Mit Hegel im Theater – Hegels Antikritik zu Raupachs Komödie „Die Bekehrten“

Hegel war ein eifriger Theaterbesucher und ein Kenner der dramatischen Literatur. Aber in seiner Ästhetik erhält das Drama ein herausragende Stellung, nicht das Theater. Für Hegel ist die schöne Kunst das „sinnliche Scheinen der Idee“1, aber das sinnliche Scheinen des Dramas, die Theateraufführung, ist für ihn zweitrangig. Das Drama ist die „höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt“2, aber die Schauspielkunst ist zweitrangig und alle Elemente der Theateraufführung „Gebärde, Aktion, Deklamation, Musik, Tanz und Szenerie3 sind der Rede untergeordnet. Das Drama hat für Hegel die höchste Stellung in der Poesie, weil es als dialogische Wortkunst Subjektivität und Objektivität vereint, und so der Philosophie am nächsten steht4. Die Aufführung des Dramas dagegen ist nur notwendiges Beiwerk5. Aus dem inszenatorischen Drumherum, Bewegung, Musik, Bühnenbild, hebt sich das „poetische Wort“ als „hervorstechender Mittelpunkt … in freier Herrschaft“ heraus6.

So Hegels Theorie. Das heißt nicht, dass Hegel unfähig war, eine Theateraufführung zu würdigen und zu genießen. Es gibt von Hegel das kuriose Dokument eines seitenlangen Verrisses7 – nicht einer Theateraufführung, sondern einer Theaterkritik, erschienen 1826 in einer Zeitschrift genannt „Schnellpost“, herausgegeben von Hegels Freund Moritz Gottlieb Saphir8. Gegenstand der kritisierten Kritik war die Uraufführung der Komödie „Die Bekehrten“ von Ernst Raupach. Raupach ist heute völlig vergessen, war aber zwischen 1820 und 1850 ein vielgespielter, hochdekorierter, hochbezahlter Theaterautor 9.

In seiner Komödie „Die Bekehrten“ streitet sich ein Liebespaar, trennt sich. Der Onkel des Geliebten heiratet die junge Frau dann zum Schein, um sie für seinen Neffen in Verwahrung zu nehmen und vor anderen Bewerbern zu schützen, fingiert seinen Tod, erreicht die Annullierung seiner Ehe und führt die beiden ehemals zerstrittenen Liebenden wieder zusammen. Die Handlung des Stückes beginnt aber damit, dass der angeblich gestorbene, scheinverheiratete Onkel in der Verkleidung als Mönch seiner ehemaligen Gattin-zur-Verwahrung Ratschläge und somit die Gelegenheit zur Erzählung der Vorgeschichte gibt. Später erscheint er noch als Geist und stiftet Verwirrung. 10

Das war für den Kritiker der „Schnellpost“ zu viel der unwahrscheinlichen Konstruktion. Die Kritik des „Schnellpost“-Autors warf Raupach vor, mit zu „außerwesentlichen Zufällen“ und einer „überschraubten Gewaltaufgabe“ die Handlung unglaubwürdig gemacht zu haben.11 Das empörte Hegel, zumal auch das Publikum nur lau reagiert hatte. Hegel aber war begeistert. Also schrieb er eine ausführliche Darlegung der notwendigen Rolle des Zufalls in Komödien. Das ist eine Ehrenrettung für das Drama, für Raupachs Text.

Für Hegel hat der Theaterautor die „Aufgabe in der Hauptsache“ zu erfüllen, damit die Schauspieler „ihr Vermögen entfalten und geltend machen“ können. 12. Hegel bringt als Kenner hierfür eine Reihe von Beispielen aus Aufführungen, die er gesehen hat, und von Schauspielern, deren „Vermögen“ er beurteilen kann. 13


Aber zumindest in einem Satz wird deutlich, dass Hegels Faszination für diese schlichte Komödie ihren Grund in der Aufführung hatte. Hegel schwärmt zunächst von der Hauptdarstellerin in „Alanghu“, einem anderen, völlig erfolglosen Drama Raupachs 14:

Das Stück habe „die Schauspielerin in den Stand gesetzt, alle Seiten ihres Talents, Gemüts und Geistes zu entfalten und uns das anziehende Gemälde feuriger, unruhiger, tätiger Leidenschaftlichkeit mit naiver, liebenswürdiger Jugendlichkeit, der lebhaftesten, entschlossensten Energie, mit empfindungsvoller, geistreicher Sanftmut und Anmut verschmolzen, vor die Seele zu bringen“15.

 

Hegel schildert dann, wie eine Schauspielerin (er meint Auguste Stich), die er schon als Julia in „Romeo und Julia“ bewundert hatte, die „reizende Verlegenheit“ der Figur namens Klothilde in “Die Bekehrten“ bei der Wiederbegegnung mit ihrem Geliebten Torquato spielt (II. Akt, 5. Szene).

„Stellung und Arme bleiben, das Auge, das man sonst in lebhafter Bewegung zu sehen gewohnt ist, wagt es zuerst nicht aufzusehen, seine Stummheit unterbricht hier und da ein nicht zum Seufzen werdendes Heben der Brust, es wagt einige verstohlene Blicke, die denen Torquatos zu begegnen fürchten, es drängt sich aber auf ihn, wenn die seinigen sich anderwärts hinwenden. Der Dichter ist für glücklich zu achten, dessen Konzeption von einer Künstlerin ausgeführt wird, die es für die Erzählung des Inhalts, der durch die Sprache ausgedrückt ist, überflüssig macht, mehr als die Züge der seelenvollen Beredsamkeit ihrer Gebärde anzugeben.“ 16

Hier macht also für Hegel das stumme Spiel der Schauspielerin, die „Beredsamkeit der Gebärde“, die Sprache überflüssig. Hegel weiß, was in einer Theateraufführung „reizt“ und „anzieht“. Es ist nicht das Wort.

In seiner ästhetischen Theorie ließ sich diese selbstständige Funktion des Theaters gegenüber dem Drama nicht unterbringen, in seiner Theatererfahrung musste er sie anerkennen.

  1. „Das Schöne bestimmt sich dadurch als das sinnliche Scheinen der Idee.“ G.W.F.Hegel, Werke in zwanzig Bänden. Theorie Werkausgabe Bd. 13 Ästhetik I. Frankfurt/ M: Suhrkamp, 1970, S.151
  2. „Das Drama muss, weil es seinem Inhalte wie seiner Form nach sich zur vollendeten Totalität ausbildet, als die höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt angesehen werden.“ Hegel, Bd. 15 Ästhetik III S. 474
  3. Bd. 15 Ästhetik III, S. 510
  4. „Denn die Rede allein (ist) das der Exposition des Geistes würdige Element … die dramatische Poesie (ist) diejenige, welche die Objektivität des Epos mit dem subjektiven Prinzip der Lyrik in sich vereinigt.“ Bd. 15 Ästhetik III, S. 474
  5. „fordert deshalb (…) die vollständige szenische Aufführung.“ S. 474
  6. Bd. 15 Ästhetik III, S. 505
  7. G.W.F. Hegel „Über die Bekehrten“. in: G.W.F.Hegel, Werke in zwanzig Bänden. Theorie Werkausgabe, Bd.11 Berliner Schriften 1818-1831, S.72-82
  8. in drei Teilen Berliner Schnellpost, 18. Jan. 1826 Nr. 8, 21. Jan. 1826, Nr.9, https://digitale-sammlungen.ulb.uni-bonn.de/periodical/pageview/1723191, https://digitale-sammlungen.ulb.uni-bonn.de/periodical/pageview/1723193 und Beiwagen zur Berliner Schnellpost, 23. Jan. 1826, Nr. 4 https://digitale-sammlungen.ulb.uni-bonn.de/periodical/pageview/1723203
  9. vgl: Artikel „Raupach, Ernst Benjamin Salomo“ von Max Bendiner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 430–445, Wikisource https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Raupach,_Ernst_Benjamin_Salomo&oldid=-
  10. Solche Handlungen waren typisch für Raupachs Lustspiele: „Diese Art und Weise, Personen, Charaktere und dadurch die Handlung gleichsam als Drahtpuppen von einem Menschen, der inmitten des Stückes steht und Alles überschaut, Alles voraussieht, leiten zu lassen, ist eine Lieblingsidee Raupach’s, die er in seinen Lustspielen besonders herausbildet; ja diese Idee wird zum Princip, auf dem er seine Lustspiele aufbaut.“ Max Bendiner, „Raupach, Ernst Benjamin Salomo“, in: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 27 (1988) S.442f https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Raupach,_Ernst_Benjamin_Salomo&oldid=-
  11. „Clotilde ist eine Pleureuse und Torquato ein Bleumourant….Das Talent des geschätzten Herrn Verfassers … gefällt sich zu sehr mit Außerweltlichem, mit Zufälligkeiten zu spielen. Sein Lustspiel fließt nicht aus der Quelle der heiteren Lebensverwirrungen … sondern aus der Disharmonie eines Gemütes in sich selbst, aus einer überschraubten Gewaltaufgabe eines blinden Zufalls“. Moritz Gottlieb Saphir, Berliner Schnellpost für Literatur, Theater und Geselligkeit 1826 No.3, S.11, https://digitale-sammlungen.ulb.uni-bonn.de/periodical/pageview/1723165
  12. Bd. 11 Berliner Schriften, S. 73
  13. Auch Eduard Devrient schätzt aus seiner eigenen Erfahrung als Schauspieler Raupachs Verdienst in der Förderung der Schauspielkunst: es sei „ganz bestimmt nachzuweisen, dass er die Talente {der Schauspielerinnen und Schauspieler} nicht nur benutzt und sich ihnen accomodirt, sondern durch seine Aufgaben ihre Entwicklung und Erweiterung entschieden gefördert hat.“ Eduard Devrient, Geschichte der deutsche Schauspielkunst. Neu-Ausgabe in zwei Bänden, Bd. II Berlin: Otto Elsner, 1905 {zuerst 1848-1874} S.281
  14. Devrient: „Seine dramatische Erzählung ‚Alanghu‘ wirkte nicht.“ S.190
  15. Bd.11, S. 77
  16. Bd. 11, S. 79

