Die Wahrheit auf dem Theater ist keine Erkenntnis, die man erfahren oder formulieren könnte, sie ist eine Forderung an die Schauspielerinnen und Schauspieler. Dieser Gebrauch des Begriffs „Wahrheit“ hat in der Schauspieltheorie eine lange Tradition.
Wahrheit als Täuschung
„Dramatische Erdichtungen gefallen uns desto mehr, je ähnlicher sie wahrhaften Geschichten sind, und die Vollkommenheit, die wir in ihren Vorstellungen verlangen, ist eigentlich das was man in der Sprache des Theaters, Wahrheit nennet. Man versteht durch dieses Wort hier den Zusammenfluss aller Wahrscheinlichkeiten, welche dienen können, die Zuschauer zu täuschen.“ 4.
„Wenn Worte, Ton, Bewegung, auf das vollkommenste unter einander, und alle auf vollkommenste mit Leidenschaft, Situation und Charakter übereinstimmen; dann erst entsteht der höchste mögliche Grad der Wahrheit, und durch diese Wahrheit die höchste mögliche Täuschung.“ 5
„Denken Sie einen Augenblick darüber nach, was auf dem Theater Wahrsein bedeutet. Heisst das, die Dinge so zu zeigen, wie sie in der Natur sind? Keineswegs. Das Wahre in diesem Fall, wäre nichts anderes als das Gewöhnliche. Aber was ist denn das Wahre auf der Bühne? Es ist die Übereinstimmung der Handlungen, des Sprechens, der Erscheinung, der Stimme, der Bewegung und der Geste mit einer von dem Dichter ersonnenen Idealvorstellung, die vom Schauspieler oft noch übersteigert wird. Das ist das Wunder.“ 6
Wahrheit und Schönheit
„In der Schauspielkunst, welche auf die Versinnlichung des Dramas ausgeht, treten sie [die Gegensätze des Allgemeinen und des Individuellen] zunächst in der Forderung auf, die Schönheit wie die Wahrheit gleichmäßig zu ihrem Rechte kommen zu lassen.“8
Wahrheit als Glaube
„Im Theater ist nicht wichtig, dass der Dolch des Othello aus Karton oder Metall ist, sondern, dass das innere Gefühl des Schauspielers selbst, das den Mord des Othello rechtfertigt, wahr, aufrichtig und echt ist. … Über diese Wahrheit des Gefühls sprechen wir im Theater. Hier ist jene szenische Wahrheit, die für den Schauspieler im Augenblick seines Schaffens nötig ist. Es gibt keine echte Kunst ohne solche Wahrheit und Glaube!“ 10
„Die Wahrheit erzeugte den Glauben.“ 11.
„Logik und Folgerichtigkeit der physischen Handlungen und Empfindungen des Schauspielers führen zur Wahrheit. 12.
„Die Wahrheit auf der Bühne ist das, woran wir aufrichtig sowohl in unserem Innern glauben, als auch in den Seelen unserer Partner.“ 13.
„Die Wahrheit der Bühne als Rahmen für die Wahrheit der Empfindung und andererseits die Wahrheit der Empfindung als Voraussetzung für die Wahrheit der Bühne, das ist die Erkenntnis, auf der wir weiterbauen.“ 14.
„die drei Wahrheiten – die Wahrheit der Empfindung, die Wahrheit der Bühne und die gesellschaftliche Wahrheit“ 15.
