehen werden.“ Hegel, Bd. 15 Ästhetik III S. 474
  3. Bd. 15 Ästhetik III, S. 510
  4. „Denn die Rede allein (ist) das der Exposition des Geistes würdige Element … die dramatische Poesie (ist) diejenige, welche die Objektivität des Epos mit dem subjektiven Prinzip der Lyrik in sich vereinigt.“ Bd. 15 Ästhetik III, S. 474
  5. „fordert deshalb (…) die vollständige szenische Aufführung.“ S. 474
  6. Bd. 15 Ästhetik III, S. 505
  7. G.W.F. Hegel „Über die Bekehrten“. in: G.W.F.Hegel, Werke in zwanzig Bänden. Theorie Werkausgabe, Bd.11 Berliner Schriften 1818-1831, S.72-82
  8. in drei Teilen Berliner Schnellpost, 18. Jan. 1826 Nr. 8, 21. Jan. 1826, Nr.9, https://digitale-sammlungen.ulb.uni-bonn.de/periodical/pageview/1723191, https://digitale-sammlungen.ulb.uni-bonn.de/periodical/pageview/1723193 und Beiwagen zur Berliner Schnellpost, 23. Jan. 1826, Nr. 4 https://digitale-sammlungen.ulb.uni-bonn.de/periodical/pageview/1723203
  9. vgl: Artikel „Raupach, Ernst Benjamin Salomo“ von Max Bendiner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 430–445, Wikisource https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Raupach,_Ernst_Benjamin_Salomo&oldid=-
  10. Solche Handlungen waren typisch für Raupachs Lustspiele: „Diese Art und Weise, Personen, Charaktere und dadurch die Handlung gleichsam als Drahtpuppen von einem Menschen, der inmitten des Stückes steht und Alles überschaut, Alles voraussieht, leiten zu lassen, ist eine Lieblingsidee Raupach’s, die er in seinen Lustspielen besonders herausbildet; ja diese Idee wird zum Princip, auf dem er seine Lustspiele aufbaut.“ Max Bendiner, „Raupach, Ernst Benjamin Salomo“, in: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 27 (1988) S.442f https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Raupach,_Ernst_Benjamin_Salomo&oldid=-
  11. „Clotilde ist eine Pleureuse und Torquato ein Bleumourant….Das Talent des geschätzten Herrn Verfassers … gefällt sich zu sehr mit Außerweltlichem, mit Zufälligkeiten zu spielen. Sein Lustspiel fließt nicht aus der Quelle der heiteren Lebensverwirrungen … sondern aus der Disharmonie eines Gemütes in sich selbst, aus einer überschraubten Gewaltaufgabe eines blinden Zufalls“. Moritz Gottlieb Saphir, Berliner Schnellpost für Literatur, Theater und Geselligkeit 1826 No.3, S.11, https://digitale-sammlungen.ulb.uni-bonn.de/periodical/pageview/1723165
  12. Bd. 11 Berliner Schriften, S. 73
  13. Auch Eduard Devrient schätzt aus seiner eigenen Erfahrung als Schauspieler Raupachs Verdienst in der Förderung der Schauspielkunst: es sei „ganz bestimmt nachzuweisen, dass er die Talente {der Schauspielerinnen und Schauspieler} nicht nur benutzt und sich ihnen accomodirt, sondern durch seine Aufgaben ihre Entwicklung und Erweiterung entschieden gefördert hat.“ Eduard Devrient, Geschichte der deutsche Schauspielkunst. Neu-Ausgabe in zwei Bänden, Bd. II Berlin: Otto Elsner, 1905 {zuerst 1848-1874} S.281
  14. Devrient: „Seine dramatische Erzählung ‚Alanghu‘ wirkte nicht.“ S.190
  15. Bd.11, S. 77
  16. Bd. 11, S. 79