„Herrnburger Bericht“ wiedergelesen

Anekdoten aus der Brecht-Rezeption mit aktuellen Weiterungen oder Wie Kunst und Politik die Plätze tauschen

Dies ist auch eine Selbstbezichtigung. Aber Jugendsünden sind in der Regel lässlich. Und in der Politik sind öffentliche Schuldbekenntnisse ein Weg zur Absolution.

Der Brecht, den niemand haben wollte (außer mir)

1976 habe ich einen Text über Bertolt Brechts „Herrnburger Bericht“ verbrochen, der unter dem Titel „Der Brecht, den niemand haben will“ in der Zeitschrift Kämpfende Kunst der Vereinigung sozialistischer Kulturschaffender veröffentlicht wurde1. Der Artikel versuchte Brechts Singspiel vom Standpunkt der politischen Auffassungen der neo-kommunistischen Partei, deren Studentenverband ich damals angehörte, neu zu bewerten. Seit der Veröffentlichung des Artikels durfte ich nicht mehr in die DDR einreisen (Gründe wurden dafür nie angegeben, aber es ist wahrscheinlich, dass der Artikel dabei auch eine Rolle gespielt hat.) Ich zitiere einige – erst nach Bereinigung einiger der schlimmsten Phrasen erträgliche –  Sätze aus dem damaligen Text:

„Einer der deutlichsten Beweise, daß sich Brecht auch nicht mit den Verfälschungen, die man ihm angedeihen läßt, eingemeinden läßt, ist der „Herrnburger Bericht“. Man kann mittlerweile Brechts Schülergedichte vollständig nachlesen, in denen er noch im Bann der wilhelminischen Ideologie den Krieg des deutschen Imperialismus und den „König des Lands/ Immanuel Kants“ bejubelt. Der „Herrnburger Bericht“ aber, mit dem Brecht die FDJ unterstützte, ist bis heute – seit seiner Erstveröffentlichung im „Neuen Deutschland“ und als Broschüre der FDJ – nicht nachgedruckt worden. Er läßt sich weder von der BRD noch der DDR eingemeinden. Man muß ihn entweder als „reine kommunistische Propaganda“ oder zumindest als „künstlerisch wertlos“ abtun – oder man muß ihn einfach totschweigen.“

Um zu erklären, was mein vergessener Text über ein vergessenes Propaganda-Machwerk mit der gegenwärtigen Situation des deutschen Theaters zu tun hat, muss man etwas ausholen.

Kurzer Abriss eines Spezialfalls der Brecht-Rezeption

Nach dem zweiten Weltkrieg begann der Kalte Krieg. Brecht musste sich in den USA in der McCarthy-Ära vor dem „Ausschuss für unamerikanische Umtriebe“ rechtfertigen und verließ fluchtartig das Land seines Exils, ging in die Schweiz. Von da kehrte er dann nach Berlin zurück, nach Ost-Berlin, in die gerade gegründete DDR. Als „fellow-traveller“ der KPD am Ende der Weimarer Republik war er dort hochwillkommen, aber nicht Teil der nun dort herrschenden Funktionärskaste. Die DDR-Regierung verfolgte damals auf Anweisung der Sowjetunion Stalins den Kurs, den West-Alliierten die Schuld an der Spaltung Deutschlands zu geben, sich als Friedensengel zu positionieren und für ein neutrales, einheitliches, von den West-Alliierten abgekoppeltes Deutschland zu werben. Für diese Ziele wurde auch die Jugendorganisation der DDR, die Freie Deutsche Jugend (FDJ), eingesetzt.

1950 veranstaltete die FDJ in Ost-Berlin ein „Deutschlandtreffen der Jugend für Frieden und Völkerfreundschaft“. Die FDJ hatte auch in der BRD viele Mitglieder. Sie war faktisch die Jugendorganisation der kommunistischen Partei. Die bundesdeutschen Behörden versuchten die Teilnahme von Jugendlichen an dem Treffen in Berlin zu verhindern. Etwa 10.000 reisten dennoch nach Ostberlin. Auf der Rückreise wurden sie in dem Grenzort Herrnburg bei Lübeck von der bundesdeutschen Polizei festgehalten, um ihre Personalien festzustellen. Offiziell wurde als Grund eine Gesundheitsüberprüfung angegeben. Die FDJler verweigerten dies und kampierten zwei Tage lang vor der deutsch-deutschen Grenze auf DDR-Gebiet, bevor sie dann ohne Personalienfeststellung nach Westdeutschland durchgelassen wurden.

1951 fanden in Ost-Berlin die »3. Weltfestspiele der Jugend und Studenten für den Frieden« statt. Paul Dessau, dessen Oper „Das Verhör des Lukullus“ nach einem Text Brechts, gerade von den SED-Kulturfunktionären als „misslungenes Experiment“ verurteilt worden war, bat aus diesem Anlass Brecht, das Libretto für eine szenische Kantate zu entwickeln, die während der Festspiele mehrfach aufgeführt werden sollte. Brecht und Dessau wählten den Herrnburger Vorfall vom vergangen Jahr. Brecht schrieb darüber einige schlicht gereimte Gedichte, die die Ereignisse erzählten. Dessau komponierte dazu eine einfache, für Laien singbare Chormusik. Das Werk wurde dann aber nur zweimal in Ost-Berlin während der Festspiele aufgeführt.2

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Zunächst musste man denken, die SED-Führung, die den Text vorab genehmigen musste, habe ästhetische oder politische Einwände gehabt und deshalb das Stück schnell wieder verschwinden lassen. 3 Erst 2013 stellte sich heraus, dass es ganz persönliche Rangeleien waren. Werner Hecht, der langjährige Leiter des Brecht-Archivs, konnte nachweisen, dass Erich Honecker, damals Vorsitzender des Zentralrats der FDJ, Einwände dagegen hatte, dass in einem von Brechts Kinderliedern der Sänger Ernst Busch erwähnt wurde 4. Honecker, der Funktionär, und Busch, der Arbeitersänger, Schauspieler und eine Ikone des revolutionären Kampfliedes, waren Intimfeinde.5 Brecht leistete hinhaltenden Widerstand, konnte aber nicht verhindern, dass in dem Vorabdruck im „Neuen Deutschland“ das Gedicht „Einladung“ völlig fehlte und in der FDJ-Broschüre dann das Gedicht zwar enthalten war, aber ohne die ominösen zwei Zeilen. Sein Freund Busch hatte ein Parteikontrollverfahren am Hals, schied aus der SED aus und der „Herrnburger Bericht“ verschwand. 6.

In Westdeutschland und Westberlin wurde die FDJ dann 1951 (noch vor der KPD) verboten, die Leiter der Organisation zu Haftstrafen verurteilt. 1952 wurde dann das FDJ-Mitglied Philipp Müller bei einer verbotenen Demonstration vor der Essener Grugahalle von einem Polizisten erschossen. Der erste Tote bei einer politischen Demonstration in der Bundesrepublik.