Wahrheit als Wahrhaftigkeit
„Was also sollen wir unter ‚Wahrheit‘ verstehen? […] Vielleicht ist uns eine sprachliche Schlamperei unterlaufen, und es ist ‚Wahrhaftigkeit‘ gemeint?“16
„ … denn wir werden doch wieder auf den Begriff der Wahrheit zurückgeworfen, da ja Wahrhaftigkeit nichts anderes ist als die Tugend, stets die Wahrheit zu sagen.“18
„Bei Aristoteles ist nur von der Wahrheit einer Aussage, genauer eines ‚Urteils‘ die Rede. Wir aber meinen, daß auch eine Sache, ein Vorgang oder sonst irgendein Phänomen „in sich“ wahr sein kann. Und damit bekommt die ‚Wahrheit‘ die Bedeutung von ‚Wirklichkeit‘, ‚Echtheit‘. Echtheit des Handelns erwächst aus dem ‚Schwerpunkt‘ des Menschen. (…) Es geht uns nicht nur darum, innerlich, sondern von innen nach außen zu spielen. Kunst wäre hiernach vor allem: die Fähigkeit, die Wahrheit deutlich zu sagen.“19
„Stanislavski understood that actors bring characters to life by using the truth of their own experience. The actor’s truth is the truth of honest sensation.“20.
Wahrheit als individuelle Relation
„Was wir Wahrheit über einen Gegenstand nennen, ist je nach dem Wesen, für das die Wahrheit gelten soll, etwas sehr Mannigfaltiges (…) So besteht für jedes Wesen eine, durch seine Individualität verschiedene Wahrheit über jedes gegebene Objekt.“21
„Der Streit um die ‚Echtheit‘ von Gefühlen kann in der Theorie nicht beigelegt werden.“ 22
Zwischenergebnis 3
Wahrheit als Begriff zur Kennzeichnung des Ziels von schauspielerischer Verkörperung einer Rolle hat eine weit zurückreichende Tradition. Bei genauerer Analyse dieser Verwendung des Begriffs löst er sich aber auf und erweist sich als untauglich.
- Man möge die Verwendung des generischen Maskulinums verzeihen. Der Grund für diesen Sprachgebrauch liegt in den hier wiedergegebenen Texten der Schauspieltheorie. Bis ins 21. Jahrhundert wird in ihnen das Maskulinum „der Schauspieler“ verwendet, wenn von Schauspielerei allgemein die Rede ist. Ich habe dort, wo es stilistisch erträglich ist, versucht deutlich zu machen, dass die Aussagen sich jeweils auch auf Schauspielerinnen beziehen. ↵
- siehe meinen Beitrag https://theatermarginalien.com/2021/08/12/die-wahrheit-auf-dem-theater-teil-2-der-theatertext/ ↵
- „The propositions in the play are false because there was no such man.“ Bertrand Russell, An Enquiry into Meaning and Truth, London: Allen and Unwin, 1962, S. 277 ↵
- Rémond de Sainte-Albine, Der Schauspieler. übers. Friedrich Justin Bertuch. Altenburg 1772, S.49, Original: „Les fictions Dramatiques nous plaisant d’autant plus, qu’elles sont plus semblables à des aventures réelles, la perfection que nous desirons le plus dans la Représentation est ce qu’au Théatre on nomme Vérité. On y entend par ce mot le concours des apparences, qui peuvent servir à tromper des Spectateurs.“ Le comédien : ouvrage divisé en deux parties / par M. Remond de Sainte-Albine. Nouvelle édition augmentée & corrigée. Paris: Desaint & Saillant, 1749. S.107. https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=ucm.5323613769&view=1up&seq=137. Bertuch übersetzt „apparences“ mit „Wahrscheinlichkeiten“ während eigentlich „Erscheinungsweisen“ gemeint ist ↵
- zit. in: Jens Roselt (Hg.), Schauspieltheorien. Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock – bis zum postdramatischen Theater. Berlin: Alexander Verlag, 2005, S.154 ↵