Die ganze Angelegenheit wäre nicht wert, aus der Vergessenheit hervorgeholt zu werden, wenn sie nicht weitergeführt hätte. 1982 beschloss eine andere, bayrische, neo-kommunistische Sektierergruppe (offiziell der „Bund deutscher Pfadfinder BDP“, damals gesteuert von dem „Arbeiterbund zum Wiederaufbau der KPD“), unterstützt von Brechts Tochter Hanne Hiob, zum 30. Jahrestag des Todes von Philipp Müller den „Herrnburger Bericht“ in Essen im städtischen Saalbau aufzuführen. Die Stadt verweigerte der Veranstaltung aus politischen Gründen den Saal.7. Die westdeutsche Erstaufführung konnte dann erst ein Jahr später als Freilichtaufführung in Essen stattfinden8.

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Im Zusammenhang mit diesem Verbot und der verschobenen Aufführung standen Aktionen der an der Aufführung Beteiligten und für sie Werbenden: eine Plakataktion mit Werbeplakaten für die geplante Essener Aufführung in München 1982, eine Mahnwache am Todestag Philipp Müllers in Essen 1983. In beiden Fällen erfolgten Verurteilungen wegen des Zeigens von Kennzeichen verbotener Organisationen (§ 86a StGB): auf dem Plakat in München war das FDJ-Emblem zu sehen, die Frau in Essen trug die FDJ-Uniform. Das alles wären dumme alte Streitereien, wenn diese Verfahren nicht ihren Weg bis zum Bundesverfassungsgericht gefunden hätten. Denn dieses fällte dann 1987 ein Grundsatzurteil zur Freiheit der Kunst, das bis heute Bestand hat 9.

Die Freiheit der Kunst in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes

Die Freiheit der Kunst ist im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland als Grundrecht ohne Gesetzesvorbehalt garantiert (GG §5 Abs. 3). Als Begründung dafür findet sich häufig die Erfahrung der Verfolgung von Künstlern und der Instrumentalisierung von Kunst durch das „nationalsozialistische Regime“ 10.

Seit dem Mephisto-Urteil von 1971, in dem das Verbot der Verbreitung von Klaus Manns Schlüsselroman über Gustav Gründgens aufgehoben wurde, unterscheidet das Verfassungsgericht zwischen Werkbereich (der Herstellung des Kunstwerks) und dem Wirkbereich (der Verbreitung des Kunstwerks). In einem weiteren Urteil, ebenfalls aus Anlass einer auf einen Brecht-Text zurückgehenden Aktion des „Arbeiterbundes“ unter Beteiligung von Hanne Hiob, dem Urteil über den „Anachronistischen Zug“, gab es schon 1984 weitere Klarstellungen: „Der Bereich der ‚engagierten Kunst‘ ist von der Freiheitsgarantie nicht ausgenommen.“ Auch die Tendenz der Kunst, sich jedem Definitionsversuch zu entziehen, wird anerkannt: „Die ‚Avantgarde‘ zielt gerade darauf ab, die Grenzen der Kunst zu erweitern (…) zudem [ist] zu berücksichtigen, daß beim modernen Theater die sichtbare Vorbereitung durchaus zum künstlerischen Gesamtkonzept gehören kann.“ 11

Das Urteil über den „Herrnburger Bericht“ ist von Bedeutung, weil es klarstellt, dass auch die Werbung für ein Kunstwerk zum Wirkbereich gehört und somit durch die Kunstfreiheit geschützt ist, und zwar im gleichen Maße. Ausdrücklich werden die Medien mit einbezogen.12

Das Beispiel des „Herrnburger Berichts“ zeigt, dass die Freiheit der Kunst nicht nur dort beschränkt wird, wo die Aufgabe der Kunst politisch und rechtlich vordefiniert ist 13, sondern auch in einem Staat, in dem ihre Freiheit als Grundrecht definiert ist. Sie kann in Konflikt geraten mit anderen Grundrechten. Konflikte zwischen der Kunstfreiheit und dem Verbot der Verwendung der Symbole verfassungsfeindlicher Organisationen werden heute in der Regel zugunsten der Kunst gelöst (z.B. Jonathan Meeses Hitlergruß14. (Aber was wäre wenn nun die Hells Angels auch bald Straßentheater machen?) In der Regel geht es um Konflikte zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrechten. So in den prominenten Fällen von Klaus Manns Roman „Mephisto“ und Maxim Billers Roman „Esra“15.

Die Freiheit des Artivismus

Mit maximaler juristischer Feinfühligkeit hat auch das Bundesverfassungsgericht erkannt, dass die Kunst die Tendenz hat, „die Grenzen der Kunst zu erweitern“16. Zugleich wird die Freiheit der Kunst als „Kommunikationsgrundrecht“ angesehen. Diese beiden Bestimmungen der Kunst nutzt das aktivistische Theater oder der „Artivismus“. Die säuberliche juristische Trennung von „Werkbereich“ und „Wirkbereich“ wird aufgehoben. Die Wirkung ist das Werk des Künstlers. Das heißt, das Medienecho ist das eigentliche Kunstwerk17. War früher die Werbung für ein Kunstwerk, eine Ausstellung, eine Theateraufführung, war die Nutzung von Medien, um Aufmerksamkeit für das Werk zu erlangen, das Hilfsmittel für das Werk, wird im aktivistischen Theater die Reaktion der Medien, die entstehende Aufmerksamkeit der medialen Öffentlichkeit, das eigentliche Werk18.

Das zur Zeit prominenteste Beispiel für diese Art von Vorgehen sind die Aktionen des „Zentrums für politische Schönheit“19. Seine Strategie scheint zu sein: maximale Medienwirkung und juristischer Rückzug. Das eigentliche Kunstwerk, das Objekt oder die Performance, bleibt sekundär. Sobald der Konflikt mit den Persönlichkeitsrechten der Angegriffenen ernsthaft wird, zieht man sich zurück, so geschehen im Fall der Aktion gegen die Eigentümer der Panzerfabrik Krauss-Maffei20 und auch in der jüngsten Aktion gegen den AfD-Politiker Bernd Höcke21. Auf eine juristische Verteidigung der Freiheit der Kunst lässt man sich nicht ein. Die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit soll verwischt bleiben22. Die Kunst expandiert in alle Bereiche der Gesellschaft. Ein Indiz dieser Expansion ist die ubiquitäre Verwendung des Begriffs „Schönheit“ für den Bereich der Politik.

Die Schönheit der Politik

In Philipp Ruchs „politischem Manifest“ „Wenn nicht wir, wer dann?“23 findet sich zwar auf jeder Seite die Worte „schön“ oder „Schönheit“, aber an keiner Stelle wird eine Theorie des Verhältnisses von Kunst und Politik entwickelt. Es wird einfach ihre Identität behauptet: „Es gibt zwischen Politik und Kunst keine Trennung, die aufrechtzuerhalten wäre“ 24. Ruchs Begriff der Schönheit ist rein moralisch25. Seine aufdringlich häufige Verwendung des Wortes „schön“ entspricht der antiken Verwendung des Begriffes „καλός“ 26. Künstler kommen nur als Personen, als Beispiele für Genies, für Menschen, die Großes tun, vor. Das ist verwunderlich angesichts des Anspruchs der Aktionen des „Zentrums für politische Schönheit“, dessen Gründer Ruch ist, politische Kunst (oder gar politisches Theater 27) zu sein. Für Ruch geht es um die Schönheit von Handlungen. Die Forderung, Kunst müsse schön sein, wäre für ihn wahrscheinlich tautologisch. Politik muss schön sein, weil Politik Handlung ist28. Kunst kann für ihn nur als schöne Tat schön sein. Entsprechend ist für ihn der Begriff der Freiheit der Kunst auch irrelevant. Der Begriff des „Aktivismus“ ist daher treffend. In der Regel benennt sich eine politische Bewegung nach ihren Zielen (wie Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus). Für die Ruch’sche Bewegung aber geht es nur um Aktivierung. Die Passivität der Bürger unserer Demokratie zu beseitigen, ist das Ziel. Wofür sie dann aktiv sein sollen, ist das Selbstverständliche: Humanität, wie sie in der Verfassung steht. Diese Bewegung hat eigentlich kein politisches Ziel, keinen neuen Entwurf für die Organisation unseres Zusammenlebens. Die Kölner „Initiative gegen Rechts“ nannte sich mal „Arsch huh!“ – das ist Aktivismus pur. Aber kein Weg für die Kunst.

Ruch, Wenn nicht wir Titelbild.jpg

Weil Ruch eigentlich keine politische Vision hat, sondern umstandslos sein Einverständnis mit der bestehenden Gesellschaftsordnung der westlichen Demokratien erklärt, kann er sich auch auf konservative Theoretiker wie Leo Strauss29, einen der geistigen Großväter der US-amerikanischen Republikaner, berufen (und, etwas verschämt, sogar auf Oswald Spengler30 und Carl Schmitt31). Entsprechend finden sich auch Sätze, in denen Demokratie und Humanismus (der von Leo Strauss geforderten naturrechtlichen Art), als Gegensätze dargestellt werden32. Völlig zwiespältig ist sein Verhältnis zu Kierkegaard, den er einerseits bemüht, um die ethische Lebensweise von der ästhetischen abzugrenzen33, andererseits benutzt er ihn als Zeugen dafür, dass ethisches Handeln schön sei, was ja die Gleichsetzung von ethischer und ästhetischer Lebensweise bedeuten würde34. Aber wahrscheinlich ist es unangemessen von einem Traktat wie dem Philipp Ruchs gedankliche Konsistenz zu erwarten. Die Reproduktion der gängigen Verzerrung der Theorie Thomas Hobbes’, die tendenziöse Denunziation der Theorie und Praxis Sigmund Freuds, die völlige Ignoranz gegenüber John Locke, – das alles zeigt den soteriologischen oder seelsorgerischen Charakter der Schrift. Es ist keine wissenschaftliche Arbeit des Ideengeschichtlers Philipp Ruch.

Zunächst scheint Ruch zu jenen moralischen Extremisten zu gehören, die Larissa MacFarquhar so einfühlsam und zugleich mit kritischer Distanz portraitiert hat35. Aber für diese geht es zunächst um eine individuelle Verpflichtung, Fremden zu helfen. Für Ruch geht es um anderes, um eine zu stiftende Religion, in der Glaube an die Menschheit und an die Wirksamkeit der Handlungen jedes Einzelnen die obersten Glaubensartikel sind36. Das Ergebnis der von ihm geleiteten Aktion des Zentrums für politische Schönheit „Die Toten kommen“, in der angeblich im Mittelmeer ertrunkene Flüchtlinge exhumiert und an der Berliner Mauer bestattet wurden, bezeichnet er als „Wunder“37. Er sieht sich als „Chefunterhändler der politischen Schönheit“, als ein von ihr Gesandter 38. Hier wird die politische Schönheit quasi als Gottheit personifiziert, und Ruch als ihr Prophet. Das argumentum ad hominem kann nicht die Aussagen des Geschmähten widerlegen, aber wer in einem politischen Werk seine Person so herausstellt, muss auch als Person beurteilt werden.

Byung-Chul Hand, Errettung des Schönen Titelbild.jpg

Was Ruch nicht leistet – eine Explikation des Begriffs des Schönen, die es rechtfertigen würde, ihn auf die Politik zu beziehen – versucht Byung-Chul Han39. Ebenso wie Ruch geht er dabei auf die Verknüpfung der Begriffe „gut“ und „schön“ in der griechischen Antike ein 40. Byung-Chul Hans Fokus ist aber nicht die Rechtfertigung des Aktivismus wie bei Ruch, sondern der Widerstand gegen die Ästhetisierung des Alltags, gegen die „neoliberale Kalokratie“41 und die Errettung des Schönen als des Verbindlichen42. So ähnlich die Schlussfolgerungen für die Politik sind43, so unterschiedlich sind die Folgerungen für die Kunst, besonders für das Theater. Han polemisiert mit Botho Strauß gegen das „Affekt-Theater“, verteidigt Dialog und Mitgefühl, die Grundbestandteile des Theaters von der Antike bis zur Moderne, wettert gegen den „pornographischen Seelennudismus“ des „Offenbarungstheaters“. Und fordert mit Botho Strauß eine „nemologische Selbsttranszendenz“ des Schauspielers44.

Von der Politisierung der Kunst zur Ästhetisierung der Politik

Die 68er Bewegung kritisierte zunächst die Kunst als Herrschaftsmittel und Ware der Kulturindustrie. Schönheit war ein Mittel der zu bekämpfenden Macht. Dann sollte eine emanzipatorische, antikapitalistische Kunst entwickelt werden 45, schließlich wurde der Primat der politischen Praxis vor jeder künstlerischen Praxis gefordert. In den 70er Jahren ging es also um die Rettung der Kunst vor der Politik, es ging darum, zu rechtfertigen, dass die Kunst eine gesellschaftliche Bedeutung behält. Diese Rechtfertigung der Kunst war ihre Politisierung. Heute weht der Wind aus der entgegengesetzten Richtung. Nach der Politisierung der Kunst wird nun die Ästhetisierung der Politik gefordert.

Dies ist Teil einer umfassenden gesellschaftlichen Entwicklung. Die gesamte Lebenswelt wird ästhetisiert, alles ist Kunst oder zumindest werden ästhetische Reize überall eingesetzt. In der Ethik und der Ratgeberliteratur wird das gelingende Leben als schönes Leben propagiert. Man soll sein Leben gestalten wie ein Kunstwerk46. Gegen diese Ästhetisierung der Lebenswelt, die seit den 90er Jahren Gegenstand der Kritik der kritischen Soziologen ist47, setzt Byung-Chul Han den Ernst und die Wahrheit der Kunst. Und expandiert diesen Wahrheitsanspruch der Kunst gleich in den Bereich der Politik.

Seit Walter Benjamin ist die „Ästhetisierung der Politik“ ein Merkmal des Faschismus48. Die Kritik der Ästhetisierung der Lebenswelt steht in der Tradition dieser Skepsis gegen die Expansion des Ästhetischen.

Was Han und Ruch versuchen, ist jedoch etwas anderes. Es ist die abstrakte Moralisierung der Politik, ohne sich den tatsächlichen moralischen Fragen an die Politik zu stellen. Es gibt genügend Versuche, die Probleme der weltweiten Migration und globalen Ungerechtigkeit im Zusammenhang von politischer und praktischer Philosophie zu durchdenken und Vorschläge zu machen. Nichts davon wird bei Ruch oder Han erwähnt, nichts von Thomas Pogges Vorschlägen zum internationalen Lizenzrecht von Arzneien oder zu internationalen rechtlichen Regelung von Schürfrechten wertvoller Erze49, nichts von David Millers Vorschlägen zur Weiterentwicklung partizipativer Strukturen in den Demokratien50, nichts von Martha Nussbaums aristotelisch inspiriertem Versuch, das gute Leben kulturübergreifend zu definieren51 – keiner der Versuche der gegenwärtigen Philosophie sich in die unschöne Politik einzumischen wird zur Kenntnis genommen. Nur die dürre Parole: „Die ideale Politik ist die Politik des Schönen“ 52.

Von der Politisierung der Kunst über die Ästhetisierung der Lebenswelt zur Politik der Schönheit, so scheinen die Bereiche von Kunst und Politik die Plätze getauscht zu haben. Aber die Politisierung der Kunst seit 1968 war eine tatsächlich stattfindende Entwicklung im Zusammenhang mit einer Veränderung der Gesellschaft als Ganzer. Gegenwärtig wird der Ruf nach einer der Politik der Schönheit von Künstlern und Kunsttheoretikern erhoben, entspricht aber keiner tatsächlichen sozialen Entwicklung. Tatsächlich findet nur eine Austreibung der traditionellen Mittel von Fiktionalität und Mimesis aus der Kunst  statt.

Antikritik der Ästhetisierungskritik

Ästhetisierung der Politik ist aber ebenso wie die Ästhetisierung der Lebenswelt ein reales Phänomen – allerdings mit völlig anderen Gründen und Wirkungen als eine Politik des „Guten, Wahren, Schönen“53, wie sie Byung-Chul Han imaginiert. Juliane Rebentisch54 hat in einer groß angelegten Studie versucht nachzuweisen, wie die Ästhetisierung der Politik eine der notwendigen Erscheinungsformen einer modernen Demokratie ist. Die Demokratie als eine Staatsform, die offen ist für Veränderung und ihre eigene Perfektionierung, verschleiert nicht, dass es das Volk, den δῆμος, nie ohne Repräsentation, d.h. ohne Herrschaft, gibt, sie liefert diese Herrschaft aber dem Urteil des unwissenden Volkes aus. Dies hat für Rebentisch seine Entsprechung auch auf der Ebene des individuellen Selbstverständnisses. Auch was wir als Person sind, können wir ohne Rollen und ohne Nachahmung nicht verstehen. Sie greift Platons spöttischen Begriff der Demokratie als „Theatrokratie“55 auf und wendet ihn gegen die Ästhetisierungskritik. Demokratie ist Theater, weil beide auf Repräsentation beruhen56. So verstanden, als Anerkennung des Fremden im Eigenen, ist die Theatralisierung der Demokratie ein notwendiges Antidotum gegen alle Tendenzen zu einer totalitären und identitären Politik57 58.