- Denis Diderot, Paradox über den Schauspieler. übers. u. eingeführt von Felix Rellstab. Wädenswil: Verlag Stutz & Co, 1981, S.22. Original: „Réfléchissez un moment sur ce qu’on appelle au théâtre être vrai. Est-ce y montrer les choses comme elles sont en nature? Aucunement. Le vrai en ce sens ne serait que le commun. Qu’est-ce donc que le vrai de la scène? C’est la conformité des actions, des discours, de la figure, de la voix, du mouvement, du geste, avec un modèle idéal imaginé par le poète, et souvent exagéré par le comédien. Voilà le merveilleux.“ Denis Diderot, Paradoxe sur le comédien. Ouvrage posthume. Paris: Sautele, 1830. p. 21. https://books.google.be/books?id=gksHAAAAQAAJ&printsec=frontcover&hl=fr&source=gbs_v2_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false ↵
- G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1970 (= Theorie Werkausgabe Bd. 13), S.205. Sie auch meinen Beitrag https://theatermarginalien.com/2019/08/12/hegel-und-das-theater/ und Teil1 von „Die Wahrheit auf dem Theater“: https://theatermarginalien.com/2021/08/13/die-wahrheit-auf-dem-theater-teil-1/ ↵
- Heinrich Theodor Rötscher, Die Kunst der dramatischen Darstellung in ihrem organischen Zusammenhang wissenschaftlich entwickelt. (Erster Band) Leipzig: Otto Wiegand, 2. Auflage 1864, S.19 ↵
- ibid. S.21 ↵
- Konstantin Sergejewitsch Stanislawskij, Das Geheimnis des schauspielerischen Erfolges. übers. v. Alexandra Meyenburg. Zürich: Scientia AG, o.J (1940?). {zuerst Moskau 1938}. S.185 ↵
- ibid. S.225 ↵
- ibid. S. 225 ↵
- ibid. S. 185 ↵
- Ottofritz Gaillard, Das deutsche Stanislawski-Buch. Lehrbuch der Schauspielkunst nach dem Stanislawski-System. Berlin: Aufbau-Verlag, 1947, S.191 ↵
- ibid. Geleitwort S.11 ↵
- Hans Günther von Klöden, Grundlagen der Schauspielkunst II: Improvisation und Rollenstudium. Velber bei Hannover: Friedrich Verlag, 1967 (Reihe Theater heute 24) S.19 ↵
- Stanisławski. Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst. Tagebuch eines Schülers. Teil 1 Die Arbeit an sich selbst im schöpferischen Prozess des Erlebens. übers. v. Ingrid Tintzmann. Westberlin: das europäische Buch, 1981, z.B. S. 148ff, 181 ↵
- Eine ähnliche, aber nicht völlig gleichbedeutende Definition findet sich bei Otto Friedrich Bollnow: „Während die Wahrheit (nach der überkommenen, aber für den gegenwärtigen Zusammenhang völlig ausreichenden Bestimmung) die (objektive) Übereinstimmung einer Aussage mit ihrem Gegenstand bedeutet, meint die Wahrhaftigkeit ihr (subjektive) Übereinstimmung mit der Meinung des Sprechers. (…) Die Wahrhaftigkeit aber (oder Unwahrhaftigkeit) wendet sich nach innen, d.h. sie lebt in der Beziehung des Menschen zu sich selbst. (…) Die Wahrhaftigkeit geht also auf das Verhalten des Menschen zu sich selbst. Sie bedeutet die innere Durchsichtigkeit und das freie Einstehen für sich selbst.“ Otto Friedrich Bollnow, Wesen und Wandel der Tugenden. Frankfurt/M: Ullstein, 1958, S.138f ↵
- v. Klöden a.a.O., S. 20f. ↵
- Susan Batson, Truth: Personas, Needs, and Flaws in the Art of Building Actors and Creating Characters. Webster/Stone, 2006 (deutsch: Truth. Wahrhaftigkeit im Schauspiel. Ein Lehrbuch. Berlin: Alexander Verlag, 2014) ↵
- Georg Simmel, „Zur Philosophie des Schauspielers“, in: G.S., Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg. v. Michael Landmann. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1987, S. 85f. Der Aufsatz wurde postum aus dem Nachlass zuerst veröffentlicht in: Internationale Zeitung für die Philosophie der Kultur, Band 9 (1920-1921), S.339-362. Er ist nicht identisch mit dem gleichnamigen Aufsatz in: Der Morgen 2.Jg., No.51/52, 18. Dezember 1908, S.1685-1689 ↵
- Jens Roselt (Hg.), Schauspieltheorien. Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock – bis zum postdramatischen Theater. Berlin: Alexander Verlag, 2005, Einführung S.47 ↵