Rebentisch, Kunst der Freiheit Titelbild.jpg

Rebentisch führt ihre Antikritik der Ästhetisierungskritik quer durch die Philosophiegeschichte an den prominenten Ästhetisierungskritikern Platon, Rousseau, Hegel, Kierkegaard und Carl Schmitt durch, bevor sie zu dem Autor kommt, der die Ästhetisierungskritik auf die knappeste Formel gebracht hat: Walter Benjamin. Und dieser Umweg wird uns (endlich) zurück zu Bertolt Brecht führen. Zunächst erledigt Rebentisch Benjamins These von der Ästhetisierung der Politik als Kennzeichen des Faschismus durch schlichten Begriffstausch. Was Benjamin mit „Ästhetisierung“ bezeichnet, benennt sie nach dem Gegenteil: Anästhetisierung. Der sich künstlerischer Mittel bedienende Demagoge ist Anästhesist, nicht jemand, der die Wahrnehmung schärft, sondern jemand, der empfindungslos macht, Bewusstsein ausschaltet. Um nachzuweisen, dass dies genau das ist, was Benjamin eigentlich mit seinem Begriff der „Ästhetisierung“ meint, führt sie Benjamins Verständnis des Theaters Brechts an.59 Brechts Theater versuche (nach Benjamin) das Publikum in eine „Versammlung Interessierter“ zu transformieren, in der dem Urteil des Einzelnen Raum gegeben werde60, die „falsche verschleiernde Totalität Publikum“61 möge sich zersetzen. „Die Voraussetzung für ein wahrhaft politisches Theater liegt demnach in einer Theaterpraxis, die es versteht, die Zuschauer aus der passiven Position des Publikums zu befreien und in ein intellektuell interessiertes, ein, wenn man so will, philosophisches Verhältnis zum Dargestellt zu setzen.“62. An drei aktuellen Beispielen, Theaterproduktionen von Christoph Marthaler, Christoph Schlingensief und René Pollesch, zeigt sie, dass das Theater heute das „politische Potential seiner eignen Ästhetizität“ erkennt und seine eigene Theatralität ausdrücklich hervorkehrt. 63

Zurück zum Brecht, den niemand haben will (immer noch)

Wie lässt sich nun, nach diesem Durchgang durch einige Bestimmungen des Verhältnisses von Politik und Kunst der „Herrnburger Bericht“ heute verstehen?

Brecht folgt der vorgegebenen politischen Linie. Der „Bericht“ ist ein Gelegenheitswerk für ein klar umrissenes Zielpublikum, zu einem bestimmten Ereignis. Er ist „Theater des Realen“, dokumentarisches Theater. (Egon Monks Inszenierung der Uraufführung 1951 bezog auch Filmaufnahmen der Ereignisse des vorangegangenen Jahres ein.) In einem Aufsatz über das Verhältnis von Simulation und Wirklichkeit im Theater der Gegenwart, nennt Carol Martin Brecht und Piscator64 als die Ahnherren eines Theaters, das die Überprüfung des Verhältnisses von Fiktion und Wirklichkeit zu seinem Thema macht: „Theater über wirkliche Ereignisse; Erzählungen, die sich in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit befinden, aber auch die Treue zu einem Ideal artikulieren, sodass sie zu Nachdenken über das auffordern, was bis dahin als normal galt, aber tatsächlich fremd und seltsam ist.“65 In diese Tradition gehört auch der „Herrnburger Bericht“.

Er arbeitet mit Ironie, Parodie und Spott. Selbst die berüchtigten Verse „Und ein Gruß von Josef Stalin / Und ein Gruß von Mao-Tse-tung!“ klingen eher scherzhaft als pathetisch.66 Das ist ungewöhnlich für Theater, das nur zur Propagierung eines bestimmten politischen Standpunktes dient. Es ist auch ungewöhnlich für Kinder- und Jugendtheater.

Martin Brady hat die Einfachheit von Text und Musik nicht nur als Anpassung an die Laiensänger und das jugendliche Publikum, für die sie gedacht waren, verstanden, sondern als ein absichtsvoll “plumpes Denken“. Brady bezieht sich dabei, wie Rebentisch, auf Walter Benjamins Brecht-Exegese. Benjamin entdeckt in Brechts „Dreigroschenroman“ die Rechtfertigung des „plumpen Denkens“. Die Dialektik produziere es als ihren Gegensatz, schließe es in sich ein und habe es nötig67. Brady benutzt die Begriffe „experimental blatancy“ und „stählerne Einfalt“, um den Stil des Werkes zu kennzeichnen. Für ihn ist dieser Stil kein Rückschritt, sondern eine Weiterentwicklung des Stils von Brechts Lehrstücken aus den 20er Jahren. Auch die Musik Paul Dessaus arbeitet im „Lübecklied“ („Wenn ihr euch der Stadt Lübeck naht/Weg die blauen Fahnen!“) mit „falschen“ Bässen, harmonischen Funktionsverfremdungen, Stilparodien und stellt erhebliche Anforderungen an die Decodierung des Intendierten durch das Publikum68. Auch die Musik passt sich also nur scheinbar an die in der Formalismus-Debatte von den DDR-Kulturfunktionären geforderte Volkstümlichkeit an.

Dass der „Herrnburger Bericht“ nach wie vor von den Bühnen und Konzertpodien völlig verschwunden ist, liegt an mehreren Faktoren:

  • dem Genre. Eine szenische Kantate für Kinder und Jugendliche. In diesem Genre gibt es kaum ein Werk, das heute noch aufgeführt wird.
  • dem politischen Inhalt. Nach Mauerbau, DDR-Schießbefehl, Auflösung der DDR, Wiedervereinigung und Flüchtlingskrise wird ein Stück, das die Schließung der deutsch-deutschen Grenze für Rückkehrer aus der DDR durch westdeutsche Polizisten darstellt, als absurd empfunden.
  • dem Verhältnis zwischen Kunst und Staat. Der „Herrnburger Bericht“ gilt heute als Auftragswerk eines totalitären Staates. Das diskreditiert ihn von vornherein. Er kann allenfalls als Mahnmal für die böse affirmative Kunst dienen. Kunst hat sich zu den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen kritisch oder besser noch subversiv zu verhalten.
  • der Rezeptionsgeschichte. Der Vergleich mit nationalsozialistischer Panegyrik wirkt nach. Auch Brecht selbst hat durch die Bemerkungen über seine Unsicherheit in der Beurteilung seines eigenen Werkes in seinem Arbeitsjournal 69 und dadurch, dass er ihn nicht in seine Publikationsreihe der „Versuche“ aufgenommen hat, dazu beigetragen, ihn als fragwürdiges Nebenwerk abzuqualifizieren.

Was zeigt also der Fall des „Herrnburger Berichts?“ Nur das, was man schon vorher wusste: Die Freiheit der Kunst ist nötig. Und Freiheit ist eine Kunst, die die DDR nicht beherrschte. Historische Abstände sind manchmal unüberbrückbar. Politische Kunst ist aus inhaltlichen mehr als an stilistischen Gründen an ihren historischen Zeitpunkt gebunden. Politisches Kindertheater mit Laien ist ein undankbares Geschäft (über die unmittelbar Beteiligten hinaus).

Immer noch will ihn keiner haben. Wir wissen nun, warum.


  1. Gerhard Preußer, „Der Brecht, den niemand haben will. Zu dem Chorwerk Bertolt Brechts und Paul Dessaus ‚Herrnburger Bericht’“ Kämpfende Kunst. Zeitschrift der Vereinigung sozialistischer Kulturschaffender, 2. Jahrgang Nr. 7/8 August/September 1976, S. 6-11, nachgedruckt u.a. in KSP Mainz 1976 ↩︎
  2. Die Angaben über die Zahl der Aufführungen gehen etwas auseinander. Bei Hennenberg (Fritz Hennenberg, Dessau-Brecht. Musikalische Arbeiten. Berlin: Henschelverlag, 1963, S.128-131) findet sich eine genau Beschreibung der Inszenierung auf der Grundlage eines Berichtes aus dem Brecht Archiv (Ms. He 2). Die Kritik des SED-Zentralorgans „Neues Deutschland“ war wohlwollend-kritisch. Siehe den Nachdruck in Monika Wyss (Hg.), Brecht in der Kritik, München: Kindler, 1977, S.302-304. In der westdeutschen Presse wurde der „Herrnburger Bericht“ als Machwerk vergleichbar mit den Lobhudeleien des Nazidichters Anacker abgetan ( W.N., „Herrnburger Bericht“, Die Zeit 19.11.1953). Mit subtileren Ironiesignalen arbeitet Sabina Lietzmanns Rezension der Uraufführung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ( siehe Wyss (Hg.), a.a.O, S. 304-5). Auch in der Literaturwissenschaft blieb die Abwertung des Werkes bestehen. Martin Esslin, seinerzeit Redakteur beim BBC in London, meinte noch 1959 mit hochmütiger Ironie: „(Brecht) war ein viel zu guter Dichter, um auftragsgemäß Propagandaverse schreiben zu können.“ (Martin Esslin, Brecht. Das Paradox des politischen Dichters. München: dtv, 1966 (zuerst engl. Brecht. A Choice of Evils, 1959), S. 233). Klaus Völker war der erste, der den „Herrnburger Bericht“ rehabilitierte. Er stecke „voller Witz, satirischer Schärfe“ und habe „die Leichtigkeit von Kinderreimen“ (Klaus Völker, Bertolt Brecht. Eine Biographie. München: Hanser, 1976, S.377). Und Albrecht Dümling bemühte dann sich um ein ausgewogenes Urteil unter Berücksichtigung der Umstände. „Auf beiden Seiten galt ein Künstler, der die Höhe des Olymps verläßt, um sich in aktuelle Fragen einzumischen, als nicht geheuer.“ (Albrecht Dümling, Laßt euch nicht verführen. Brecht und die Musik. München: Kindler, 1985, S. 590). Aber selbst der offizielle Brecht-Biograph der DDR, Werner Mittenzwei, griff noch die ästhetische Abwertung des Werkes auf: „Über die politische Wirkung der von ihm gewählten Form täuschte sich Brecht.“ (Werner Mittenzwei, Das Leben des Bertolt Brecht. Oder der Umgang mit den Welträtseln. Bd. 2 Frankfurt/M: Suhrkamp, 1987 (zuerst: Berlin und Weimar 1986) S. 439). ↩︎
  3. So auch noch der Beitrag in der ersten Fassung von Jan Knopfs Brecht-Handbuch: „zu viel kämpferischer ‚Selbstausdruck‘ (…) zu viel spontane Selbstorganisation“ seien Gründe für das Verbot gewesen (Jan Knopf, Brecht-Handbuch. Bd. II Lyrik, Prosa, Schriften. Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1986, S. 182). Lars Fischer stellt in der Neuauflage des Brecht-Handbuches dann die verschiedenen Mutmaßungen westdeutscher Autoren über die ästhetischen Einwände der SED-Führung ausführlich dar und weist auch schon auf den Streit zwischen Brecht, Honecker und Ernst Busch hin. Lars Fischer, “Herrnburger Bericht, in: Jan Knopf (Hg.), Brecht-Handbuch, Bd 2 Gedichte. Berlin: Springer, 2001, S. 434-439 ↩︎
  4. Das Gedicht hat den Titel „Einladung“. Die inkriminierten Verse lauten: „Und wenn Ernst Busch singt -/Wärt ihr nur dabei!“, Werner Hecht, Die Mühen der Ebenen: Brecht und die DDR. Berlin: Aufbau, 2013. S. 46-61 ↩︎
  5. Werner Hecht deutet die wahrscheinliche Ursache der Animositäten an: Busch soll bei einer Auseinandersetzung über die Produktion einer Schallplatte gesagt haben „Der Zentralrat kann mich mal am Arsch lecken!“. Vorsitzender des Zentralrats der FDJ war Erich Honecker. Honecker habe Busch dann beim DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck denunziert, er habe mit seiner Äußerung das Zentralkomitee der SED gemeint. Hecht a.a.O., S. 320 ↩︎
  6. Er fehlte auch noch in der Werkausgabe des Suhrkamp-Verlages 1967, nur in dem Band mit späten Kindergedichten Brechts waren zwei Lieder aus dem „Herrnburger Bericht“ aufgenommen worden. Der vollständige Text wurde erst 1982 im Supplementband IV der Werkausgabe wieder veröffentlicht: Bertolt Brecht, Gesammelte Werke. Supplement-Band IV. Frankfurt/M: Suhrkamp 1982, S. 424-428.  In der Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe (BFA) wird dann 1993 der Text des „Herrnburger Berichtes“ nach der Fassung der FDJ-Broschüre ohne die Zeile über Ernst Busch abgedruckt. Die Anmerkungen erläutern die verschiedenen Textänderungen, die die FDJ durchsetzte, gehen aber nicht auf die von Hecht später enthüllte persönliche Feindschaft zwischen Honecker und Busch ein (Bertolt Brecht, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Gedichte 5. Gedichte und Gedichtfragmente 1940-1956. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1993, S.246-253 und 455-462) . Der Supplementband IV von 1982 bot auch die Gelegenheit, eines meiner weiteren Verbrechen anzuprangern: 1978 hatte Klaus Völker, Brecht-Biograph und später Rektor der Ernst-Busch-Schauspielschule, auf einer Veranstaltung in München einige unveröffentlichte DDR-kritische Gedichte verlesen, die er aber nicht veröffentlichen durfte. Ich hatte sie nach Gehör (mit falschen Zeilenumbrüchen und ohne Wissen Klaus Völkers) mitgeschrieben und eines davon („Die neue Mundart“) in der Zeitung, in der ich damals Redakteur war, veröffentlicht (Rote Fahne 1978, Nr.25). In Sinn und Form (1980 Heft 5, S. 1088) mokierte sich daraufhin Gerhard Seidel über den „verstümmelten Raubdruck“ und sah sich gezwungen, nun das Gedicht mit korrekten Zeilenfall zu veröffentlichen. So fanden die DDR-kritischen Gedichte Brechts dann auch Eingang in den Supplementband IV der Suhrkamp-Werkausgabe (a.a.O. S. 428) und in die BFA Bd. 12 (a.a.O. S.311). Die Anmerkungen in der BFA (a.a.O. S.449) erklären dazu, dass sich auf dem Manuskript ein Vermerk finde, dass Brecht diese zwei Gedichte nicht veröffentlichen wollte. Der Vermerk stammt nicht von Brecht, die Intention Brechts wurde nur von seiner Assistentin Elisabeth Hauptmann mündlich bestätigt. ↩︎
  7. Broschüre: Die Herrnburger in Essen: Erlebnisbuch zur westdeutschen Erstaufführung des ‚Herrnburger Bericht‘ von Bertolt Brecht und Paul Dessau. München:Kämpfende Jugend, 1983 ↩︎
  8. Tonaufnahme des ersten Chorliedes, wahrscheinlich der Essener Aufführung 1983 ↩︎
  9. Herrnburger Bericht, Urteil vom 3.11.1987, BVerfGE 77, 240 ↩︎
  10. “Zu berücksichtigen ist ferner, daß für den Verfassunggeber auf Grund der Erfahrungen aus der Zeit des NS-Regimes, das Kunst und Künstler in die völlige Abhängigkeit politisch-ideologischer Zielsetzungen versetzt oder zum Verstummen gebracht hatte, begründeter Anlaß bestand, die Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit des Sachbereichs Kunst besonders zu garantieren.“ Mephisto-Urteil, BVerfGE 30, 173 vom 24.2.1971 ↩︎
  11. Anachronistischer Zug, Urteil vom 17. Juli 1984, BVerfGE 67, 213 ↩︎
  12. “Zu diesem Wirkbereich zählen auch die Medien, die durch Vervielfältigung, Verbreitung und Veröffentlichung eine unentbehrliche Mittlerfunktion zwischen Künstler und Publikum ausüben. Die Werbung für ein Kunstwerk ist zwar kein Medium, welches das Kunstwerk selber oder seinen Inhalt transportiert. Sie bildet aber ein Kommunikationsmittel, das ebenfalls zum Wirkbereich künstlerischen Schaffens gehört; denn die Kunst ist wie die Schutzgüter der anderen ‚Kommunikationsgrundrechte’ öffentlichkeitsbezogen und daher auf öffentliche Wahrnehmung angewiesen. Aus diesem Grund fällt auch die Werbung für ein Kunstwerk unter den Schutz dieses Grundrechts.“ BVerfGE 77,240 a.a.O. ↩︎
  13. vgl. Verfassung der DDR, Art. 18 ↩︎
  14. Ermittlungsverfahren Meese ↩︎
  15. BVerfG 119,1 vom 13.062007. Die Auseinandersetzung um das öffentliche Präsentieren von Symbolen der in Westdeutschland nach wie vor verbotenen FDJ geht immer noch weiter. Vgl. einen Fall aus Berlin und einen aus München. ↩︎
  16. Anachronistischer Zug, Urteil vom 17. Juli 1984 ↩︎
  17. Florian Malzacher nennt den kroatischen Regisseur Oliver Frljić als Beispiel für einen „neo-scandalist approach“ F.M., „No organon to follow. Possibilities of political theatre today“ In: F.M. (Hg.), Not just a mirror. Looking for the political theatre of today. Berlin: Alexander Verlag, 2015, S.27 ↩︎
  18. “Der Artivismus braucht Rückhall, er braucht die Medien. Oft genug definieren sich Künstler, die ein politisches Anliegen verfolgen, über das mediale Echo; das Echo ist ihr Werk.“ Hanno Rautenberg, „In den Fallen der Freiheit“, Die Zeit, 18.7.2015 Vgl. auch das etwas mildere Urteil von Sophie Diesselhorst auf Nachtkritik: „Und was ist mit den Artivisten? Die gewitzten, sophisticated durchdesignten Kampagnen von Peng, ZPS & Co. mögen weniger konkrete Veränderung bringen als sie möchten – aber für die Theater sind sie trotzdem wichtig, allerdings in ganz anderer Hinsicht: nämlich als spielerische Analysen unserer Multimedia-Gesellschaft und damit als Ideengeber für das alte Medium, das sein Publikum verliert, wenn es sich im analogen Raum abschottet.“  —– Nachtrag: In der bildenden Kunst scheint es schon eine Selbstverständlichkeit zu sein, dass das Kunstwerk sekundär ist, die mediale Wirkung das primäre Ziel des Künstlers: „Längst ist das Kunstobjekt nicht mehr der Fluchtpunkt künstlerischen Handelns; es sind die Bilder, die es in die Welt bringt, und die Verknüpfungen, die es mit nahen und fernen Betrachtern eingeht.“ Kolja Reichert, „Kunst – was war das?“ in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung , 11.2. 2018 S.45.  Reichert spekuliert dann über die Kunst der Zukunft: „Das wäre dann Arbeit an der Lebensform. Das Werk wäre dann zunehmend Souvenir des gelebten Lebens oder einer bestimmten Haltung. Bei Ai Wei-wei ist das ja schon länger so, und auf der Documenta wurde das zum Programm.“ Reichert a.a.O. ↩︎
  19. siehe dessen Website ↩︎
  20. ZfpS gegen Krauss-Maffei ↩︎
  21. ZfpS gegen Höcke vgl. auch Franz Willes Kommentar „Innige Umarmung“ in: Theater heute Nr. 1 (Januar 2018), S.1 ↩︎
  22. Florian Malzacher nennt die US-amerikanische Gruppe „Yes Men“ als Beispiel für „manipulating mass media with the aim of disseminating a message as widely as possible … Their strategy is first to make it into the news headlines with a false but disarming announcement, and then they make the news again by uncovering the prank.“ a.a.O. S. 27. Das war auch die Strategie des ZfS im Falle des Dortmunder Leopardenbabys. ↩︎
  23. Philipp Ruch, Wenn nicht wir, wer dann? Ein politisches Manifest. München: Ludwig, 2015. Vgl. auch Dirk Pilz’ Rezension auf „Nachtkritik“ ↩︎
  24. Ruch a.a.O. S. 23 ↩︎
  25. “Schönheit ist … in einer Welt ohne Wunder zutiefst ethisch.“ Ruch a.a.O. S.189 ↩︎
  26. z.B. in dem Delphischen Spruch „καλλιστόν τὸ δικαιότατον“ („Schönstes ist das Gerechteste“) zitiert bei Aristoteles, Eth. Nicom. 1099a27 ↩︎
  27. Wie unangemessen es ist, die Aktionen des „Zentrums für politische Schönheit“ in ein Theater zu bringen, konnte man im Dortmunder Schauspiel sehen, als das „Zentrum“ dort seine Produktion „2099“ zeigte ↩︎
  28. “Gute Politik sollte künstlerisch sein.“ Ruch a.a.O. S. 22 ↩︎
  29. Ruch a.a.O. S. 127 u. 175 ↩︎
  30. Ruch a.a.O. S.126 ↩︎
  31. Ruch a.a.O. S. 202 ↩︎
  32. “Demokraten muss es um politische Kompromisse gehen. Aggressiven Humanisten geht es um Gerechtigkeit“ Ruch a.a.O. S. 201 ↩︎
  33. “Der gestalterische Impuls der ästhetischen Lebensweise ist die Ungebundenheit. Ethisch zu leben bedeutet hingegen, sich zu verpflichten. Die Fähigkeit, eine Entscheidung zu treffen und sie zu verantworten. Darin lag für Kierkegaard die Hoffnung, dem Leben Tiefe zu geben“ Ruch a.a.O. S. 139 ↩︎
  34. “Schönheit ist, wie Kierkegaard erkannte, in einer Welt ohne Wunder zutiefst ethisch.“ Ruch a.a.O. S. 189 ↩︎
  35. Larissa MacFarquhar, Strangers drowning. Grappling with impossible idealism, drastic choice, and the overpowering urge to help. New York: Penguin, 2015 ↩︎
  36. Ruch a.a.O. S. 170 ↩︎
  37. Ruch a.a.O. S. 196 ↩︎
  38. Ruch a.a.O. S.104 ↩︎
  39. Byung-Chul Han, Die Errettung des Schönen. Frankfurt/M: S. Fischer, 2. Aufl 2015. Wolfgang Ullrich hat in seiner Rede „Die Wiederkehr der Schönheit. Über einige unangenehme Begegnungen“ auf die Zusammenhänge zwischen Byung-Chul Han, Philipp Ruch und der rechten Bewegung der „Identitären“ hingewiesen. ↩︎
  40. Dabei wird das antike, aristokratische Ideal der καλοκἀγαθία, des Schönguten, und seine Ausdeutung in Aristoteles’ Eudemischer Ethik völlig aus dem historischen Zusammenhang gerissen. Wenn Han z.B. behauptet „Das Gute wird hier dem Schönen untergeordnet oder nachgeordnet.“ (Han a.a.O. S.74), so steht das im Widerspruch zu Aristoteles eigenen Aussagen in demselben Text: „πολλαχῶς τὸ ἀγαθόν, καὶ ἔστι τι αὐτοῦ καλόν“ (1218b4) „Man spricht von ‚Gut‘ in vielfachen Bedeutungen – ein Ausschnitt daraus ist das Schöne“ (Übers. Dirlmeyer) ↩︎
  41. Han a.a.O. S. 71 ↩︎
  42. Han a.a.O. S. 97) ↩︎
  43. “Die Politiker als freie Menschen müssen schöne Taten hervorbringen …“ Han a.a.O. S. 73 ↩︎
  44. Han a.a.O. S. 81 ↩︎
  45. Denn einerseits verschönern „die Herrschenden ihr Amt mit Kunst“, andererseits soll Kunst „Mittel zur Herstellung von Bewusstsein“ werden: SDS Gruppe ‚Kultur und Revolution‘, „Kunst als Ware der Bewusstseinsindustrie“, in Die Zeit 19. Nov. 1968. Oder die Debatte über den angeblichen „Tod der Literatur“ im Kursbuch 15 (1968) hg.v. Hans Magnus Enzensberger und insbesondere den Aufsatz „Phantasie im Spätkapitalismus“ von Peter Schneider in Kursbuch 16 (1969). Dazu F.C.Delius’ amüsante Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Protest!Literatur um 1968“ im Berliner Literaturhaus 1999. Die damalige Debatte über die Politisierung des Theaters und die entsprechenden Aktionen und Inszenierungen der späten 60er Jahre werden ausführlich dargestellt in Dorothea Kraus, Theater-Proteste. Zur Politisierung von Straße und Bühne in den 1960er Jahren. Frankfurt/M: Campus, 2007 ↩︎
  46. z.B. Wilhelm Schmidt im Anschluss an Foucault: „Die Ästhetik der Existenz (lässt sich) als Arbeit an der kunstvollen Gestaltung der Existenz bezeichnen, durch die das Leben selbst zum Kunstwerk wird.“ in: Wilhelm Schmid, Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst. Frankfurt/M: Suhrkamp, 2000, S. 174f ↩︎
  47. z.B. „Die vermisste Totalität des Sinns soll wenigstens in Form des Scheins präsent bleiben und deshalb wird den Künstlern Lebenshilfe aufgebürdet. Womit die Menschen auf der konkreten Handlungsebene nicht fertig werden, verliert im ästhetischen Medium alle Widerstände. Umgekehrt leiht es den ehedem unter üblem politischen Leumund leidenden Künstlern eine überraschende Würde, wenn sie auf eine Weise ernst genommen werden, die das Fiktive ausschließt.“ Rüdiger Bubner, „Ästhetisierung der Lebenswelt“, in: R.B., Ästhetische Erfahrung. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1989, S. 155 ↩︎
  48. “Der Faschismus versucht, die neu entstandenen proletarisierten Massen zu organisieren, ohne die Eigentumsverhältnisse auf deren Beseitigung sie hindrängen, anzutasten. Er sieht sein Heil darin, die Massen zum ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen. Die Massen haben ein Recht auf Veränderung der Eigentumsverhältnisse, der Faschismus sucht ihnen einen Ausdruck in deren Konservierung zu geben. Der Faschismus läuft folgerecht auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus. … So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet im mit der Politisierung der Kunst.“ Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1977 S. 42, 44 ↩︎
  49. Thomas Pogge, „Anerkannt und doch verletzt durch internationales Recht: Die Menschenrechte der Armen“, in: Barbara Fleisch, Peter Schaber (Hg.), Weltarmut und Ethik. Paderborn: mentis, 2. Aufl. 2009, S. 95-138 oder David Miller, „Are they my poor: the problem of altruism in a world of strangers“, In: D.M, Justice for Earthlings. Essays in political philosophy. Cambridge: Cambridge UP, 2013, pp. 183-205, vgl. auch David Miller, Strangers in our midst. The political philosophy of Immigration. Cambridge, Mass.:Harvard UP, 2016 ↩︎
  50. David Miller, „Democracy“, in: D.M., Political Philosophy. A very short introduction. Oxford: Oxford Up, 2003, pp.37-54 ↩︎
  51. Martha C. Nussbaum, „Der aristotelische Sozialdemokratismus“, in: M.N., Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1999 (zuerst engl. 1990) S.24-85 ↩︎
  52. Han a.a.O. S.74 ↩︎
  53. Inschrift über dem Portal der Alten Oper in Frankfurt am Main ↩︎
  54. Juliane Rebentisch, Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz. Berlin: Suhrkamp, 2012 ↩︎
  55. θεατροκρατία, Platon, Leges, 701a. Schleiermacher übersetzt „Herrschaft des Publikums“ ↩︎
  56. „Die Demokratie ist (…) von der differentiellen Repräsentationslogik des Theaters geprägt: Die demokratische Souveränität ist darin relativ, dass sie ihre Setzungen als solche markiert oder ausstellt und damit an die Anerkennung durch ein nicht homogenes Publikum aussetzt.“ Rebentisch a.a.O. S.368 ↩︎
  57. “Eine Demokratie, die sich gegen die ästhetisierende Transformation ihres ethisch-politischen Selbstverständnisses immunisiert hätte, wäre keine mehr.“ S. 374. Dies gilt bei der Abwehr der Gefahr des Abgleitens der Demokratie in Totalitarismus. Weniger überzeugend ist Rebentischs Argumentation zur Abwehr postdemokratischer Tendenzen. Vgl. S.369-374 ↩︎
  58. Exkurs: Erstaunlich ist, wie viele Übereinstimmungen der Bestimmung des Verhältnisses von Theater und Politik es gibt zwischen Alain Badiou, dem bekennenden Platoniker und Verächter der parlamentarischen Demokratie, und Juliane Rebentisch, der Anti-Platonikerin und Apologetin der ästhetisierten Demokratie. Auch Badiou geht von einer „Isomorphie Theater/Politik“ aus. Badiou grenzt Politik ab von der “monotonen Verwaltung eines Staates“ – Rebentisch würde das Postdemokratie nennen. Für ihn entsteht Politik aus der Verknüpfung dreier Elemente: „plötzlich in unerwarteter Konsistenz zusammenkommende Massen (Ereignisse); von organischen und bennenbaren Akteuren verkörperte Standpunkte (Wirkung des Subjekts); eine gedankliche Referenz, die einen Diskurs erlaubt.“ (S.29) Diese drei Elemente kennzeichnen für Badiou auch das Theater und begründen daher die strukturelle Übereinstimmung von Theater und Politik. Wie Rebentisch sieht Badiou, dass der Anspruch des Staates, den Gemeinsinn zu verkörpern, immer kontingent, behauptet und revidierbar ist. „Der Staat ist vom Symbolischen geprägt, weil offenbar wird, dass seine Universalität rein kontingent ist.“ (S. 32) Badious Vorstellungen von der Veränderbarkeit des Staates gehen allerdings weit über die periodischen Wahlkampfaktionen der parlamentarischen Demokratien, an die Rebentisch denkt, hinaus. Alain Badiou, Rhapsodie für das Theater. Kurze philosophische Abhandlung. Wien: Passagen, 2014 ↩︎
  59. Walter Benjamin, „Was ist das epische Theater (1) Eine Studie zu Brecht“ (1931), in: W.B., Versuche über Brecht. Hg. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M: 1978. S. 17-29 ↩︎
  60. Rebentisch, S. 348f ↩︎
  61. Benjamin zit. bei Rebentisch S.349 ↩︎
  62. Rebentisch a.a.O. S.354 ↩︎
  63. a.a.O. S.367 ↩︎
  64. Erstaunlich bei solchen theaterhistorischen Rückbezügen, die der Legitimation von gegenwärtigen Experimenten in der Theaterszene dienen, ist, dass die konkreten politischen Zusammenhänge, in denen diese Ahnherren des politische Theaters ihre Arbeiten entwickelten, unerwähnt bleiben. Wie so oft, gibt es hier einen Antikapitalismus, der seine Herkunft aus dem Marxismus schamhaft verschweigt. Piscators Revue „Trotz alledem!“, auf die Carol Martin sich bezieht, wurde nur zur Eröffnung des Parteitages der KPD 1925 aufgeführt. (vgl. die detaillierte Beschreibung in Jürgen Rühle, Theater und Revolution. München: dtv, 1963, S.136f und zwei gegensätzliche Kritiken aus der „Roten Fahne“ und dem „Berliner Tageblatt“ in: Günther Rühle, Theater für die Republik 1917-1933. Im Spiegel der Kritik. Frankfurt/M: S.Fischer, 1967, S.645-650) ↩︎
  65. „theatre about real events; narratives that are in accord with reality that articulate fidelity to an ideal in ways that invite consideration of what was heretofore thought of as usual but are, in fact, strange.“ Carol Martin, „History and politics on stage. The theatre of the real“, in: Malzacher (ed.) a.a.O., p.43. Meine Übersetzung versucht den Sinn dieses etwas verwirrenden Satzes, wie ich ihn verstehe, etwas deutlicher zu machen. ↩︎
  66. Bertolt Brecht, Gesammelte Werke. Supplementband IV. Gedichte aus dem Nachlass 2. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1982, S. 421 ↩︎
  67. Benjamin, „Brechts Dreigroschenroman“, in: W.B., a.a.O. S.60 ↩︎
  68. vgl. die musikalischen Analysen in: Hennenberg a.a.O., S. 234-236, 249 ↩︎
  69. “interessant, wie man sich ein kunstwerk anhört, das irgendwie verurteilt worden ist. (…) überhaupt wirkt nichts mehr auf den, der die wirkung abschätzt“ 17.8.51. Bertolt Brecht, Arbeitsjournal Zweiter Band 1942 bis 1955. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1974, S.579 Eine offensivere Selbsteinschätzung findet sich in einer Notiz Brechts, die erst in den Anmerkungen der BFA 1993 veröffentlicht wurde: „Das ist eine Gelegenheitsarbeit über ein Thema in verschiedenen Variationen. Kunstmäßig, mit einem kleinen Zaun herum. Das ist nicht nachgefühlt oder abgelauscht, sondern bewusst künstlerisch abgesetzt. – Das hatten früher alle großen Stücke. Wallenstein und Wilhelm Tell waren zwar abgelauscht, aber doch mit Distanz gestaltet. Heute wird das Publikum aber ganz böse, wenn man davon spricht.“ (BFA Bd.15, S.456) ↩︎